Mit der Moral am Ende
Was hat die “neue Sexualmoral” gebracht?
Quelle
Beichte – Gängelung des Gewissens oder Ort der Versöhnung?
Bernhard Meuser
Bernhard Meuser | Herder Korrespondenz
Freie Liebe
Theologie des Leibes
Die Abschaffung des Menschen
Die Unterminierung der katholischen Kirche
13.08.2023
Wenn eine Institution wegen unmoralischer sexueller Handlungen und ihrer systemischen Tolerierung am Pranger steht, erwartet man mit Recht umfassende Prozesse der Reinigung und Prävention, nicht aber die Erfindung einer “neuen Sexualmoral“, die sich durch kreative Erweiterungen der Toleranzbereiche auszeichnet. Die Massenflucht aus der Katholischen Kirche – im Jahr 2022 haben 522 821 Katholiken ihre Kirche verlassen – ist auch Ausdruck kirchlichen Leitungsversagens.
Nicht nur liberal orientierte Katholiken, denen man ohne jede Abstimmung mit der Universalkirche Erleichterung des ethischen Marschgepäcks versprochen hatte, verabschieden sich frustriert; es gehen nun auch Christen, die sich entsetzt von wankelmütigen Bischöfen und einem Apparat abwenden, der sich von den unabweisbaren Forderungen des Evangeliums dispensiert. So müssen sich die Bischöfe nicht wundern, wenn sich der Verdacht erhebt, die “neue Sexualmoral” sei kein Element der Erneuerung, sondern integraler Bestandteil einer Kultur der Beschönigung und die Fortsetzung der Vertuschung mit anderen Mitteln.
Aufstand gegen die “naturrechtspositivistische Geschlechteranthropologie”
Wollte man die “neue Sexualmoral” des Synodalen Weges im Kern beschreiben, müsste man von einem Aufstand gegen die “naturrechtspositivistische Geschlechteranthropologie” (Handlungstext zum “Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt”) sprechen. Von der Heiligen Schrift an ging man über die gesamte christliche Lehrtradition davon aus, dass im Wort Gottes geboten sei, was der Natur des Menschen entspricht. In aller Regel finden sich Männer und Frauen in verbindlicher Liebe zur Ehe zusammen, sie zeugen Kinder und sorgen dafür, dass die Menschheit nicht ausstirbt. Was da als “neue Sexualmoral” auf den Plan tritt, kreist manisch bohrend um das Thema Homosexualität, um von dort auszugreifen auf die Vielfalt “nichtbinärer” Lebensentwürfe, ihre sexuellen Selbstverwirklichungen und Lustrechte. In Zukunft sollen solche Lebensformen von der Kirche mit Wertschätzung – also nicht mehr unter dem Aspekt des Mangels, der Störung oder der Sünde – betrachtet, schließlich “gesegnet” werden.
Mit pauschalem Pathos (Reinhard Marx: “Homosexualität ist keine Sünde”) und unter raunender Bezugnahme auf scheinbar unabweisbare “Ergebnisse der Humanwissenschaften”, wird die Kirche gedrängt, mit ihren “intoleranten” und “lebensfeindlichen” Positionen zu brechen. So erst werde sie, so der synodale Vordenker Magnus Striet, Anschluss an die “moderne(n) Freiheitsprinzipien” finden, innerhalb derer jeder Mensch “im Rahmen dessen, was rechtlich möglich ist” sich ausleben darf, “wie er das möchte.”
Philosophische und theologische Opfer
Diesem Paradigmenwechsel wird philosophisch wie theologisch geopfert. Philosophisch muss fallen, dass es eine Teleologie – die Unterscheidung, was ein Mensch ist und was er sein sollte – und so etwas wie eine (Mensch und Gesellschaft) orientierende “Natur” gibt. Sichtlich von Judith Butler inspiriert, spielt die Fülle unveränderlicher Daten, die einen Menschen ausmachen – nämlich sein biologisches, genetisches, anatomisches, physiologisches und chromosomales Setting, das ihn dazu bestimmt, entweder ein Mann oder eine Frau mit einer jeweils gegengeschlechtlichen Ausrichtung zu sein – keine besondere Rolle mehr. Die Identität des Menschen wird auf die Außenhaut des ganzheitlich Menschlichen verlagert: in den subjektiven Geist, das subjektive Gefühl, das subjektive Begehren. Du bist, was du fühlst. Bist du ein Mann im Körper einer Frau, bist du eine Frau.
Väter und Mütter, Lehrer und Erzieher müssen zusehen, wie ihre Kinder in einem Milieu aufwachsen, in dem jungen Mädchen in der sensibelsten Phase ihrer Entwicklung immer neue Dosen einer Verheißung eingeträufelt werden, die ihnen suggeriert: “Fühl doch mal in dir nach, vielleicht bist du gar kein Mädchen! Vielleicht bist du ja ein Junge – oder noch ganz etwas Anderes!” Eine Lehrerin in der Oberstufe eines kirchlichen Gymnasiums erzählt, dass von 22 Jugendlichen sieben nicht mehr mit einem weiblichen oder männlichen Personalpronomen angesprochen werden möchten.
Theologisch muss fallen, dass wir uns innerhalb einer lesbaren Schöpfungsordnung mit gesetzten Koordinaten – in einem die menschliche Identität bestimmenden Masterplan Gottes – bewegen. Auf dass subjektive sexuelle Identifikationskrisen sowie gleichgeschlechtliche und diverse Lieben nicht länger als Fehlhaltungen oder Bruch, vielmehr als gute Gaben der schöpferischen Liebe Gottes begriffen werden können, muss auch der Sündenfall entsorgt werden, mit ihm die Gebrochenheit menschlicher Existenz, mit ihm die Möglichkeit von Irrtum, Krankheit, Sünde. Gottes Segen hat, wie ich mich sexuell vorfinde (oder autonom entscheide). In abenteuerlichen Eisegesen (etwa zu Römer 1, 18-32) gelangt eine optativisch operierende Theologie zu dem Ergebnis, der gute Gott könne seine geliebten Kinder doch nicht durch unrealistische Erwartungen an ihr Sexualverhalten diskriminieren.
Geltende Lehre der Kirche ist nach wie vor, dass die Ehe zwischen Mann und Frau der einzig authentische Ort sexueller Praxis ist und dass jede Fragmentierung der Liebe, etwa die desintegrative Verlagerung von Teilaspekten in “Nebenorte”, dem Menschen schadet (vergleiche Bernhard Meuser, “Freie Liebe”, Basel 2020).
Gewaltige tektonische Verwerfungen
Immer wieder wurde behauptet, die auf Ehe und Ehesakrament fokussierte kirchliche Lehre sei eng, habe sich von der Weitherzigkeit der Schrift entfernt, sei überhaupt nicht (oder nicht ohne Heuchelei) zu leben. Kronzeugen wie Nietzsche (“Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken”), Freud (“Die psychologische Kränkung, … dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus”), Sartre/Beauvoir (Sartre: “Der Mensch wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird”; de Beauvoir: “Wir glaubten nie an eine menschliche Natur”) und andere trugen zuletzt dazu bei, die christliche Sexualmoral als Angriff auf den lebendigen, lustbegabten Menschen zu begreifen und in ihr ein Herrschaftsinstrument der Kirche zu sehen. So auch Michel Foucault: „Sexualität … wurde angeheizt, um einem ganzen Netz von Machtstrukturen als Rechtfertigung zu dienen.”
Fazit: Sich dieser intrikaten Fremdbestimmung zu unterwerfen, steht in diametralem Widerspruch zum Gesamtprojekt der Aufklärung: der Emanzipation aus der “selbstverschuldeten Unmündigkeit”, dem “Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.” Es sind gewaltige tektonische Verwerfungen, die sich im Synodalen Weg brachial – und am falschen Objekt – entluden.
Welche Windungen im Diskurs haben dazu geführt, dass man am Ende eines langen Beratungsweges die Kirche als den eigentlichen Sünder hinstellte und ihre traditionellen sexualethischen Forderungen als das Böse identifizierte – nicht etwa der Einzelne, der die Todsünde auf sich zog, Kinder zu missbrauchen und Ministranten zu Sexobjekten zu machen?
Zwischen Moral und Hypermoral
Die Texte auf dem Synodalen Weg entwerfen eine Moral, die im Wesentlichen drei Funktionen dient: a) der Delegitimation geltender kirchlicher Normen zugunsten vager Werthaltungen, b) der Modernekompatibilität, also dem Anschluss kirchlicher Lehre an ein gewandeltes allgemeines Sexualverhalten; c) der “Entschuldigung”, respektive der postfaktischen Rechtfertigung und zukünftigen Ermächtigung von abweichendem Sexualverhalten im Raum der Kirche.
Man fragt sich, ob diese Funktionen nicht eher Kennzeichen von “Hypermoralismus” sind, einer sich moralisch gebärdenden Leitideologie jenseits der Orientierung an gegebenen Normen. “Der Hypermoralist”; sagt der Philosoph Alexander Grau, “ist … immer in einer rhetorisch ganz starken Position, er kann … sein Gegenüber sofort als inhuman, empathielos oder sonstwas disqualifizieren.” Echte Moralen, die es in allen Kulturen gibt, haben eine soziale Schutzfunktion hinsichtlich eines bedrohten Gutes. Moral ist Flankenschutz für die Liebe und das Leben. Moral schützt die Opfer, denen ein Gut entzogen wird und sanktioniert die Täter; sie rechtfertigt nicht die Täter, die sich ein Gut aneignen, das ihnen nicht zusteht. Der Verdacht liegt nahe, die “neue Sexualmoral” sei gar keine Moral, vielmehr ein Lehrstück über den unmoralischen Gebrauch von Moral.
Auf dem Synodalen Weg sollte der Skandal kirchlichen Missbrauchs aufgeklärt und Prävention organisiert werden, – erschwerend in der spezifisch “katholischen” Variante des Missbrauchs an halbwüchsigen Jungen. Statt das Thema offensiv anzugehen, um damit Stammtischparolen (“Priester sind alle schwul und vergreifen sich an kleinen Jungs”) vom Tisch zu wischen und integre Priester mit gleichgeschlechtlicher Neigung vor homophoben Angriffen zu schützen, hinterging der Synodale Weg in einer tollkühnen Volte die realen Opfer und das peinliche Thema, um plötzlich den homosexuellen Menschen als das eigentliche Opfer der Kirche zu präsentieren. Solche strategischen Manöver nähren Mutmaßungen, die Kirche wolle den Missbrauch gar nicht aufklären. Sie wolle nur schön dastehen, in Wahrheit aber stecke sie mit den Missbrauchern unter einer Decke; sie verallgemeinere die Schuld, beschütze die Täter und lasse die Opfer kalt abblitzen. Wie man an dem Fall Bode sieht, gibt jede neue Untersuchung dieser Analyse recht. Wem nützt eine “neue Sexualmoral”, in der die Bestialität konkreter Vergewaltigungen aufgelöst wird in den Wolken einer systemischen Kollektivschuld der Kirche?
Alle Texte zur “neuen Sexualmoral” sind getragen von einem aufklärerischen, sexualoptimistischen Grundzug. Durch die Bank fehlt es ihnen an einer fundamentalen Unterscheidung, nämlich der zwischen der (Mann und Frau in wohlwollender Liebe zusammenführenden) guten Gabe des Begehrens (Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung) und der “bösen” Begierde, wie wir sie nicht nur aus Deuteronomium 5, 21 kennen, jener Konkupiszenz, die die falschen Menschen zu falschen Zeiten und falschen Gelegenheiten in die falschen Betten führt. Es ist dieser Stoff, aus dem alle Dramen auf dem Theater und im Leben gebaut sind.
Die “neue Sexualmoral” fußt durchgängig auf dem naturalistischen Fehlschluss, faktisches Begehren konstituiere Identität und begründe moralisches Recht. Erzählt wird von dem Bischöfe, dem bei den synodalen Beratungen ein Licht aufgegangen sei: “Meine Sexualität, das bin ich!” Dabei hat er gewiss nicht an Pädophile gedacht. Dagegen ist festzuhalten: Nicht einige, – “alle Sünden entstehen aus einem sündhaften Begehren”, wie Papst Franziskus sagt, der noch dazu betont: “Nichts ist flüchtiger, unsicherer und unberechenbarer als das Begehren.”
Lernen von Oscar Wilde!
Es scheint, dass es Oscar Wilde vorbehalten blieb, das Menschheitsproblem der Konkupiszenz in drei genialen Bonmots einer “modernen” Lösung zuzuführen. Prinzip Illumination: “Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht.” Prinzip Resignation: “Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben.” Prinzip Transformation: “Es gibt schreckliche Versuchungen, und es erfordert Kraft und Mut, ihnen nachzugeben.”
Die sogenannte sexuelle Revolution und alle ihre Folgeerscheinungen – als gravierend wären zu benennen: die Auflösung stabiler Beziehungswelten, die epidemische Ausbreitung dysfunktionaler Sexualität, die Akzeptanz von Pornografie, der Verfall geschlechtlicher Identität, die Frühsexualisierung von Kindern, der Trend zu Pansexualität und Permissivität – all diese offensiv betriebenen Phänomene sind im Grunde nur Folgeerscheinungen einer Kapitulation vor den Demütigungen der Konkupiszenz. Gehorsam folgen die Anhänger der “neuen Sexualmoral” dem Masterplan des Oscar Wilde: von Nietzsche, Freud, Sartre, Butler illuminiert, kennen sie die Sünde nicht mehr.
Statt sich mit der menschlichen Vulnerabilität und den individuellen wie sozialen Beschädigungen der Beziehungswelten kritisch auseinanderzusetzen, resignieren sie davor, erklären das Krumme für gerade, und die das Gegenteil behaupten für böse. Sie transformieren ihre Kapitulation vor der sittlichen Anstrengung und verbuchen sie als rettende Tat. Im Ergebnis ist die “neue Sexualmoral” eine Variante zum berühmten Filmtitel des Rosa von Praunheim “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt”. Was sich da synodal der Eingemeindung andient, trägt ein Pappschild vor der Brust: “Nicht der Sünder ist pervers, sondern die Sexualmoral, in der er lebt.”
Man müsste diese lokale innerkirchliche Attacke auf die klassische Ethik, die christliche Anthropologie, die Heilige Schrift und die gesamte Lehrtradition der Kirche, wie sie sich normvergessend an die verluderte bürgerliche Normalität heranschmeißt, nicht wirklich ernstnehmen, würde der Streit um die “neue Sexualmoral” den Menschen nicht sagen: “Die wissen selbst nicht, wo es langgeht!” Und würde sie nicht mediale Erwartungen an eine Kirche bedienen, die es aufgegeben hat, Stachel im Fleisch der Gesellschaft zu sein. Und wüsste man sie nicht eingebettet in eine verheerende ideologische Unterströmung, die der prophetische C. S. Lewis chon 1943 erkannte und mit einem apokalyptischen Buchtitel bedachte: Die Abschaffung des Menschen.
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