“Bedürftigkeit entscheidet, nicht Glaube”

1 400 Tote, 8 000 Verletzte, über 200 000 Flüchtlinge: Die Not in Gaza ist riesig

Tröstende Worte, von einem Zimmer zum nächsten: Jerusalems lateinischer Patriarch Twal im Sankt-Josefs-Krankenhaus Foto: MaksanH.B.Patriarch Fouad TwalDie katholische Kirche im Heiligen Land tut derweil ihr möglichstes, den Menschen dort zu helfen. Von Oliver Maksan

Aus leeren Augen blickt der 14-jährige Ahmad, während Jerusalems lateinischer Patriarch Twal ihm die Hand reicht. Eine israelische Bombe hat dem Jungen den Fuss zerfetzt. Weisse Verbände sind dick um den Stumpf des Beines gewickelt. Neben ihm liegt ein Mann Anfang fünfzig. Immer wieder blickt er gen Himmel und legt die verbliebene Hand aufs Herz, als wolle er seine Gottergebenheit wie seine Verzweiflung gleichermassen bekunden. Als das Laken verrutscht, wird klar: Er hat einen Arm und ein Bein verloren. Der Patriarch erkundigt sich nach dem Herkunftsort der Kranken, fragt nach ihren Geschichten. Sie gleichen sich. Er versucht tröstende Worte zu finden. Die Opferstatistiken aus Gaza mit ihren über 1 400 Toten und mehr als 8 000 Verletzten erhalten hier plötzlich ein Gesicht. “Ich fühle Zorn und Traurigkeit gleichermassen”, sagt Twal, als er am Mittwoch durch die Gänge des Jerusalemer Sankt-Josefs-Krankenhauses von einem Krankenzimmer zum nächsten läuft.

Überall dasselbe Bild versehrter Bombenopfer, manche von ihnen mit schweren Verbrennungen und ohne Bewusstsein. 25 Schwerverletzte aus Gaza werden hier, im einzigen katholischen, von einem französischen Schwesternorden getragenen Krankenhaus Ost-Jerusalems, gegenwärtig behandelt. Nur ein Christ ist unter ihnen, der Rest sind Muslime. “Wir machen keine Unterschiede wegen der Religion. Das sind alles unsere Leute. Ihnen zu helfen ist jetzt unsere Mission”, sagt Twal und ist schon auf dem Weg in ein islamisches Krankenhaus Ost-Jerusalems, wo er ebenfalls Kranke aus Gaza aufsucht.

Die katholische Kirche des Heiligen Landes hat derzeit alle Hände voll zu tun, den Kriegsopfern in und aus Gaza zu helfen. Sie kann dabei auf ihre in Jahrzehnten eingespielten Hilfsstrukturen zurückgreifen. “Caritas Jerusalem”, die “Pontifical Mission for Palestine” und der amerikanische “Catholic Relief Service CRS” arbeiten eng zusammen, sagt Matthew McGarry. Der Amerikaner leitet den “Catholic Relief Service” in Jerusalem, eine Einrichtung der amerikanischen Bischöfe für die Hilfe im Ausland. “Wir katholischen Organisationen koordinieren uns ständig, um einander nicht im Weg zu stehen und den Menschen optimal helfen zu können”, so McGarry. Neben den katholischen gibt es auch noch protestantische und orthodoxe Hilfeleistungen. Die anglikanische Kirche unterhält zudem ein Krankenhaus in Gaza selbst.

“Zu tun gibt es für uns alle genug”, sagt McGarry. “In den letzten Tagen näherte sich die Situation immer mehr einer Katastrophe an. Es gibt in weiten Teilen weder eine funktionierende Wasser- noch Stromversorgung.” Etwa 500 Familien, ungefähr 3 000 Menschen, hilft der “CRS” derzeit. Die unmittelbare Nothilfe steht im Vordergrund. Hygieneartikel wie Zahnbürsten, Seife und Papiertaschentücher, aber auch Windeln für die Kinder werden an die Bedürftigen verteilt. “Wir geben auch Küchengeschirr und Gaskocher aus. Viele Leute haben durch die Bombardements entweder alles verloren oder mussten aus umkämpften Gebieten flüchten und konnten nichts mitnehmen”, so McGarry.

“Wir können nicht so helfen, wie wir wollen, es gibt keine sicheren Zonen in Gaza”

Über 200 000 Binnenflüchtlinge zählen die Vereinten Nationen derzeit in dem Gebiet mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern. “Wichtig sind auch Eimer, damit sich die Familien bei den Wassertanklastwagen mit Frischwasser versorgen können.” Vor Ort ist “CRS” mit 15 lokalen Kräften vertreten. Eine junge Amerikanerin, die als Koordinatorin im Gebiet tätig war, wurde zu Beginn des Krieges abgezogen. Zu gefährlich wäre der Verbleib gewesen. “Das Problem ist, dass wir aufgrund der Lage nicht wirklich Hilfe leisten können, wie wir wollen. Es gibt keine sicheren Zonen in Gaza. Wir sind sehr eingeschränkt.” Nach Konfession unterscheidet die Hilfsorganisation nicht. “Die Bedürftigkeit entscheidet, nicht die Glaubenszugehörigkeit”, sagt McGarry. “Christen sind betroffen wie Muslime. Wir helfen allen.”

Das ist die Politik aller katholischen Hilfsorganisationen. Auch Pater Raed, der Direktor der Caritas in Jerusalem, sieht das so. Seine Organisation unterstützt die etwa 1 100 Flüchtlinge, die in der zum Lateinischen Patriarchat gehörenden Schule der Heiligen Familie Zuflucht gefunden haben. Sie sind alle Muslime. “Derzeit unterstützen wir insgesamt etwa 3 000 Familien mit Nahrungsmitteln. Das stellt uns vor grosse Herausforderungen. Zum Glück ist die Rückmeldung auf unseren Appell, den wir über Caritas Internationalis gemacht haben, gut angekommen.” Neben Nahrungsmittel hilft die Caritas auch medizinisch. Eine Ambulanz unterhält sie in Gaza sowie eine mobile Klinik. “Leider können wir uns aufgrund der Lage nicht bewegen und zu den Menschen. Aber wir unterstützen auch das anglikanische Al-Ahli-Krankenhaus und andere Einrichtungen.” 100 Essenspakete gingen derweil an Pfarrer Jorge Hernandez von der katholischen Kirche in Gaza, damit er sie an Menschen austeilen kann, die an seine Tür klopfen. “Unsere Pfarrei zur Heiligen Familie”, so Pater Raed, “liegt im Zeitun-Viertel von Gaza-Stadt, wo es seit einigen Tagen zu heftigen Bombardierungen kommt. Die Bevölkerung des Viertels hat von der israelischen Armee Evakuierungswarnungen erhalten, aber unser Pfarrer wollte die Pfarrei nicht evakuieren. Er lebt dort noch mit drei Schwestern aus dem Orden Mutter Teresas, die 29 behinderte Kinder betreuen. Ausserdem haben sie auch neun alte Menschen aufgenommen. Wo sollten sie hin? Deshalb haben sie es vorgezogen zu bleiben.”

Ohne Risiko ist diese Entscheidung nicht. Mitte der Woche wurde das Schwesternhaus der katholischen Pfarrei von Gaza indirekt durch ein Bombardement beschädigt. Scheiben zersprangen und die Aussenwand der Kapelle wurde beschädigt. Zu Schaden kam bislang indes niemand. Argentiniens Staatspräsidentin Cristina Kirchner hat Israels Regierung derweil in einer offiziellen Note unmissverständlich gewarnt: Argentinien sehe Israel für die physische Integrität des aus Argentinien stammenden Pfarrgeistlichen Jorge Hernandez sowie der Menschen, für die er derzeit sorgt, in der Verantwortung. Schwere Konsequenzen für die bilateralen Beziehungen wären die Folge, so die Staatschefin in einer Mitteilung, verschlechterte sich die Lage der Genannten. Argentiniens Regierung habe zudem Israels Botschafter einbestellt, um darauf hinzuweisen, dass Israel auch Sorge tragen müsse für die humanitäre Situation der Pfarrei. Die Versorgung mit Strom, Wasser und Essen müsse gewährleistet sein, heisst es in der Stellungnahme von Mittwoch weiter. Hernandez gehört dem argentinischen “Institut des inkarnierten Wortes” an. Drei Schwestern seines Ordens verliessen das Gebiet kürzlich im Rahmen einer humanitären Waffenruhe. Ein weiterer, aus Brasilien stammender Geistlicher der Gemeinschaft, der in der Pfarrei Dienst tut, hielt sich schon vor Beginn der Kampfhandlungen in den USA auf und wartet seither darauf, wieder nach Gaza einreisen zu können.

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