Jesu Leben risikoreich nachahmen
Fachtagung “Zölibat und Beziehung”
Das Wiener Institut für “Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie” (RPP) nahm im Stift Heiligenkreuz den Zölibat – “Jesu Lifestyle” – unter die Lupe.
Heiligenkreuz, Die Tagespost, 17.10,2011, von Stephan Baier
Was für ein Ort, um über den Zölibat nachzudenken: Seit 878 Jahren leben und beten in Heiligenkreuz im Wienerwald Zisterzienser. An ihrer mehr als 200 Jahre alten Hochschule studieren heute mehr als 200 angehende Theologen, von denen sich drei Viertel auf ein zölibatäres Leben vorbereiten. Vor einem von Psychiatern, Psychotherapeuten, Theologen und Pädagogen überfüllten Kaisersaal bedauerte der neue Abt von Heiligenkreuz, Maximilian Heim, am Samstag “ein gewisses Defizit” in den aktuellen Zölibatsdiskussionen und empfahl eine Erneuerung aus den Quellen. Nicht ohne die Wesentlichste zu nennen: “Christus selbst hat ein zölibatäres Leben geführt, in Pro-Existenz für die Menschen und das Himmelreich.” So weise auch der zölibatäre Priester “mit Leib und Seele auf Gott hin”.
Der Fachtagung “Zölibat und Beziehung” des Wiener Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie (RPP) gelang eine interessante Mischung aus theologischen, spirituellen, philosophischen und psychologischen Herangehensweisen. Ein wohltuender Kontrast zu vielen verflachten binnenkirchlichen Zölibatsdebatten. Da referierte etwa die Wiener Psychotherapeutin Rotraud Perner, die sich auf das evangelische Pfarramt vorbereitet, über die Frage: “Wieviel Sex braucht der Mensch?” Scharf geisselte Perner die Sex-Werbung unserer Tage, die weniger mit Geschlechtlichkeit als mit Gewalt zu tun habe. “Früher am Bauernhof haben sich die Menschen an den Tieren orientiert, heute an pornografischen Darstellungen. Das Niveau ist das Gleiche”, so Perner. In der Pornografie gehe es nicht um Liebe, sondern um einen Geist der Dominanz, des Verfügens, des Missbrauchs. Es herrsche heute ein “Zwang zur absoluten Enthemmung”. Die Frage sei: “Wie ziehe ich die Sexualenergie aus dem unteren Bereich des Körpers in das Herz hinauf?” Jeder Mensch könne sich entscheiden, seine Kraft über die Körperlichkeit hinaus Gott anzuvertrauen.
Gemeinsamkeiten von Zölibat und Ehe stellte der Pressesprecher der Erzdiözese Wien, der Journalist und Jurist Michael Prüller, selbst Vater von acht Kindern, heraus. In beiden Fällen handle es sich um einem Bund mit lebenslanger Dimension und Verbindlichkeit, um ein Nein zur These, “dass noch etwas Besseres nachkommt”, um ein “anti-bürgerliches Programm”, um “Abenteuerreise, nicht Wohnzimme”“. Beide Lebensformen brauchen laut Prüller eine Einordnung der Sexualität in einen höheren Zusammenhang, denn auch in der Ehe sei ein konstruktiver Umgang mit der Enthaltsamkeit nötig. “In einer guten Ehe gibt es immer weniger Sex als einer von beiden möchte”, so Prüller.
Ehe wie Zölibat mache “nur im Kontext der Liebe Sinn”. Wer kein guter Zölibatärer ist, wäre im Zweifelsfall auch kein guter Ehemann. Zölibat sei ebenso wie die Ehe ein Zeugnis für Glaube, Hoffnung und Liebe, wobei die Liebe “ein andauernder schöpferischer Prozess und Seelenarbeit” sei. Der ehemalige Wirtschaftsjournalist meinte wörtlich: “Zölibat und Ehe sind Risiko-Investments”, denn sie beruhten auf hohen Grundannahmen, welche durch die Erfahrungen in der Welt rundum nur wenig gedeckt seien. Wie alle Risiko-Investments böten sie aber auch hohe Gewinnchancen. In beiden Fällen gehe es um Freiheit durch Bindung, weshalb Zölibat und Ehe nicht zueinander, sondern zum unverbindlichen Single-Dasein im Widerspruch stünden. Wie der Zölibat stehe auch die christliche Ehe heute durch ihre Absage an das Ausbrechen gegen das moderne Lebensgefühl. In der Ehe wie im zölibatären Leben sei es letztlich Gott selbst, “der die Einsamkeit aufheben kann”, sagte Prüller, der noch auf eine weitere Dimension verwies: “Zölibatsfähige Priester kommen aus festen Ehen.”
Der Zölibat sei “auf eine gesunde Weise nicht normal”, leitete der Dogmatiker und Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Heiligenkreuz, Pater Karl Wallner, seinen Vortrag ein. Bei aller Wertschätzung für die verheirateten Priester der unierten, orthodoxen und orientalischen Kirchen – zwei von ihnen waren bei der Tagung anwesend – könne er sich eine katholische Kirche ohne Zölibat nicht vorstellen. Dessen tiefster Grund sei nämlich in der Grundlosigkeit Gottes zu finden: Der Gott der Selbstoffenbarung tritt selbst-initiativ an den Menschen heran und wirft ihn aus der Bahn, so der Zisterzienserpater: “Dass Gott mich als Priester will, war für mich Überraschung und Schock-Erlebnis.” Der Zölibat sei “nicht normal, sondern übernatürlich”.
Die normale, der Natur des Menschen entsprechende Lebensform sei die Ehe, weil Gott in seiner Weisheit den Menschen als Mann und Frau, also zweigeschlechtlich und ergänzungsbedürftig, nicht “als androgyne Summe” geschaffen hat. Die Zölibatären seien die “Sondertruppe des lieben Gottes, die die Existenz Gottes existenziell bezeugt”, denn ohne Gott sei diese Lebensform nicht verständlich. Schuld an den fruchtlosen Zölibatsdebatten sind laut Pater Karl Wallner die Priester selbst. Der Referent plädierte deshalb dafür, weniger über den Zölibat zu diskutieren, sondern mehr über seinen letzten Grund: über Gott. Die letzte Antwort auf die Frage, warum er ins Kloster gegangen ist, laute: “Weil ich mich in Gott verliebt habe.”
Karl Wallner empfahl, die “vocatio” im eigentlichen Sinn, die Berufung in die Lebensform Jesu, wieder deutlicher zu unterscheiden von der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit, die dadurch ja nicht aufgehoben werde. Die übernatürliche Berufung sei nur sinnvoll, wenn es darin eine andere Beziehung gibt, die das Defizit auffüllt. Zölibat sei “erfühlte Ahnung erfüllter Erwartung in irdischem Unerfülltsein”. Wallner pflichtete Prüller bei, dass Zölibat ebenso wie christliche Ehe in heutiger Zeit “ein anti-bürgerliches Programm” sei. Der Zölibatäre brauche geistliche Freundschaften und auch Hilfe von Eheleuten. Pater Karl Wallner verschwieg die Probleme des zölibatären Lebens nicht: “Wir sind der Einsamkeit ausgesetzt, sehnen uns nach Freundschaft, sind verwundet.” Es gebe das Gefühl des Defizits, etwa den Schmerz, keine eigenen Kinder zu haben. Zölibat habe “Opfercharakter”, doch werde nichts Grosses für den Himmel geschaffen, was nicht aus der Hingabe kommt. Der Zölibatäre baue nicht auf das eigene Machen und Verdienst, sondern auf Gottes Berufung und Gnade.
Ähnlich meinte der Grazer Krankenhausseelsorger Bernd Oberndorfer: “Was Jesus mit Ehe und Ehelosigkeit meint, ist nie nur aus der Natur ableitbar, sondern aus Geschenk und Gnade.”
Auch Zölibatäre müssen ihre Beziehung pflegen
Gegen weitverbreitete Vorurteile, dass psychische Störungen bei Zölibatären auf ihre Lebensform zurückzuführen seien, wandte sich der Gründer des RPP-Instituts, der Psychiater und Psychotherapeut Raphael Bonelli: Endogene psychische Probleme, wie etwa Depressionen, kämen bei Zölibatären, Verheirateten und Ungebundenen gleich häufig vor. Falsch sei es, solche Erkrankungen bei Priestern auf den Zölibat zu schieben. Falsch sei aber auch die Ansicht mancher depressiver Priester, sie müssten dagegen nur mehr beten. Reaktive psychische Störungen, etwa Traumatisierungen, seien bei Verheirateten am häufigsten, neurotische Störungen eher bei den Ungebundenen. So seien Süchte und Angstneurosen bei Ungebundenen ungleich höher als bei den in Ehe oder Zölibat Gebundenen, ebenso Suizide. Bonelli wörtlich: “Menschen, die immer nur nehmen und nicht geben wollen, landen in der Verbitterung.” Der Narzisst finde niemanden, “der so toll wäre wie er selbst, und damit seiner Hingabe würdig”. Das Herz des bewusst unverbindlich Lebenden sei beim eigenen Ich, bei der Karriere und beim Wohlbefinden, das des Verheirateten im Idealfall bei der Familie, das des Zölibatären bei der Seelsorge. Bonelli mahnte zugleich, auch der Zölibatäre müsse “seine Beziehung pflegen – und das ist das Gebet”. Zölibatäre würden dann scheitern, wenn sie der Ich-Haftigkeit zu viel Raum geben und damit die eigene innere Freiheit verspielen. “Deshalb taugen nur psychisch Gesunde für den Zölibat”, sagte Bonelli, der davor warnte, in Zeiten des Priestermangels jeden Kandidaten zu weihen. Männer mit völligem sexuellen Desinteresse an Frauen, also Eheunfähige, seien für das Priesteramt nicht geeignet.
Der Regionalobere der St. Johannes-Gemeinschaft für Südeuropa, Pater Johannes Lechner, meinte, 90 Prozent der Zölibatären habe diese Lebensform für sich nicht geplant. Entscheidend sei eine Begegnung: Die “Erfahrung einer vergebenden, befreienden Liebe, die immer stärker wird und heranreift zu einem ,Du allein, Herr‘, das kein menschliches ,Du allein‘ mehr zulässt”. Auf die Zölibatsfrage gebe es eine christologische Antwort: die Vertrautheit mit Christus und die Teilhabe an der Keuschheit Christi. “Nur im Blick auf Ihn vollzieht sich ein Gleichgestaltungsprozess, in dem der Zölibat richtig geortet werden kann.” So werde die Unerfülltheit gewandelt in die “Sehnsucht der Begegnung mit Ihm”. Die zölibatäre Lebensform sei “Sein Lifestyle”. Den “Kerninhalt des Zölibats Jesu” erklärte Lechner mit dem “filialen Wesen” Jesu, mit seiner Vertrautheit mit dem Vater, die der Schwerpunkt seines Lebens geblieben sei. “Daran teilzuhaben ist der Schwerpunkt der zölibatären Existenz.”
Die Keuschheit Jesu führe zu einer wunderbaren Beziehungsfähigkeit: “So wird Jesus zum Bräutigam aller Menschen.” Jesus sei frei von Angst und Begierde, habe sich freiwillig um des Himmelreiches willen zum Ehelosen gemacht. Seine freiwillige Selbsthingabe am Kreuz habe er in der Eucharistie vorweggenommen. Der priesterliche Zölibat ist nach Pater Johannes Lechner eine Anteilnahme “am Bräutigam-Sein Christi und Angleichung an seinen Lebensstil”. Eine andere Dynamik habe der Zölibat des Gottgeweihten, nämlich die der Braut, die sich in Entfaltung der Taufgnade ganz von Gott lieben und vom Heiligen Geist erfüllen lasse.
Dafür bedürfe es der “frei gemachten Zeit, um an der Quelle zu bleiben”. Johannes Lechner mahnte die Zölibatären, “jeden Tag Wüstenzeiten frei zu schaufeln”. Ohne Beziehungspflege mache der Zölibat krank: “Wir finden alle hunderttausend Gründe, warum wir keine Zeit finden für das Gebet und die Schriftlesung. Damit müssen wir Schluss machen!” Als Bild des Zölibatären empfahl der Referent Petrus, der dem Herrn über das Wasser entgegen geht, weil Jesus ihn ruft – und untergeht, sobald er an sich denkt. Vier Säulen einer zölibatären Spiritualität benannte Pater Johannes Lechner: Gebet, Wahrheitssuche, Gemeinschaft und Mission. Diese Säulen müssten im Gleichgewicht sein. Wichtig sei eine neue, postmoderne Kultur der Freundschaft und der Askese. Der Zölibatäre brauche das brüderliche Leben und die geistliche Begleitung. Johannes Lechner wörtlich: “Wir können nicht immer nur geben. Der Einzige, der immer geben kann, ist Gott!”
Die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, die künftig an der Hochschule in Heiligenkreuz Blockvorlesungen und Seminare abhalten wird, betonte, dass der Zölibat keine Disziplinierung ist, sondern der Versuch, Jesu Leben risikoreich nachzuahmen. Den Zölibatären traue man religiöse Höchstleistungen zu, doch werde Versagen nachhaltiger bestraft.
Gerl-Falkovitz zeigte, dass “die Zähmung des Geschlechts” seit jeher das Anliegen der Religion und der Kultur gewesen sei, und zwar in der archaischen Überzeugung, dass das Geschlecht den “Flug der Seele” hindere und erst die überwundene Triebhaftigkeit frei mache für das Heilige. Tatsächlich habe Sexualität das Potenzial, Irritationen hervorzurufen. Im Gegensatz dazu seien Judentum und Christentum der Überzeugung, dass die Geschlechtlichkeit den Flug der Seele zu Gott nicht hindert. Das christliche Sakrament der Ehe ist so zu deuten, dass die Ehegatten in ihrer Gemeinschaft ein Zeichen der Anwesenheit Gottes setzen. Gerl-Falkovitz sprach von einer “christlichen Erotik”, die “ein zu hebender Schatz im Acker” sei. Doch liege, wie Thomas von Aquin formulierte, “die Lust der Engel neben der Lust der Tiere”. Die Brechungen und Irritationen des Geschlechtlichen gebe es auch für jene, die in einer Bindung leben.
Der Zölibat sei nicht funktional zu verstehen, sondern er unterhöhle Zeit und Ewigkeit, denn er habe eine messianische Dimension: “Das Kommen des Messias unterläuft das Geschlecht und allen Besitz.” Nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft – im Sinn des lateinischen adventus –, die messianische Erwartung sei die Begründung des Zölibats: “Es gibt jemanden, der schon auf mich zukommt.” Die Lebensform der evangelischen Räte müsse nicht selbst bewältigt werden, sondern werde von der Zukunft aus schon erfasst: “Die evangelischen Räte sind auf Glück hin entworfen, nicht auf Unglück. Man preist die Keuschheit um der grossen Liebe willen.” Auch die Sprache des Leibes wolle mehr, als sich hier und jetzt einlöst, nämlich Unendlichkeit.
Pater.Johannes.Lechner
Zölibat.und.Normalität: kathTube: Pater Karl Wallner
KathTube: Interview mit Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
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