Syriens Minderheiten leben in Angst
Neues Regime – Die März-Massaker an der Mittelmeerküste richteten sich gegen die Alawiten. Aber auch Kurden, Drusen und Christen haben Anlass zu Wachsamkeit und Sorge
Quelle
Wer ist die Initiative Christlicher Orient? – ICO – Initiative Christlicher Orient
Verein ‘Christen helfen Christen im Heiligen Land’
13.04.2025
Vor einem Monat warfen die Massaker sunnitischer Milizen an den Alawiten in der syrischen Küstenregion ein Schlaglicht auf das “neue Syrien” nach dem Sturz des Assad-Clans. Doch während die Weltöffentlichkeit längst wieder auf andere Krisenregionen blickt, lebt die alawitische Minderheit Syriens nun in Angst. “Wohin sollten sie fliehen?”, fragt der Projektkoordinator der “Initiative Christlicher Orient” (ICO), Stefan Maier, im Gespräch mit dieser Zeitung. “Der Libanon liegt selbst am Boden und will keine Flüchtlinge aufnehmen, insbesondere wenn es keine Hoffnung auf deren Rückkehr gibt.” Dennoch sollen bis zu 30.000 Alawiten über die grüne Grenze in den Libanon geflohen sein. Die meisten jedoch verharren in Syrien – in Angst. Denn wenngleich die neue Regierung in Damaskus sich moderat präsentiert, um die Aufhebung der westlichen Sanktionen zu erreichen, waren die Racheakte gegen die Alawiten weder Zufall noch Einzelfälle.
“Die Christen, die im Kontext dieser Massaker in der Küstenregion zu Tode kamen, waren eher Opfer unglücklicher Umstände”, berichtet Maier, der Syrien 80-mal besuchte und eng mit den ICO-Projektpartnern vor Ort zusammenarbeitet. “Sie wurden nicht ermordet, weil sie Christen waren, sondern etwa im Rahmen von Plünderungen oder durch verirrte Kugeln.” Nicht die Christen waren bei diesen Massakern im Fokus, sondern die Alawiten, zu denen auch der von 1970 bis 2024 herrschende Assad-Clan zählte. Sie waren auch bewaffnet, denn nach dem Sturz von Assad im Dezember 2024 war es nicht schwer, an Waffen zu gelangen. “Viele Soldaten zogen die Uniformen aus und gingen nach Hause. Die Kasernen waren unbewacht, man konnte sich Maschinengewehre einfach mitnehmen”, so Maier. An den Massakern waren nicht nur Regierungssoldaten beteiligt, sondern auch “Tschetschenen, Afghanen, ja die islamistische Internationale, die gegen Assad gekämpft hat”, sagt der ICO-Experte. Ihm liegt die Kopie eines Schreibens des Verteidigungsministeriums vor, in dem es heißt, es sei unter Strafe verboten, die stattfindenden Militäroperationen und Exekutionen zu fotografieren oder zu filmen.
Ungewiss ist auch die Zukunft der übrigen Minderheiten unter dem neuen sunnitischen Regiment Syriens: “Den Kurden ist klar, dass sie nicht mehr auf die Amerikaner zählen können, weil sie in der Kosten-Nutzen-Rechnung dieses US-Präsidenten keine Rolle mehr spielen. Sie sind in ihrer Geschichte oft verraten worden”, sagt Maier. Die neue, vorläufige Verfassung mache den Angehörigen aller Minderheiten, auch den Christen, klar, “dass sie in diesem neuen Syrien keinen Platz haben”. Das werde die Auswanderung noch einmal beschleunigen.
Der Westen sollte nicht naiv sein
Ähnlich äußert sich Manuel Baghdi, ein katholischer Syrer, der die Erzdiözese Wien und Kardinal Christoph Schönborn seit Jahrzehnten in allen Fragen des Orients berät: “Was in der syrischen Küstenregion geschah, diese Grausamkeit gegen Zivilisten, ist ein Zeichen der extremen Brutalität radikaler islamistischer Gruppen wie Al-Kaida und Al-Nusra. Wir als Christen sehnen uns nach Frieden, und ich möchte den Beteuerungen des syrischen Präsidenten gerne glauben. Aber die Lage für alle Minderheiten – Alawiten, Drusen, Kurden und auch Christen – ist derzeit unklar.” Man müsse die Lage weiter beobachten. “Die Massaker an der Küste wurden von Gruppen begangen, die von der Türkei unterstützt werden. Als ein den Alawiten zugehöriger früherer General der Präsidentengarde Bashar al-Assads Militärstützpunkte der Regierung angriff, zum Aufstand aufrief und einige Soldaten umbrachte, kamen Milizen aus Idlib auf hunderten Picups. Es waren vermummte Kämpfer, dem Vernehmen nach überwiegend Ausländer”, so Baghdi im Gespräch mit der “Tagespost”. Der Westen dürfe nicht naiv sein und nicht aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Interessen agieren.
Nicht nur die Alawiten, sondern alle Minderheiten Syriens leben in Angst: die Kurden, die Drusen und die Christen, die als einzige völlig unbewaffnet sind. “Fakt ist, dass das herrschende Chaos die Lage für die Christen und andere Minderheiten gefährlicher macht. Deshalb herrscht jetzt Angst”, sagt Baghdi. Viele syrische Christen würden nun auf gepackten Koffern sitzen. Die neue Verfassung macht ihnen zusätzlich Sorgen: “Festgeschrieben wurde, dass der Präsident ein Muslim sein muss. Die Scharia gewinnt leise an Wirkmacht.” Ob eine einzelne christliche Ministerin in der neuen syrischen Regierung, Sozialministerin Hind Kabawat, mehr als ein Feigenblatt darstellt, wird sich zeigen.
Dabei ist Syrien der geopolitische Mittelpunkt des Nahen Ostens. “Die ganze Welt hat sich hier seit 2011 eingemischt”, so Baghdi, der meint, dass Syrien in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen kann. Darum halte Russland, das jahrelang Assad unterstützte, seine beiden Stützpunkte an der syrischen Küste. Aber auch die Golfstaaten, Ägypten, Israel, die Türkei, der Iran, Amerika und China mischen in Syrien mit. Auch Baghdi sieht die Lage der Kurden eher trist: “Wenn es gegen die Kurden geht, sind die Türkei und der Iran beste Freunde, denn in beiden Ländern gibt es eine große kurdische Minderheit. Wenn Amerika sie jetzt im Stich lässt, haben die Kurden keine Chance.” Der neue Präsident, Ahmed Al-Sharaa, suche die internationale Anerkennung und die Aufhebung der Sanktionen, allerdings weniger aus finanziellen Gründen, sondern aus Prestigegründen. “Geld gibt es auch von Katar, militärische Unterstützung aus der Türkei”, so Baghdi.
Christen sind eher Opfer des Chaos
Weil die Assads Alawiten waren, würden die Alawiten einfach pauschal zu den Anhängern Assads und seines Regimes gerechnet, meint Reinhold Then vom Verein “Christen helfen Christen im Heiligen Land”. Die Christen standen unter Assads Schutz und genossen Freiheit wie in keinem anderen arabischen Land, so Then gegenüber dieser Zeitung. “Assads Armee beschützte die Christen soweit sie in seiner Einflusssphäre waren. Christen wurden zur Armee einberufen, manche stiegen darin auf. Aus Sicht der Islamisten kämpften Christen für das Assad-Regime, und Assad für die Christen. Then erzählt ein Beispiel: “Als im September 2013 die islamistische Al-Nusra-Front das christliche Dorf Maalula nördlich von Damaskus einnahmen, Christen töteten und die Heiligtümer stark beschädigten, befreite Assads Armee im April 2014 das Dorf, das wegen seiner aramäischen Sprache zum Weltkulturerbe zählt. Nach dem Sturz Assads kamen die Al-Nusra-Anhänger zurück und übten Vergeltung.”
Wie viele Christen es noch in Syrien gibt, weiß niemand zu sagen. Die letzte offizielle Volkszählung fand 1960 statt, also ein Jahrzehnt vor der Machtübernahme des Vaters, Hafiz al-Assad. 2011 gab es etwa 1,5 Millionen Christen in Syrien; vor dem Sturz des Sohnes, Bashar al-Assads, 2024 nur mehr 150.000, schätzt Then. Heute rechne man nur noch mit 80.000. “Wenn in den Kirchen Syriens die Osternacht gefeiert wird, werden die Christen genauer wissen, wie viele von ihnen noch da sind. Denn da kommen die meisten.”
Wenn die Sanktionen fallen, gibt es Hoffnung
Zwar gebe es derzeit kein gezieltes Vorgehen der Regierung gegen die Christen, aber dennoch Opfer. “Das hat damit zu tun, dass man sich auf mittlerer oder unterer Ebene nicht an das hält, was oben angesagt wird. Die Gewalttäter sind Islamisten unterschiedlicher Ausprägung, Zukurzgekommene, Kriminelle, die nicht einmal Syrer sind, sondern vom Ausland her nach Syrien eindringen und für Verunsicherung und Schrecken sorgen”, meint Then. Meist seien es nicht die unmittelbaren muslimischen Nachbarn, die die Christen bedrängen. “Insofern sind die Christen heute eher Opfer des Chaos und fehlender Regierungskontrolle.”
Doch es ist nicht der Islamismus alleine, der Syriens Christen motiviert, ihre Heimat zu verlassen: “Die wirtschaftliche Depression im Land hat ihre Ursachen auch in der Sanktionspolitik des Westens. Das Devisen- und Wirtschaftsembargo der wirtschaftlichen und medizinischen Güter, die galoppierende Inflation – sie führen früher oder später in den Ruin.” Then analysiert ein wirtschaftliches Ausbluten: “Wenn Menschen ihre lebensnotwendigen Medikamente nicht mehr oder nur noch überteuert auf dem Schwarzmarkt bekommen, verlieren sie den Mut. Wenn Christen auf dem Wochenmarkt einen dreifach höheren Preis zahlen müssen als ihre muslimischen Nachbarn, aber kein Geld mehr haben, was dann?”
Wenn die internationalen Sanktionen fallen, gebe es vielleicht Hoffnung. Die größte Hoffnung und Chance für Syriens Christen sieht Then in den nach wie vor funktionierenden konfessionellen Schulen. Die neue Verfassung bringt jedoch neue Herausforderungen: “Halten sich die Christen an die Scharia, können sie auch in einem islamischen Staat leben. Doch wollen sie das? Die Würde der Frau soll geschützt werden, aber nur im Sinn der Scharia. Forschung und Lehre orientieren sich an der Scharia.” Damit würden sich auch liberale Muslime schwertun, meint Reinhold Then.
Was sichert das Leben der Christen in Syrien?
Doch was erleichtert oder sichert das Leben der Christen in Syrien? Then meint nachdenklich: “Welche Botschaft werden die Patriarchen, Bischöfe und Pfarrer ihren Gemeinden in der Osternacht nach Hause mitgeben? Gewiss keine Aufforderung zur Massenflucht. Sie werden bekennen: der Messias kam – der Herr ist auferstanden. Im Tod ist Leben, in der Finsternis ist Licht.” Then erinnert daran, dass Jesus den Christenverfolger Paulus direkt vor Damaskus zu Fall brachte und sich ihm in einer Offenbarung zeigte. Hananias und die kleine Gemeinde in Damaskus nahmen diesen Feind des Christentums auf und schenkten ihm neues Leben. Paulus aber tauchte nach seiner Lebenswende für einige Jahre in Arabien ab – “das ist vermutlich der Hauran, in dem heute der Islamische Staat sitzt”, so Then.
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