Das Sonnenwunder der Barmherzigkeit
Keine Kuschelpädagogik
Quelle
Fatima: Diverse Beiträge
Vor hundert Jahren wurden wir von Maria noch einmal dramatisch über die Realität der Sünde und Hölle aufgeklärt. Erlösung aber sucht und findet die Kirche seit acht Jahrhunderten in jedem heiligen Jahr neu im Blick auf ihren Sohn, in dem “Gott, der Erbarmer,“ bis zum Ende der Tage sein menschliches Gesicht gezeigt hat.
von Paul Badde
Von allen Gebeten, die wir kennen, stammt eines aus dem Mund der Gottesmutter persönlich. Davon erzählen uns jedoch nicht die Schriftgelehrten, das wissen wir aus alten Zeitungen, weil Maria dieses Gebet am 13. Juli 1917 vor drei unschuldigen Zeugen gesprochen hat, und zwar auf portugiesisch, wo es so klang: “Ó meu Jesus, perdoai-nos e livrai-nos do fogo do inferno, levai as almas todas para o céu, principalmente as que mais precisarem!“ Auf Deutsch: “O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden! Bewahre uns vor dem Feuer der Hölle! Führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die Deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen!“ Die Kinder Jacinta, Lucia und Francisco, denen sie dieses Gebet beibrachte, hatten keine Ahnung, was sie damit meinen konnte. Doch sie schärfte ihnen ein, diesen Zusatz fortan jedem Rosenkranz am Schluss jedes einzelnen Gesätzes hinzuzufügen.
In Europa tobte damals der Erste Weltkrieg. Im Sommer zuvor hatten sich zwei Millionen christlicher junger Männer mit ihren jüdischen Brüdern in den Hügeln vor Verdun und den Sümpfen der Somme gegenseitig abgeschlachtet. Seitdem war das Morden unvermindert weitergegangen. Eine Nacht vor dem 13. Juli setzten deutsche Truppen vor Ypern in Flandern erstmals das verheerende Senfgas als Waffe gegen die Briten ein. Im russischen Sankt Petersburg bereitete Lenin zur selben Zeit eine Revolution vor, die noch viele Millionen Hab und Gut und Leib und Leben kosten würde. Das alles ist noch keine hundert Jahre her, als sich Maria nicht an die Kaiser und Könige Europas oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten wandte, sondern an drei unmündige Hirtenkinder, die nicht einmal wussten, wen sie in der “weissen Gestalt“ vor sich hatten, die “vor Licht glänzte“ und die ihnen nun schon zum dritten Mal ausserhalb des kleinen Dörfchens Fatima in einem abgelegenen Winkel Portugals über einer Steineiche erschien, immer am 13. des Monats. Fünftausend Menschen aus der Umgebung waren diesmal dazu geeilt. Die Zeitungen Lissabons waren voll davon.
“Was wünschen Sie von mir?“, hatte Lucia die weisse Dame zuvor gefragt: „Ich möchte, dass ihr am 13. des kommenden Monats wieder hierher kommt“, sagte sie, “und dass ihr weiterhin jeden Tag den Rosenkranz betet, um Frieden für die Welt und das Ende des Krieges zu erlangen.“ – “Doch können Sie uns nicht bitte sagen, wer Sie sind“, antwortete die Kleine. Lucia war neun Jahre alt. “Und können Sie vielleicht bitte ein Wunder tun, damit alle glauben, dass Sie uns erscheinen.“ – “Kommt weiter jeden Monat hierher“, bekam sie zur Antwort. “In drei Monaten werde ich euch sagen, wer ich bin und was ich wünsche, und werde ein Wunder tun, damit alle glauben.“ Kurz danach öffnete die Dame ihre Hände, “aus denen ein Licht floss, das die Erde zu durchdringen schien“, wie Lucia sich später erinnerte. Dann sahen sie “ein grosses Feuermeer in der Tiefe der Erde, darin eingetaucht Teufel und Seelen, als seien es durchsichtige, glühende Kohlen in menschlicher Gestalt. Sie trieben im Feuer dahin, empor geworfen von den Flammen, die aus ihnen selber zusammen mit Rauchwolken hervorbrachen. Sie fielen in alle Richtungen, wie Funken bei gewaltigen Bränden, ohne Schwere und Gleichgewicht, unter Schmerzensgeheul und mit Verzweiflungsschreien, die uns vor Entsetzen erbeben und erstarren liessen.“ Die Vision dauerte nur einen Moment. Die Kinder erschraken zu Tode. Es war keine Kuschel-Pädagogik, die mit der Genehmigung irgendeines Kultusministeriums hätte rechnen können, derer sich die Dame bediente. “‘Ihr habt die Hölle gesehen, wohin die Seelen der armen Sünder kommen‘, sagte sie uns danach voll Liebe und Trauer“, schrieb Lucia später in einem Bericht für den Bischof von Leiria. Ausserdem legte sie den Kleinen ein unbekanntes Land namens Russland ans Herz, das gerade dabei sei, “seine Irrlehren über die Welt zu verbreiten und Kriege herauf zu beschwören, unter grossen Verfolgungen der Kirche. Verschiedene Nationen werden vernichtet werden.“
Schliesslich schwieg sie, bevor sie nach einigen Augenblicken sagte: “Wenn ihr den Rosenkranz betet, dann sagt nach jedem Geheimnis: ‘Ó meu Jesus, perdoai-nos …’“ Und so weiter.
So also sah der Zusammenhang aus, in dem die Muttergottes das katholischste aller Gebete höchstpersönlich erweiterte. Im August darauf und im September erschien sie den Kindern wahrhaftig wieder, vor immer grösseren Pilgermassen. Am 13. Oktober gab sie sich als die “Rosenkranzkönigin“ zu erkennen und beglaubigte all ihre Worte durch ein “Sonnenwunder“, bei dem die Sonne vor siebzigtausend Zeugen zuerst “silbern wie der Mond“ hinter schweren Wolken hervorkam, für etwa zehn Minuten zu kreisen begann und Strahlen in Regenbogenfarben versprühte. Danach verfärbte sie sich blutrot und stürzte im Zickzack den entsetzten Zuschauern entgegen – allerdings nur, um deren vom Regen völlig durchnässte Kleidung in Sekunden zu trocknen. Meine Mutter hat mir schon als Kind von all dem erzählt. Es war “kosmisch“, wie kalifornische Hippies später wohl gesagt hätten, doch ohne alle Drogen. Spätestens seit diesem Tag aber wird der neue Zusatz täglich gebetet, von vielen Millionen. Die eigenen Worte Marias!
Sie selbst hat sie hier in das Gebetsleben der Christenheit eingeführt, und dennoch: Es bleibt natürlich starker Tobak. Musste das sein? Denn dieser Zusatz ist ja noch radikaler als das Liebesgebot Jesu! Ist es nicht eine Bitte um das Aushebeln der Gerechtigkeit zugunsten des Erbarmens? Denn hier beten wir ja nicht nur für unsere Feinde. Hier geloben wir nicht, ihnen zu vergeben, weil “sie nicht wissen, was sie tun“. Hier bitten wir darum, dass sie erlöst werden und in den Himmel kommen, zusammen mit den Erzfeinden Gottes und der Menschen! Auch Hitler, Stalin und Mao, die grossen Massenmörder sollen in den Himmel kommen, zusammen mit Pol Pot und den Killern des IS! Auch die grössten Quäler, Lügner, Betrüger, Mörder und Kinderschänder sollen in den Himmel kommen und nicht um der Gerechtigkeit willen die gesamte Ewigkeit wie Funken und gewichtlose “durchsichtige glühende Kohlen in menschlicher Gestalt“ unter Schmerzensgeheul durch die Hölle tanzen. Denn wer sonst sollen diejenigen sein, die Gottes Barmherzigkeit am meisten bedürfen!? Wer? Oder hat die Barmherzigkeit des Allmächtigen in der Hölle etwa jede Macht verloren? Und wer hat Maria überhaupt dazu ermächtigt, solche Bitten auszusprechen und beten zu lassen? Etwas Radikaleres hat die Welt noch nie gehört. So beten wir den Zusatz zwar, aber er bleibt zu hoch für uns. Denn eigentlich wollen wir das natürlich nicht, sondern schon immer auch noch ein kleines bisschen Rache und Gerechtigkeit, gerade für unsere Feinde und alle diejenigen, “die der Barmherzigkeit am meisten bedürfen“.
Doch nun hat Papst Franziskus ein ausserordentliches heiliges “Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Papst Johannes Paul II. hatte schon einen neuen “Sonntag der Barmherzigkeit“ in den Kirchenkalender eingeführt, an dessen Vorabend er schliesslich am 2. April 2005 gestorben ist. Denn neu ist der Begriff natürlich nicht. Die Barmherzigkeit spielt im Christentum, im Judentum und im Islam eine grundlegende Rolle. Im Koran ist sie das höchste und am häufigsten genannte Attribut Gottes. Sie steht am Anfang jeder Sure und jeder religiösen Rede: Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Darum sind viele Muslime heute verzweifelt und ratlos, weil die Monster- und Mörderbanden des IS mit ihrer Unbarmherzigkeit nicht nur den Islam, sondern vor allem den Namen Gottes verhöhnen und schmähen. Kein Mensch weiss, wie es dazu kommen konnte. Vielleicht hat Papst Franziskus ja auch darum ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. “Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“ ist der Titel seines ersten Buches, das im Januar erscheinen wird. Doch die Barmherzigkeit war auch schon der Trost und die Hoffnung der ersten Jubeljahre, wie es in einem Bericht damals hiess: “Zum Trost der christlichen Pilger wurde an jedem Freitag und feierlichen Festtag das Sudarium Christi (mit dem Antlitz Jesu) in Sankt Peter gezeigt. Und es versammelte sich eine grosse Menge davor, die laut das ERBARMEN Gottes herabflehte.“
Auch im kommenden Jahr werden die Sünden und die Vorstellung der Hölle deshalb nicht endgültig abgeschafft werden. Die Barmherzigkeit Gottes ist kein kosmisches “Schwamm-Drüber“, wie uns die kleine Schulstunde der Muttergottes in Fatima lehrt. Vielmehr macht sie uns mit diesem Gebet neu bewusst, dass es die Sünde gibt und die Hölle. Dass es ein letztes Gericht und ein ewiges Leben gibt. Dass Sünde kein göttliches Verbot ist, sondern ein Verstoss gegen den Urgrund des menschlichen Glücks. Dass ein Ehebruch zum Beispiel zwar spritzig sein kann, und dennoch eine Katastrophe für alle Beteiligten ist – und jede zerbrochene Ehe ein Albtraum. Dass Mord, Raub, Abtreibungen oder Lügen noch nie geholfen haben, auch nicht in grosser Not. Und so weiter. Barmherzigkeit ist so gesehen jene Tür, hinter der wir wieder erkennen, dass Sünde die Strafe der Sünde und Tugend der Lohn der Tugend ist, wie der Talmud sagt. Dass Sünden uns beschädigen und das rechte Tun und Lassen zuerst uns selbst und dann alle anderen um uns herum beschenkt. Und dass wir alle Sünder sind.
So lädt das Jahr der Barmherzigkeit also zunächst noch einmal neu zur kritischen Unterscheidung der Geister ein, zwischen wahr und falsch, gut und böse, Täuschung und Enttäuschung. Darum ruft der Papst schon jetzt mit immer mehr Bischöfen zur Wiederentdeckung der Beichte auf als einem göttlichen und sakramentalen Instrument der Selbsterkenntnis und Versöhnung. Und zum Gebet. Deshalb erinnerte auch Erzbischof Georg Gänswein am 20. November in Rom an Reginald Garrigou-Lagrange, den Lehrer Karol Wojtylas, und an dessen Erkenntnis, dass “Barmherzigkeit und Strenge der Lehre nur vereint existieren können. Die Kirche ist bei ihren Prinzipien intolerant, weil sie glaubt. Und sie ist in der Praxis tolerant, weil sie liebt. Die Feinde der Kirche sind in den Prinzipien tolerant, weil sie nicht glauben, und sie sind intolerant in der Praxis, weil sie nicht lieben.” Darum warf auch Jesus keinen Stein auf die Sünderin, obwohl er im Kreis ihrer Richter der einzige ohne Sünde war. Darum sagte er ihr nur: “Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr” (obwohl er doch wusste, dass sie danach ein sündiger Mensch wie wir alle blieb, was denn sonst). Barmherzigkeit und Wahrheit und Gerechtigkeit sind keine Gegensätze. Sie ergänzen sich. Barmherzigkeit gilt uns, den Sündern, nicht den Gerechten.
Doch wer sind nun diejenigen, “die die Barmherzigkeit am meisten bedürfen“? Wo ist die Grenze des Erbarmens? Wir wissen es nicht. Doch darüber klärt uns am Ende wohl nicht der Blick in die Hölle, sondern der Blick in das Gesicht unseres Retters und Erlösers auf. Es ist der Blick in das Gesicht des Gepeinigten, vor dem Teresa von Ávila ihre Konversion erlebte. Es ist der Blick in “das lebendige Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters“, von dem Papst Franziskus spricht, und das schon im Jahr 1300 Millionen Pilger nach Rom zog. Es ist der Blick auf das menschliche Gesicht Gottes selber, der nicht mehr redet, sondern uns nur noch leise anschaut.
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