Existenz Gottes – Natürliche Theologie
Agnostisches Denken ist beliebt: “Ich bin kein Atheist, aber auch kein gläubiger Mensch; ich weiß nicht, ob es Gott gibt oder nicht es kann mir also egal sein.”
Quelle
Prof. Dr. Werner Thiede stellt sich vor (werner-thiede.de)
Literatur: Dr. Werner Thiede
18.08.2023
Werner Thiede
Agnostisches Denken ist beliebt: “Ich bin kein Atheist, aber auch kein gläubiger Mensch; ich weiß nicht, ob es Gott gibt oder nicht es kann mir also egal sein.” Tatsächlich lässt sich fragen: Selbst wenn Gott existiert, hat er sich dann nicht so sehr verborgen, dass eine agnostizistische Einstellung gerechtfertigt ist? Oder gar eine atheistische Haltung? Hat sich nicht die Ankündigung des “tollen Menschen” in Friedrich Nietzsches “Fröhlicher Wissenschaft” bestätigt, so dass der Eindruck, Gott sei tot, gewissermaßen alltäglich geworden ist?
Dass der Horizont der Metaphysik und der Religion in unserem technischen Zeitalter wie weggewischt erscheint, hat mit der gewachsenen Autonomie des Menschen zu tun, die ihm der sogenannte, doch sehr ambivalente Fortschritt beschert hat. Er ist gleichsam selbst zum Gott geworden, wie Sigmund Freud diagnostiziert hat. Das hat ganze Gesellschaften sehr narzisstisch werden lassen. Eine solche Selbstverliebtheit fragt nach keinem Schöpfer oder Erlöser mehr, auch nach keinem Versöhner mit dem in Vergessenheit geratenen Gott.
Doch fragt nicht der Schöpfer, Versöhner und Erlöser weiterhin nach dem Menschen? Ist das Problem des verdunstenden Gottesverhältnisses dadurch gelöst, dass man sich nicht mehr dafür interessiert? Oder liegt hier nicht vielmehr eine massive Verdrängung im korrumpierten Bewusstsein, um nicht zu sagen: Gewissen, vor? Dem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant war noch klar: Der menschlichen Vernunft sind die Fragen nach Gott und Unsterblichkeit unauflöslich eingeschrieben; nur die Antworten lassen sich nicht rational eindeutig finden und klären. Die metaphysische Antwortlosigkeit in Verbindung mit dem technisch-naturwissenschaftlichen Aufstreben hat zu einer Ignoranz hinsichtlich der Gottesfrage geführt, die Kirchen und Religionen zunehmend ins Abseits gleiten lassen. Attraktiv werden aktuell religiöse Versuchungen, die sich im Raum des Digitalen gänzlich immanent zu verankern bemühen; künstlich-virtuelle Gottheiten in Verbindung mit einer technisch angeblich machbaren “Unsterblichkeit” werden zum goldenen Kalb unserer Tage.
Ist der postmoderne Mensch Gott los geworden?
All das bedeutet bei näherem Hinsehen keineswegs, dass die Frage nach der Wirklichkeit Gottes abzuhaken wäre. Kant hatte die Autonomie des Menschen, seine scheinbar absolut gesetzte Willensfreiheit mitnichten im Sinne einer mentalen Autarkie verstanden, sondern definiert: “Der Wille, dessen Maximen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille.” Gott hat er als ein Postulat der praktischen Vernunft im Spiel gelassen. Was, wenn die theologisch keineswegs unbekannte Verborgenheit Gottes durchaus im göttlichen Kalkül liegt? Entschuldigt sie den gottvergessenen, gottlos gewordenen Menschen grundsätzlich? Ist der postmoderne Mensch tatsächlich Gott los geworden?
Die transpersonale Psychologie insistiert: “Wir wissen mehr als unser Gehirn. Die Grenzen des Bewusstseins überschreiten”, heißt ein Buch mit Autoren wie Charles Tart und Stanislav Grof (2003). “Du weißt mehr als du denkst” lautet ganz ähnlich der Titel eines Buches von Seka Nikolic (2014), das von menschlicher Intuition handelt. Solche Intuition lässt sich auch auf dem Gebiet des religiösen Bewusstseins unterstellen, wie der Psychotherapeut Viktor E. Frankl in seinem Buch “Der unbewusste Gott” (1948) dargelegt hat. Im Alten Testament steht bereits als Weisheit des “Predigers” zu lesen: Gott hat den Menschen “die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende” (Pred 3,11). Im Neuen Testament wird seinerseits vorausgesetzt, dass alle Menschen intuitiv von Gott wissen. So unterstreicht schon der Prolog des Johannesevangeliums, der göttliche Logos erleuchte jeden Menschen, der in diese Welt kommt (Joh 1,9).
Für den Apostel Paulus war klar, dass auch denen, die Gott nicht kennen, “in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen” (Röm 2,14). Sich damit zu entschuldigen, man habe zu wenig von Gott gewusst, wird demnach nicht funktionieren “an dem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen durch Christus Jesus richten wird” (Röm 2,16). In der Tat setzt der biblische Gerichtsgedanke ein Wissen um Gottes Existenz und dessen Forderungen logisch voraus. Das beliebte Verdrängungsmanöver gelingt daher nicht wirklich.
Wir wissen nicht zu wenig, sondern zu viel von Gott
In der christlichen Theologie war ein rudimentäres Wissen des Menschen um Gott und seine Grundgebote fast nie umstritten. Muss doch gerade die neutestamentliche Gnadenlehre eine solche “Natürliche Theologie” voraussetzen, weil sie von der befreienden Rechtfertigung im Namen Jesu Christi nur dann handeln kann, wenn zugleich von anrechenbarer Schuld die Rede ist. Diese wiederum dürfte es gar nicht geben, wären dem menschlichen Bewusstsein nicht jenes Grundwissen um den Ewigen und dessen Forderung inhärent. Dass wir immer schon in einem Verhältnis zu Gott stehen, war selbst den Bestreitern einer “Natürlichen Theologie” klar. Zu ihnen zählte etwa Karl Barth, der von seinem trinitarischen Denken her die Bestimmtheit des Menschen und seines Bewusstseins durch Christus umso stärker betont und durch seine sogenannte “Lichter-Lehre” herausgearbeitet hat.
Das aber heißt: Wir wissen nicht etwa zu wenig, sondern zu viel von Gott – nämlich zu viel, als dass wir uns vor ihm herausreden oder schlau selbst rechtfertigen können. Allerdings wissen wir von Natur aus zu wenig von Gott, um seine Liebe und Gnade von vornherein angemessen erfassen zu können. Sowohl Atheismus und Agnostizismus als auch die unterschiedlichsten Religionen lassen sich als verzweifelt-schlaue Versuche deuten, der bewusst oder unbewusst gespürten Schuld vor Gott zu entkommen. Das hat namentlich Sören Kierkegaard differenziert aufgezeigt. Wirklich heilsam kann in dieser Hinsicht nur das grundlegend versöhnende Evangelium von Jesus Christus sein.
Erst wo das Gottesverhältnis geheilt ist, findet der Mensch auch seelisch zu sich selbst. Wer hier gedankliche Vertiefung sucht, sei auf Edith Düsings Buch “Gottvergessenheit und Selbstvergessenheit der Seele. Religionsphilosophie von Kant zu Nietzsche” (Leiden 2021) hingewiesen. Dabei ist es keineswegs so, dass die “Natürliche Theologie” nur um des Schuldbewusstseins willen auf das menschliche Urwissen von Gott abzielt. Vielmehr impliziert dieses Urwissen auch ein intuitives Erahnen um die göttliche Gnade, ja um das Gnadenhandeln Gottes. Anders könnte es kein verlässliches Erkennen der Wahrheit geben, die uns mit dem Evangelium begegnet. Sie kann als Wahrheit nur identifiziert werden, weil es ein urtümliches Ahnen und Sehnen gibt, das im rechten Moment signalisiert: Ja, hier ist der Schlüssel, der das Tor zur Ewigkeit wirklich aufschließt. Das gute Ziel der Heilung steht der Seele also auf eine ihr selbst verborgene und doch präsente Weise immer schon vor Augen. Es ist ihr unauslöschlich eingegeben, weil der Logos alle Menschen erleuchtet.
Das heimliche Recht aller Esoterik
Hierin besteht das heimliche Recht aller Esoterik. Deren Grundthese, der Kern jeder Seele sei ein Gottesfunke, darf freilich nicht substanziell, sondern muss relational verstanden werden. Das heißt: Weil Gott uns immer schon liebt und darüber nicht in völliger Unkenntnis lässt, ja weil wir darauf auch schon immer intuitiv im Kern unserer Seele sehnsuchtsvoll antworten, lebt Gott in uns. Insofern ist es nicht zu viel gesagt, wenn formuliert wird: Sein Geist ist der Kern unserer Seele. Dabei handelt es sich freilich um den Heiligen Geist im Modus der Selbstentäußerung: Wie der Gottessohn sich entäußert hat, um in völliger Solidarität mit uns selbst Mensch zu werden (Phil 2,7), so tut das auch der uns gesandte Geist, um uns trotz unserer Entfremdung von Gott nahe zu sein. Insofern bleibt es beim Diktum des Apostels Paulus, wonach die Menschen so angelegt sind, dass sie “Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir wie auch einige Dichter gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts” (Apg 17,27-28). Alle Esoterik befindet sich in einem Missverständnis dieses Urwissens, wenn sie auch eine Weise der Flucht als göttliches Selbstsein ausgibt, was in Wahrheit eingepflanztes Angewiesensein auf die göttliche Zuwendung darstellt.
Dass der Mensch grundsätzlich ein religiöses Wesen sei, haben auch namhafte Philosophen des 20. Jahrhunderts betont. Karl Jaspers etwa hat in seinem Buch “Vom Ursprung und Ziel der Geschichte” (1955) erklärt: “Der Mensch lebt nicht ohne Glauben. Denn auch der Nihilismus als Gegenpol des Glaubens ist doch nur in Bezug auf möglichen, aber verneinten Glauben.” Denn der “Mensch ist nicht nur Triebwesen, nicht nur ein Verstandespunkt, sondern ein Wesen, das gleichsam über sich hinaus ist.” Schon vor Jaspers hat Max Scheler 1929 drei Arten von menschlichem Wissen unterschieden: das Herrschafts- oder Leistungswissen, das Wesens- oder Bildungswissen sowie das metaphysische oder Erlösungswissen.
Letzteres nennt er das “Wissen um der Gottheit willen”, ja das Wissen, “in dem unser Personenkern an dem obersten Sein und Grunde der Dinge selbst Teilhabe zu gewinnen sucht.” Der Mensch besitze sehr wohl die Erkenntnismittel, “den Grund aller Dinge zu erkennen zwar stets unvollständig, aber wahr und einsichtig. Und er besitzt ebensowohl die Fähigkeit, im Kerne seiner Person lebendigen Anteil an dem Grunde der Dinge zu gewinnen.” Ähnlich wie auf dem Feld der Esoterik geht auch die Philosophie hier zu weit. Denn Anteil am Grund der Dinge zu gewinnen, ist keine menschliche Fähigkeit, sondern Gnade, die sich erst offenbarend erschließen muss. Auch das weiß der Mensch intuitiv, auch wenn er dieses Wissen irgendwie umbiegen muss, solange er noch im Stand der Entfremdung von Gott existiert.
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