Tunesien
„Alles, was wir hatten, wurde uns genommen”
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27. Juni 2019
Erzbischof Ilario Antoniazzi (Tunis) über das kirchliche Leben in Tunesien
Das nordafrikanische Tunesien gehörte einst zu den blühenden Regionen des Christentums. Heute leben nur noch wenige tausend Christen in Tunesien – die meisten von ihnen sind Zuwanderer.
Tunesien ist ein Land in der Krise. Tausende Menschen verlassen ihre Heimat – die, die bleiben, sind vom islamistischen Extremismus bedroht.
Dies geht auch zu Lasten der kleinen christlichen Minderheit, die ansonsten in ihrem kirchlichen Leben relativ frei ist. Vor allem in abgelegenen Kleinstädten und ländlichen Gebieten Tunesiens steigt der gesellschaftliche und behördliche Druck zugunsten eines konservativen Islam.
Bei einem Besuch bei Kirche in Not in Königstein im Taunus berichtet der einzige katholische Bischof des Landes, Erzbischof Ilario Antoniazzi aus Tunis, von den aktuellen Herausforderungen – nicht nur für Kirche in Tunesien, sondern auch in Europa. Das Gespräch führte Maria Lozano.
Maria Lozano: Wie ist die Lage in Tunesien acht Jahre nach dem sogenannten „Arabischen Frühling“?
Erzbischof Ilario Antoniazzi: Der „Arabische Frühling“ gab den Menschen viel Hoffnung auf mehr Freiheit und Wohlstand. Es fehlte aber ein politischer Anführer, der den Menschen hätte sagen können, wie sie das erreichen. Deshalb wurden viele Menschen enttäuscht. Die Zukunft scheint ungewiss.
Was die Lage der Kirche angeht, können wir uns nicht beschweren. Innerhalb der Gemeinden können wir tun und lassen, was wir möchten. Wir sind frei, und das ist gut so.
In Tunesien gibt es nur noch vier Kirchen
Ist die Kirche Tunesiens in ihrem öffentlichen Handeln begrenzt?
Deshalb wurde fast das gesamte Vermögen der Kirche in Tunesien beschlagnahmt. Es gab vorher 125 katholische Kirchen im Land. Davon sind uns noch vier geblieben. Das hat die Kirche zerbrechlich gemacht.
Aber gleichzeitig hat es dazu geführt, dass unser Glaube gestärkt wurde. Da wir nicht auf die Unterstützung der Menschen zählen können und keinen materiellen Besitz haben, müssen wir alles von Gott erbitten. Wir wurden gezwungen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren.
„Auf das Wesentliche konzentrieren”
Die christliche Gemeinde in Tunesien ist eine Minderheit. Was kann die Kirche dennoch tun?
Wir sind einfach Missionare. In Tunesien ist Christus nicht bekannt. Alle Christen sind Ausländer: Studenten aus anderen afrikanischen Staaten oder Geschäftsleute. Wir bieten diesen Menschen Unterstützung an.
Es ist nicht einfach, mit den Menschen in Kontakt zu treten. Alle Aktivitäten müssen ja innerhalb der Kirchenmauern stattfinden. Wir haben zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Christen in Tunesien. Es herrscht eine hohe Fluktuation: Etwa alle vier Jahre verändert sich die Zusammensetzung unserer Gemeinden komplett.
Deshalb ist es nicht leicht, langfristige Projekte auf die Beine zu stellen. Es gibt keine Stabilität, und das ist eine zusätzliche Schwierigkeit.
Hohe Fluktuation in den Pfarreien
Tunesien wie auch die nordafrikanischen Nachbarstaaten waren einst blühende christliche Länder. Heute ist die christliche Gemeinschaft nur noch verschwindend klein. Manche Menschen sind in Sorge, dass Europa auch ein solches Schicksal ereilen könnte. Was können wir Ihrer Meinung nach tun, um dies zu verhindern?
In der Tat läuft Europa diese Gefahr. Dies ist aber nicht auf ein Eindringen des Islam zurückzuführen. Es liegt vielmehr daran, dass wir unseren Glauben nicht schätzen.
Schauen Sie einmal auf die Muslime. Am Freitag gehen alle in die Moschee. In Europa sind am Sonntag viele Kirchen leer. Muslime schätzen die Familie, Christen immer weniger. Wir begehen einen allmählichen Selbstmord durch den Mangel an Gläubigen.
Schauen Sie sich nur unsere Kirchen in Europa an: Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die dort beten, sind 60 Jahre oder älter. Wo bleibt die Jugend?
Eine weitere Rolle spielt auch der Priestermangel. In Europa steigt das Durchschnittsalter der Priester. Wie sieht es in Ihrem Land aus?
Ich bin wahrscheinlich der einzige Bischof der Welt, der sich darüber beschwert, dass seine Priester zu jung sind. Im Klerus meiner Diözese haben wir im Moment zwei oder drei 90-jährige Priester. Aber nach ihnen ist der älteste Priester 45 Jahre alt.
Uns fehlen ältere Priester, die ein historisches Wissen über Tunesien, über die Gesellschaft, über die lokale Kirche haben.
Sind in Tunesien alle Ordensleute und Priester Missionare, die von ausserhalb ins Land gekommen sind?
Ja. Es gibt keine einheimischen Priester. Sowohl die Ordensschwestern als auch die Geistlichen stammen aus Ordensgemeinschaften. Die meisten kommen als Missionare für fünf oder zehn Jahre und kehren dann in ihr Land zurück. Uns fehlt eine beständige Präsenz der Priester.
Aktivitäten im muslimischen Umfeld
Der karitative Einsatz der Kirche in Tunesien spielt eine wichtige Rolle, nicht nur für die Christen …
Die Caritas, die christliche Nächstenliebe, ist keine „Bewegung“ der Kirche. Sie gehört nicht der Kirche. Für uns IST die Caritas die Kirche. Wenn ein Mensch in Not gerät, fragen wir nie nach seiner Religion, sondern nach seinem Leiden.
Wir führen Aktivitäten an Orten, wo die Bevölkerung zu 100 Prozent muslimisch ist. Wir sind zum Beispiel da, um den Frauen zu helfen, einen Beruf zu erlernen, damit sie ein unabhängiges Leben führen können.
Was können die Christen in Europa, was kann Kirche in Not für Tunesien tun?
Die Kirche in Tunesien ist zerbrechlich, weil sie in ihrer Tätigkeit sehr eingeschränkt ist. Sie ist aber auch zerbrechlich aufgrund der Frage des Lebensunterhalts. Denn alles, was wir hatten, wurde uns genommen. Also müssen wir für alles, was wir brauchen, um Hilfe von aussen bitten.
Kirche in Not spielt für uns eine wichtige Rolle. Ihr Werk stellt sicher, dass wir unsere Arbeit fortsetzen können. Die meisten Tunesier werden nie ein Evangelium in ihren Häusern haben, aber wir sind das Evangelium, das sie durch unser Verhalten lesen können.
Jede Unterstützung, die wir von Kirche in Not erhalten, ermöglicht es also, dass wir mit unserem Leben Zeugnis von Christus ablegen.
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