Mehr als ein kleines Schrittchen?

Die Debatte über „Amoris laetitia“ geht weiter

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Noch im Juni-Heft des VATICAN-magazins hatte es an dieser Stelle geheissen, der Schritt, den Papst Franziskus mit dem nachsynodalen Schreiben „Amoris laetita“ über die Tradition hinaus gemacht habe, sei „allenfalls ein kleines Schrittchen“. Davon, dass der Papst „das Spielfeld der katholischen Lehre überschreitet“, könne „zwar theoretisch, nicht aber praktisch gesprochen werden“. Der Autor des folgenden Beitrags sieht das anders. Wenn es um die menschliche Sexualität gehe, gehe es nicht mehr nur um Umstände und mehr oder weniger gute Absichten, sondern um Handlungen, die, wenn sie in sich schlecht sind, durch nichts in gute Handlungen umgedeutet werden können.

Das Gesetz der schiefen Ebene

Die bisher geltenden Grenzen sind nicht beliebig: Anmerkungen zur Sakramentenordnung nach „Amoris laetitia“

Von Christian Spaemann

Die Debatte um die Spendung der Sakramente an Gläubige, die sich in einer fortlaufenden sexuellen Beziehung ausserhalb einer sakramentalen geschlossenen Ehe befinden, wurde durch das Nachsynodale Schreiben „Amoris laetitia“ (AL) von Papst Franziskus nicht beendet. Dies ist vor allem auf Artikel 305 mit Anmerkung 351 zurückzuführen, wo festgestellt wird, dass Gläubige „mitten in einer objektiven Situation der Sünde … aufgrund … mildernder Faktoren … im Leben der Gnade und der Liebe wachsen“ können und hierzu die „Hilfe der Kirche“ notwendig sei, zu der „in gewissen Fällen … auch die Hilfe der Sakramente“ gehören könnte. Die Kritiker einer solchen Entwicklung haben gewichtige Argumente der Theologie und Tradition auf ihrer Seite. Sie sehen in diesen Aussagen von „Amoris laetitia“ zumindest einen Widerspruch, wenn nicht gar einen Bruch mit der katholischen Sakramentenordnung, nach der die Ehe unauflöslich ist und jeder, der in einer neuen Verbindung lebt, zumindest formal den Tatbestand des fortgesetzten Ehebruchs erfüllt. Mit ihrer Auffassung können sie sich auf Johannes Paul II. berufen, der in seinem Nachsynodalen Schreiben „Familiaris consortio“ (FC) in Artikel 84 lehrt, dass die Sakramente „nur denen gewährt werden (können), welche … bereut und die aufrichtige Bereitschaft zu einem Leben haben, das nicht mehr im Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe steht“. Dies heisse „konkret, dass … die beiden Partner … sich verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, das heisst, sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten sind“. Diese Lehre ist in verschiedenen Dokumenten der Kirche bestätigt worden, zuletzt 2007 von Papst Benedikt XVI, in seinem Nachsynodale Schreiben „Sacramentum caritatis“, Artikel 29.
Für andere wiederum, vor allem für viele Theologen, ist die Lehre der Kirche in diesem Punkt durch das Schreiben von Franziskus schlichtweg überholt. Viele von ihnen haben schon seit Jahren für eine Aufweichung der bestehenden Sakramentenordnung gekämpft. Dazwischen liegen allerhand Stimmen, die versuchen, zwischen diesen Positionen zu vermitteln. Sie können sich auf zahlreiche Stellen in „Amoris laetitia“ berufen und verweisen meist allgemein auf das persönliche Gewissen im „Forum internum“ und auf die „Unterscheidung komplexer Situationen“. Zu ihnen gehört an erster Stelle Kardinal Christoph Schönborn. Auf die dezidierten Nachfragen von Journalisten, ob die in „Familiaris consortio“ Artikel 84 von Johannes Paul II. getroffenen Kriterien noch Gültigkeit haben, gab er keine bestätigende Auskunft. Er spricht von „organischer Entwicklung“ statt „Bruch“, von „Grauzonen“, die es schon immer gegeben habe, und davon, dass die Unterscheidung von regulären und irregulären Situationen künstlich sei und Menschen aus Patchwork-Familien verletzen könnte.
Der Theologe Christoph Münch bemühte sich an dieser Stelle des Vatican-magazins (Disputa Juni 2016), Klarheit in die Diskussion zu bringen. Er stellt fest, dass Papst Franziskus bei der Sakramentenordnung in „Amoris laetitia“ „über die bisher gültige Lehre hinaus“ geht. Dabei seien aber die nicht mehr an der Sexualität, sondern an der Klärung der Umstände im „Forum internum“ und an eine christliche Lebensführung anknüpfenden „Hürden für einen … rechtmässigen Kommunionempfang Wiederverheiratet-Geschiedener … so hoch gesetzt, wie sie höher kaum sein könnten“, so dass der „neue Weg … nur auf einen verschwindend geringen Teil der Betroffenen angewandt werden kann“. Der Schritt, den der Papst über die Tradition hinausgehe, sei „allenfalls ein kleines Schrittchen“. Davon, dass Papst Franziskus „das Spielfeld der katholischen Lehre überschreitet“, könne „zwar theoretisch, nicht aber praktisch gesprochen werden“.
Ist so ein „Schrittchen“ möglich? Kritikern dieser Entwicklung wird von kirchlichen Würdenträgern entgegengehalten, dass die Situationen komplex seien und es keine einfachen Lösungen gäbe. Wer will schon zu denen gehören, die „eine unerbittliche Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt“ (AL 308)?
In einem seiner letzten Interviews hat der altersweise Konrad Adenauer, angesprochen auf seinen Hang zu Vereinfachungen, gesagt, dass man die Dinge so tief sehen müsse, dass sie einfach werden. Wenn man nur an der Oberfläche der Dinge bleibe, seien sie nicht einfach, aber wenn man in die Tiefe sehe, dann sehe man das Wirkliche, und das sei immer einfach.
Als Psychiater und Psychotherapeut bin ich seit Jahrzehnten täglich mit zahlreichen Lebensgeschichten, auch von mehr oder weniger katholischen Menschen konfrontiert. Es würde mir nicht schwer fallen, ein Buch über die Schicksale von katholischen Christen zu schreiben, die sich in einer irregulären Lebenssituation befinden. Schicksale, die so berührend sind, dass kaum ein Mensch geneigt wäre, mit dem Finger auf „Todsünder“ zu zeigen, ganz abgesehen davon, dass die „schwerwiegende Materie“, um die es geht, alleine für das Zustandekommen einer anrechenbaren schweren Sünde nicht ausreicht (KKK 1857). Nur ein Teil dieser Fälle liesse sich durch kirchliche Annullierung einer sakramentalen Ehe lösen. Als Psychotherapeut im säkularen Raum begleite ich diese Menschen und als Priester würde ich sie sicher auch in erster Linie begleiten, mit viel Geduld und Verständnis. Meine eigene Lebensgeschichte verlief keineswegs glatt und ich schreibe es mehr einer glücklichen Fügung als meinen eigenen Bemühungen zu, dass ich in einer sakramental gültig geschlossenen Ehe leben darf.
Dem heute gängigen Verständnis von Sexualität als einem Konsumgut steht eine Sichtweise gegenüber, nach der menschliche Sexualität Ausdruck der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau auf biologischer, leiblicher, seelischer und personaler Ebene ist, „ein Realsymbol für die Hingabe der ganzen Person“ (FC Art. 80). Da Vergangenheit und Zukunft zur Identität des Menschen gehören, bedeutet einen anderen anzunehmen, seine Vergangenheit und Zukunft anzunehmen. Deshalb ist für die Qualität und Würde der sexuellen Vereinigung ihr Kontext wesentlich. Es ist eine Illusion zu meinen, echte Hingabe in der Sexualität könne sich unter Ausschluss der zeitlichen Dimension des Menschen verwirklichen. Es geht um „menschliche Personen … deren Würde verlangt, dass sie für immer und ausschliesslich das Ziel liebender Hingabe sind, ohne jegliche zeitliche oder sonstige Begrenzung“ (FC Art. 80).
So betrachtet weist die Struktur der menschlichen Sexualität auf eine ihr entsprechende, verbindliche Lebensform hin, die die Annahme des anderen als Person in der sexuellen Vereinigung erst ermöglicht. Im freien Jawort der Ehe findet diese Verbindlichkeit ihren Ausdruck. Die Ehe ist der Rahmen, in dem sich die Liebe der Partner entfalten und reifen kann. Die sexuelle Vereinigung ist so besehen Sprache des Leibes mit Bedeutung. Eine Bedeutung, die aus der Sicht des Glaubens den Charakter eines Sakraments haben kann, so dass es sinnvoll ist, jede eheliche sexuelle Vereinigung als eine Erneuerung des Eheversprechens zu verstehen. Annahme der Person bedeutet dann aber auch Treue und Verzicht auf Sexualität, wo dies die Rücksicht auf den Partner oder auf sonstige Umstände erfordert. Menschliche Sexualität schliesst Verzicht und damit das Bemühen um Freiheit gegenüber dem Geschlechtstrieb mit ein, wenn sie menschlich bleiben will. Die Liebe zwischen Mann und Frau zeigt sich eingebettet in natürliche, sich ergänzende Verschiedenheit. Über die Bildung von Ehe und Familie wird sie zum Eckstein für das Gefüge des generationenübergreifenden menschlichen Lebens.
Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Sichtweise wird es nachvollziehbar, dass die Kirche jede Form sexueller Aktivität, die hinter dem aufgezeigten Telos menschlicher Sexualität zurückbleibt, objektiv als eine Verletzung der Würde, als Sünde ansieht. Dazu gehören unter anderem Selbstbefriedigung, vor- und ausserehelicher Geschlechtsverkehr, die Verwendung von Verhütungsmitteln, die immer die Sexualität irgendwie vergegenständlichen, oder auch homosexuelle Verhaltensweisen. Es wird zudem deutlich, dass das Verständnis der Kirche für die Schwäche des Menschen in Sachen Sexualität (vgl. Mt 19, 10–12; 1 Kor 7, 9 oder Befriedigung des Geschlechtstriebs als Eheziel im alten Kirchenrecht) gegenüber den durch die positive Bestimmung der menschlichen Sexualität gesetzten Grenzen im Umgang mit der Sexualität nachrangige Bedeutung hat und diese nicht aufheben kann. Wir haben es hier mit dem Wesen dessen zu tun, was mit „actus intrinsiece malus“ gemeint ist, nämlich mit schlechten Handlungen, die nicht durch Absicht und Umstände in gute Handlungen verwandelt werden können (vgl. Thomas v. Aquin, Sum. Theol. I-II q. 18,4; als kirchliche Lehre bestätigt von Johannes Paul II. in „Veritatis splendor“, Art. 80). Kardinal Schönborn sagt in seinem jüngsten Interview mit der römischen Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“, dass man den „Übergang von der allgemeinen Regel zu den ,bestimmten Fällen’ … nicht nur durch Berücksichtigung formaler Situationen machen“ könne. Es sei „daher möglich, dass in bestimmten Fällen jener, der sich in einer objektiven Situation der Sünde befindet, die Hilfe der Sakramente empfangen kann“. Wenn Schönborn mit „formalen Situationen“ das Stattfinden oder nicht Stattfinden von Sexualität meint, ist darauf aufmerksam zu machen, dass man bei sexuellen Handlungen gerade nicht zwischen allgemeiner Regel und konkreten Fällen unterscheiden kann, da bei der menschlichen Sexualität das Allgemeine, nämlich die Natur des Menschen, sich im konkreten Menschen manifestiert. Konkrete sexuelle Verhaltensweisen an der Natur des Menschen zu messen, bedeutet eben nicht, nur „formale Situationen“ zu berücksichtigen.
Auch die in „Amoris laetitia“ 305 zitierte Äusserung der internationalen Theologenkommission, dass das „natürliche Sittengesetz … nicht … als eine schon bestehende Gesamtheit aus Regeln, die sich a priori dem sittlichen Subjekt auferlegen, sondern … (als) eine objektive Inspirationsquelle für ein höchst personales Vorgehen der Entscheidungsfindung“ vorgestellt werden solle, greift nicht, wenn es um Handlungen geht, die unter keinen Umständen als gut anzusehen sind. Auch kann man nicht, wie dies der Innsbrucker Dogmatiker Willibald Sandler in einem Beitrag auf kath.net tat, die Enthaltung von sexuellen Akten als Voraussetzung für den Sakramentenempfang bei irregulären Situationen wie zum Beispiel zivil wiederverheirateten Geschiedenen  mit dem Hinweis darauf relativieren, dass es ja auch andere, nicht sexuelle Formen ehelicher Verbundenheit gäbe, die in „Familiaris consortio“ für einen Sakramentenempfang akzeptiert würden, und so Johannes Paul II. bereits eine wesentliche Grenze überschritten habe, die jetzt lediglich ihre Fortsetzung finde. Persönliche Nähe zu anderen Menschen im Geflecht des „Ordo amoris“ sind Fragen des eigenen Gewissens und individuell zu beurteilen. Sexuelle Vereinigung hingegen ist etwas Objektives und immer Sprache des Leibes mit Bedeutung. Eine Änderung in der Praxis der Sakramentenspendung in diesem Punkt stellt daher keine Weiterentwicklung von „Familiaris consortio“ dar, sondern einen Bruch mit ihrer wesentlichen anthropologischen und theologischen Lehre über die menschliche Ehe und Sexualität und kann sich schon gar nicht auf Thomas von Aquin berufen.
Es wird immer wieder eingewandt, dass die angeführten anthropologischen und theologischen Überlegungen zwar richtig sind, Gottes Barmherzigkeit aber nicht an die gezeigten Grenzen gebunden ist, sondern an das je konkrete Leben und die Disposition des Einzelnen anknüpft. Dabei wird auf den Satz in „Amoris laetitia“ 305 verwiesen, nachdem es sein kann, dass Gläubige „aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren … mitten in einer objektiven Situation der Sünde … in der Gnade Gottes leben … und … im Leben der Gnade und der Liebe wachsen“ könnten. Diese Aussage mag zwar theoretisch stimmen, da aber Gott den Menschen besser kennt als dieser sich selbst, steht es uns nicht zu, so etwas für eine konkrete Situation der Unordnung zu behaupten. Die leibliche Vereinigung zwischen Mann und Frau hat in der christlichen Anthropologie die Bedeutung einer Besiegelung ihres Bundes. Auch das Wort der Lossprechung in der Beichte, insbesondere aber die Eucharistie als eine Art leiblicher Vereinigung des Gläubigen mit Christus, stellt eine Besiegelung des Bundes mit dem lebendigen Gott dar. Der Empfang der Kommunion ist ein objektiver Akt, bei dem sich Gott in gewissem Sinne „zwingen“ lässt. Es bedarf daher vorher der verantwortlichen Selbstprüfung hinsichtlich der eigenen Disposition und schwerwiegender Sünden, die zuvor noch bereut und gebeichtet werden müssen (vgl. 1 Kor 11, 28).
Bei Vorliegen einer anhaltend objektiv ungeordneten, dem Gebot widersprechenden Lebenssituation, in der die Betroffenen keinen Ausweg für sich sehen, sich vielleicht auch subjektiv nicht schuldig fühlen und der Seelsorger voller Verständnis ist, kann auf die Barmherzigkeit Gottes gehofft, ja vertraut werden. Das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes bedeutet in solchen Fällen aber gerade nicht, den Zustand, in dem man lebt, selbst zu exkulpieren und, darin verharrend, zur Beichte und Kommunion zu gehen, sondern eine Haltung der Ehrfurcht, aus der heraus man Gottes Urteil nicht vorgreifen will. Man kann Gottes Barmherzigkeit nämlich nicht dekretieren, das wäre eine Anmassung.
Die Empfehlung der Kirche zur „geistlichen Kommunion“ für die Betroffenen stellt insofern keinen Widerspruch zum Gesagten dar, als hier eine Sehnsucht des Gläubigen nach Vereinigung mit Christus in der Anbetung zum Ausdruck kommt, bei der nichts besiegelt und das letzte Urteil Christus überlassen wird. Diese Haltung bedeutet Ehrfurcht vor der Heiligkeit Gottes. Die Beichte mit Lossprechung und der Empfang der Kommunion für Menschen, die in fortlaufenden und gewollten sexuellen Beziehungen ausserhalb einer sakramental geschlossenen Ehe leben, stellt hingegen eine Grenzüberschreitung gegenüber dem Urteil Christi dar, bei der das subjektive Urteil des Spenders und des Empfängers über die objektive Situation gestellt und von beiden positiv sanktioniert wird. Das abzulehnen hat nichts mit Unbarmherzigkeit zu tun. Die Kirche hat für solch eine Sakramentenspendung  keine Vollmacht. Hier sei auch angefügt, dass es bei einer solchen Subjektivierung der Zulassungsbedingungen zu den Sakramenten kein Argument gibt, warum diese nur zivil Wiederverheirateten Geschiedenen und nicht auch Gläubigen, die in anderen Formen sexueller Beziehungen leben, zuteilwerden sollte. Der Papst selbst spricht in „Amoris laetita“ an den entscheidenden Stellen keineswegs von wiederverheiratet Geschiedenen, sondern nur allgemein von Menschen in „irregulären Situationen“.
Der Sinn einer eher würdigenden Sichtweise von Menschen in irregulären Situationen, die sich bemühen, ihrem Leben und dem ihrer Familie Gestalt zu geben, scheint unmittelbar einleuchtend. Hier hat „Amoris laetitia“ sicher seinen Verdienst und manche lehramtliche Äusserung und Pastoral in der Vergangenheit erscheint in einem düsteren Licht. Dennoch gibt es Grenzen dieser Perspektive. Der Glaube ist keine pädagogische Veranstaltung, sondern etwas Lebendiges, ein Beziehungsgeschehen, bei dem der Mensch mit dem lebendigen Gott in Berührung kommt. Deshalb kommt man bei der Frage nach der Gradualität menschlicher Bemühungen um eine Annäherung an die Gebote Gottes um den Begriff der Sünde nicht herum. Andernfalls gerät man in eine andere Distanz und Kälte, nämlich Gott gegenüber. Johannes Paul II. schreibt in „Familiaris consortio“ 34, dass die Eheleute „das Gesetz nicht als ein reines Ideal auffassen (sollen), das es in Zukunft einmal zu erreichen gelte, sondern … als ein Gebot Christi, die Schwierigkeiten mit aller Kraft zu überwinden“. Im Folgenden verweist er auf das Kreuz, das es zu tragen gilt. Der ganze Bereich der Beziehungen, insbesondere der Sexualität, betrifft die Würde des Menschen, seine Freiheit und sein Personsein. Er hat etwas mit dem Leib als „Tempel Gottes“ zu tun, zu dem der Mensch berufen ist (vgl. 1 Kor 6, 19). Jede Verletzung dieses Bereichs, und mag sie noch so oft vorkommen, ist daher auch eine Verletzung der Beziehung zu Gott. Sie braucht immer wieder Reinigung und Umkehr. Der Aspekt der Sünde ist es auch, der erst die Reue ermöglicht. Was ist zum Beispiel mit einem Paar, das unehelich zusammenlebt, neu zum Glauben findet und heiratet? Jetzt gehen ihnen die Augen auf und sie bereuen, dass sie sich nicht gegenseitig von Gott haben schenken lassen, sondern ohne das bewusste eheliche Ja in ihre intime Beziehung hineingeschlittert sind.
Der einseitig betonte Aspekt der Gradualität und die Bezeichnung der christlichen Lebensordnung als ein Ideal ermöglichen vielleicht eine Reflexion auf das mehr oder weniger gelungene eigene seelische Wachstum, verstellt aber den Blick auf das Drama des Menschen im Angesicht der Heiligkeit Gottes, auf Sünde, Gnade, Reue und Umkehr. Der Begriff der Gradualität hat also mit Blick auf die christliche Lebensordnung nur dann seine Berechtigung, wenn er zum Begriff der Sünde in Beziehung gesetzt wird. In Bezug auf die menschliche Sexualität lässt sich die Spannung zwischen der psychologischen Perspektive und der Perspektive des Glaubens nicht glätten. Das ist offensichtlich eine Folge der Erbsünde. Statt Glättungsversuche durch Aufweichung der Sakramentenordnung wären vielmehr Phantasie und Kreativität im Umgang mit Gläubigen in irregulären Situationen gefragt. Wie wäre es mit der behutsamen Etablierung einer nichtsakramentalen Beichte, in der um Vergebung gebetet und der Segen gespendet wird? Warum nicht das Antidoron, das geweihte Brot, aus der Ostliturgie in die lateinische Liturgie übernehmen?
Die Behauptung, dass trotz Lockerung der Sakramentenordnung, nämlich durch die in „Amoris laetitia“ vorgesehene Prüfung des Gewissens und der Umstände, die Hürden für einen Kommunionempfang eher angehoben statt gesenkt würden, die Lockerung somit nur einen kleinen Teil der Betroffenen betreffe und daher nicht mit einer wesentlichen Ausweitung der Sakramentenspendung über die bisher bestehenden Grenzen hinaus zu rechnen sei, zeugt von einer gewissen Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Gesetze des slippery slope, der schiefen Ebene. Beispiele hierfür gibt es zuhauf. Ein Blick auf die Änderung des Freitagsopfers ist nur eines von vielen. Damals wollte man das generelle Fleischverbot zugunsten eines individuellen Freitagsopfers, das dem Einzelnen viel mehr abverlangen würde, aufheben. Heute weiss kaum noch ein Katholik, was ein Freitagsopfer ist.

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