Unfall der Demokratie

‘Anders als viele Medien meinen’

Stefan RehderVon Stefan Rehder

Die Tagespost, 9. März 2016

Von Stefan Rehder

Wenn an diesem Sonntag in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt neue Landtage gewählt wird, werden landespolitische Themen absurderweise keine Rolle spielen. Ob in Baden-Württemberg die Schuldenbremse in der Landesverfassung festgeschrieben wird, die Veranstalter sogenannter „Risikospiele“ künftig an den Kosten der Polizeieinsätze gegen Hooligans beteiligt werden oder das Tanzverbot am Karfreitag erhalten bleibt, wird nicht wahlentscheidend sein.

Ob in Rheinland-Pfalz künftig der ökologischen Weinbau und die Wärmedämmung von Häusern staatlich gefördert, oder Rechtschreibung in den ersten beiden Schuljahren weiter „nach Gehör“ unterrichtet wird, wird den Urnengang genauso wenig beeinflussen, wie ob in Sachsen-Anhalt der Ausbau des flächendeckenden Mobilfunknetzes subventioniert, der Braunkohleabbau gestoppt oder die Empfehlung der Grundschule für den Besuch weiterführender Schulen wieder für verbindlich erachtet wird. Denn abstimmen werden die knapp 13 Millionen Wahlberechtigten in Baden-Württemberg (rund 7,7 Millionen), Rheinland-Pfalz (rund 3,1 Millionen) und Sachsen-Anhalt (rund 1,9 Millionen) in erster Linie über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, die seit Sommer letzten Jahres sämtliche landespolitische Themen überlagert.

Es mag wie ein Unfall der Demokratie erscheinen, aber am 13. März befinden die Baden-Württemberger, Rheinland-Pfälzer und Sachsen-Anhaltiner nicht „nur“ über die Fortsetzung oder den Sturz der rot-grünen Landesregierungen in Stuttgart und Mainz sowie der schwarz-roten Koalition in Magdeburg, sondern – in einer Art Scherbengericht – auch über die Weichenstellungen der Politik im Bund, die eigentlich erst im Herbst 2017 zur Wahl stehen sollte. Denn auch vier Tage vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt kann niemand vorhersagen, welche Schäden das politische Erdbeben in Berlin hervorrufen wird, das zu erwarten ist, wenn die AfD – wie prognostiziert – tatsächlich am Sonntag in alle drei Landtage einziehen würde. Nicht einmal wie stark die AfD dort jeweils vertreten sein wird, lässt sich halbwegs gesichert vorhersagen, da sich jüngsten Umfragen zufolge erst rund 50 Prozent der Wahlberechtigten entschieden haben, wem sie am „Super-Sonntag“ ihre Stimme geben wollen.

Klar ist heute nur, je geringer die Wahlbeteiligung ausfällt, desto stärker wird die AfD aus den Wahlen hervorgehen, da sie als Einzige mit der maximalen Mobilisierung ihrer Klientel rechnen darf. Prozentual zu den Prozentpunkten, die die AfD auf die Waage bringt, wird der inner- und ausserparteiliche Druck auf Angela Merkel und Sigmar Gabriel zunehmen, einen anderen Kurs in der Flüchtlingspolitik einzuschlagen. Während die Kanzlerin bis zum Äussersten entschlossen wirkt, hat Gabriel mit der Forderung nach einem „Solidaritätsprojekt“ Zweifel an seinen Steherqualitäten aufkommen lassen. Damit hat der Instinktpolitiker, der das schwächste Glied in der Führungsriege der Grossen Koalition darstellt, jedoch zugleich auch einen Schlüssel für ein besseres Verständnis vieler AfD-Wähler geliefert. Denn anders als viele Medien meinen, ist es weniger eine prinzipielle Fremdenfeindlichkeit als vielmehr eine massive Verlustangst, die der AfD die Wähler in die Arme treibt.

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