Täter, Taten und Opfer benennen

Vor unserer Haustüre, vor unseren Augen findet eine apokalyptisch anmutende Tragödie statt

Von Stephan Baier

Die Tagespost, 1. Februar 2016

Vor unserer Haustüre, vor unseren Augen findet eine apokalyptisch anmutende Tragödie statt: Seit 2011 tobt ein grausamer Krieg um Syrien, in dem Söldner und Sadisten aus vielen Ländern vertreiben, vergewaltigen und morden. Die Tränen einer Mutter um ihr getötetes Kind, der Schmerz einer misshandelten Frau, das Leid einer traumatisierten, heimatlos gewordenen Familie darf nicht nach Volks- oder Konfessionszugehörigkeit gemessen und gewogen werden. Christen kann es nie darum gehen, nur “unsere Leute“ zu retten und alle anderen verenden, verrecken oder ersaufen zu lassen: Das würde das Christentum zu einer Partei degradieren und die jahrhundertelange Rolle der orientalischen Christen als “Licht der Welt“ inmitten muslimischer Mehrheitsgesellschaften – als “Kirche im Islam“, wie Patriarch Gregorios III. im Interview mit dieser Zeitung formulierte – diskreditieren.

Dennoch können Christen nicht die Augen davor verschliessen, dass die vielköpfige Hydra eines islamistischen Totalitarismus heute gezielt versucht, das Evangelium Christi zum Verstummen zu bringen. In Syrien, einem Kernland der Bibel und der frühen Kirche, geht die Christenheit heute den Kreuzweg, die Christus-Nachfolge bis in den Tod. Diesen Genozid beim Namen zu nennen, ihn zu stoppen und zu ahnden ist das Mindeste, was Christen von jenen Staaten fordern sollten, die behaupten, Rechtsstaaten zu sein und auf Werten zu gründen. Die Zeiten, da sich Staaten Europas als Schutzmacht der Christen im Orient verstanden – etwa Frankreich für die Maroniten, Russland für die Orthodoxen – sind lange vorbei. Diese Rolle war nicht immer hilfreich, und zudem vergiftet durch Eigeninteressen. Angesichts der heutigen Mörderbanden, die den Orient verwüsten und aus einem ethnisch wie religiös vielfältigen Landstrich einen totalitären Terrorstaat formen wollen, müssen die Täter, die Taten und die Opfer beim Namen genannt werden.

Die Parlamentarische Versammlung des 47 Staaten repräsentierenden Europarats hat in der Vorwoche die Täter (den “Islamischen Staat” und andere Gruppen) sowie die Taten (“Genozid“) beim Namen genannt – nicht aber die Opfer. Das Europäische Parlament geht in dieser Woche einen Schritt weiter: Das Parlament der EU wird am Donnerstag eine Resolution über den “vom IS verübten systematischen Massenmord an religiösen Minderheiten” verabschieden, in der der Genozid an Christen, Jesiden, Turkmenen und Schiiten beim Namen genannt wird. In seltener Einmütigkeit haben alle sieben von den Fraktionen eingereichten Anträge die Formulierung “Genozid” gewählt, die das Ausmass der Tragödie in Syrien zutreffend beschreibt – und die völkerrechtliche Folgen hat.

Erst wenn die Staaten Europas erkennen und korrekt benennen, was derzeit in Nahost geschieht, können sie auch ihre Verantwortung wahrnehmen. Doch wenn der weithin zur Fiktion verkommene “Westen” den Genozid nicht stoppt, dann werden die Glocken im Orient verstummen, dann werden alle Minderheiten sterben oder emigrieren, dann wird der Krieg um Syrien nur der Auftakt für einen Dreissigjährigen Krieg um die Macht und Deutungshoheit in der islamischen Welt sein, dann werden auch Syriens Nachbarstaaten kollabieren, dann wird der Raum des östlichen Mittelmeers zum Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts.

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