“Familie hat Vorrang vor Gemeinde”

Bischöfe treffen in Jordanien christliche Flüchtlinge aus dem Irak – Dabei begegnen sie einem Dilemma

Von Oliver Maksan

Die Tagespost, 13. Januar 2016

Grossmutter Ilham hält ihren wenige Monate alten Enkel auf dem Arm. Der kleine Marlin lächelt und strampelt lebhaft. Es geht ihm offensichtlich gut. “Er wurde hier in Jordanien geboren. Gott sei Dank wird er nie im Irak leben müssen.” Seit über einem Jahr lebt Witwe Ilham mit ihrem Sohn und dessen kleiner Familie jetzt in Jordaniens Hauptstadt Amman. König Abdullah hat in einer bewussten Geste 8 000 christlichen Irakern 2014 die unbürokratische Einreise in sein Reich ermöglicht. Damit wollte der aufgeschlossene Monarch ein Zeichen setzen.

Grossmutter Ilham ist dem König dankbar. “Im Irak haben wir keine Zukunft. Es ist ja nicht nur Daesch (die Terrorgruppe “Islamischer Staat”, A.d.R.). Wir können auch mit unseren muslimischen Nachbarn nicht mehr zusammenleben, nachdem sie uns bestohlen und sich mit Daesch verbündet haben.” Die Frau, die in der seit August 2014 vom IS besetzten Niniveh-Ebene lebte und als Englischlehrerin arbeitete, will nur noch weg aus dem Nahen Osten. “Für uns Christen gibt es in der arabischen Welt keinen Platz. Auch hier in Jordanien nicht. Wer weiss, was passiert, wenn der König einmal nicht mehr da ist? Kommen die Dschihadisten dann auch hierher? Uns ist jedes Land recht, das uns aufnimmt.”

Christliche Stimmen wie diese haben die katholischen Bischöfe aus aller Welt, die am Jordanienbesuch der Heilig-Land-Koordination teilnahmen, in diesen Tagen viele gehört. Alle christlichen Flüchtlinge aus dem Irak betrachten Jordanien nur als Transitland auf dem Weg nach Australien, Kanada oder in ein anderes Land, in dem sie Aufnahme finden. Doch schnell geht es nicht. “Von den 450 Familien, um die ich mich kümmere, konnten erst zwei Familien nach Australien ausreisen. Der Rest sitzt hier fest.” Pater Khalil Jaar ist Priester des Lateinischen Patriarchats. In Amman hat er in seiner Pfarrei ein Zentrum für Flüchtlingshilfe aufgebaut. Gegenüber den Bischöfen aus aller Welt, die wie jedes Jahr das Heilige Land aus Solidarität mit den Christen dort besuchen, kritisiert Pater Khalil bei einem Treffen in Amman scharf die Praxis des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Dieses ist zuständig dafür, die registrierten Flüchtlinge nach bestimmten Kriterien auf aufnahmebereite Staaten zu verteilen. “Irakische Christen werden von UNHCR nicht beachtet. Sie werden im Irak verfolgt und fühlen sich auch hier nicht gerecht behandelt. Kaum jemand konnte bisher ausreisen. Und trotz meiner häufigen Einladungen hat sich bislang auch niemand von UNHCR bei uns in der Pfarrei blicken lassen.” Syrische Flüchtlinge in Jordanien würden bevorzugt behandelt, klagt Pater Khalil. Und ausserdem, das habe ihm ein UN-Vertreter in einem Gespräch einmal gesagt, wolle UNHCR keinen Unterschied wegen der Religion machen. Ein anwesender UN-Mitarbeiter gibt zu bedenken, dass sich die Agenturen der Vereinten Nationen einer gewaltigen Krise gegenübersähen. Immerhin seien allein in Jordanien 1,2 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge registriert, darunter etwa auch 10 000 Christen. Das bringe die UN an ihre Kapazitätsgrenzen. Das könne schon sein, sagt ein Vertreter von CNEWA, einem von Papst Pius XII. gegründeten Flüchtlingshilfswerk für den Nahen Osten. Doch seien die christlichen Flüchtlinge aus dem Irak besonders hilfsbedürftig. Anders als syrische Flüchtlinge, die wegen des Krieges nur vorübergehend nicht in ihrer Heimat leben könnten, sei es für die irakischen Flüchtlinge auf Dauer unmöglich, zurückzukehren. Sie müssten deshalb von den Vereinten Nationen prioritär behandelt werden. In der Zwischenzeit, so der CNEWA-Vertreter, bemühe er sich um Englisch-Kurse für die Flüchtlinge. “Sie sprechen ja oft kein oder kaum Englisch. So wird aber ein Neuanfang in Australien oder Kanada sehr schwierig.”

Vorläufig aber müssen die Menschen mit ihrem Alltag in Jordanien zurechtkommen. Und der ist alles andere als einfach. Arbeiten dürfen sie offiziell nicht. Die Ersparnisse sind meist aufgebraucht. Immer mehr Familien bitten Pater Khalil deshalb um Hilfe. “Wir sind unserem König dankbar, dass er die Christen aufgenommen hat. Und die Sicherheitskräfte fragen immer wieder, ob bei uns alles in Ordnung ist. Abgesehen davon bekommen wir vom Staat nichts. Wir müssen für alle Kosten selbst aufkommen. Zum Glück helfen uns Hilfswerke wie ‘Kirche in Not‘ und andere.” Viele Wohnungen hat er für die Flüchtlinge angemietet. In die grossen Flüchtlingslager trauen sich die Christen nicht. Das wäre zu gefährlich. In Apartments, die normalerweise für eine Familie gebaut sind, leben deshalb oft zwei und mehr. “Aber die Leute beklagen sich nicht. Sie sind dankbar”, sagt Pfarrer Khalil. Er organisiert ausserdem Nahrung und Kleidung für die christlichen Familien. “Anfangs haben wir noch Lebensmittelpakete ausgegeben. Das machen wir nicht mehr. Die Leute bekommen jetzt Gutscheine von uns, mit denen sie sich dann kaufen können, was sie brauchen. Wir wollen ihnen das Gefühl von Würde und Selbstbestimmtheit zurückgeben.”

Bei der Diskussion der Vertreter der Hilfsorganisationen mit den Bischöfen kam auch das Dilemma zur Sprache, das alle kirchliche Flüchtlingsarbeit durchzieht: Wie kann man dem Wunsch der Christen nach einem Neuanfang im Westen gerecht werden, ohne gleichzeitig Hilfestellung zu einem christlichen Exodus zu leisten? Ein Vertreter der Apostolischen Nuntiatur in Amman gab zu bedenken, dass eine uralte christliche Tradition zu verschwinden drohe. “Wenn die Menschen in die USA oder wohin auch immer gehen, dann bleiben sie ihrer chaldäischen oder syrischen Tradition meist nicht treu”, so der Monsignore. “Das verliert sich. Wer weiterhin zur Kirche geht, geht dann beispielsweise in eine römisch-katholische. Häufig schliessen sie sich auch den Evangelikalen an. Eine ganze Kultur verschwindet.” “Ich verstehe das sehr gut”, meint ein britischer Bischof in seiner Erwiderung. “Aber vor Kirchenstruktur und kultureller Gemeinschaft geht die einzelne Familie. Sie hat meiner Meinung nach Vorrang. Und wenn die Menschen für sich keine Zukunft im Nahen Osten sehen, müssen wir ihnen helfen, woanders ein neues Leben aufzubauen.”

Tatsächlich haben sich die Bischöfe bei einer Pressekonferenz dafür stark gemacht, dass westliche Länder dem Beispiel Jordaniens folgen und grosszügig Flüchtlinge aufnehmen. Doch das sehen manche Vertreter von Hilfsorganisationen nicht uneingeschränkt als richtig an. Ein Mitarbeiter einer italienischen Organisation gab den Bischöfen zu bedenken, dass der Neuanfang im Westen extrem schwierig sein könne, egal, ob es sich um Christen oder Moslems handele. “Ich weiss nicht, ob es für einen Landarbeiter aus dem ländlichen Syrien wirklich gut ist, wenn er nach Europa geht. Das könnte mehr Probleme schaffen, als es löst.” Und ein Vertreter der jordanischen Caritas meinte, dass der Westen überhaupt keine Christen aufnehmen solle, ansonsten drohe der christliche Orient zu verschwinden. Pfarrer Khalil hingegen versteht den Wunsch der Menschen. “Meine Flüchtlinge sind grossartige Leute. Glücklich das Land, das sie aufnehmen kann.”

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