Erdogans neue Freunde in Europa

Für Recep Tayyip Erdogan geht es bei den Neuwahlen am kommenden Sonntag um viel:

Die Tagespost, 28. Oktober 2015

Von Stephan Baier

Der erfolgsverwöhnte türkische Staatspräsident will, dass seine AKP die absolute Mehrheit, die sie bei der Parlamentswahl am 7. Juni verlor, zurückerobert. Das nämlich ist die Voraussetzung für seine seit langem angestrebte Verfassungsreform, mit der Erdogan ein Präsidialsystem in der Türkei etablieren möchte. Mehr noch: Der aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa stammende Erdogan, dessen Vater Küstenschiffer am Bosporus war, ist nicht in die Politik gegangen, um sein Land ein paar Jahre mehr oder weniger erfolgreich zu regieren und zu repräsentieren, sondern um die Türkei zu prägen, der Republik eine neue Gestalt zu geben.

Und das ist ihm, trotz aller Rückschläge, bis zum 7. Juni 2015 durchaus gelungen. Auch Kritiker räumen ein, dass kein Politiker seit dem Gründer der Republik, Mustafa Kemal Atatürk, die Türkei so tiefgreifend geprägt hat, wie der frühere Bürgermeister Istanbuls, Erdogan. Viele nennen ihn gar, mehr bewundernd als spöttisch, den “Sultan”.

Dass ein Religiöser, der einst gegen das kemalistische Establishment aufstand und 1998 zu einer Gefängnisstrafe und lebenslangem Politikverbot verurteilt worden war, 2002 mit seiner “Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung” (AKP) einen fulminanten Wahlsieg schaffte, dass er ab 2003 als Ministerpräsident die türkische Wirtschaft sanierte und die mächtigen Generäle domestizierte, dass er eine neue, “neo-osmanische“ Aussenpolitik erfand und die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen erreichte, dass er nach elf Jahren als Regierungschef auch der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident wurde – all das würde reichen, ihm einen Platz in der türkischen Geschichte zu sichern.

Doch am 7. Juni verlor Erdogans AKP die absolute Mehrheit, nachdem die pro-kurdische “Demokratische Partei der Völker“ (HDP) den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament schaffte. Viele Niederlagen hatte Erdogan in den vergangenen Jahren verkraften müssen: das Scheitern seiner auf Vermittlung und Dominanz angelegten Nachbarschaftspolitik, die ständige Kritik aus Brüssel, das Scheitern des von ihm unterstützten “arabischen Frühlings”. Jetzt aber gerät der Kern des Projekts in Gefahr: der Umbau der türkischen Republik. Die früher staatstragende kemalistische CHP nämlich sieht sich als Verteidigerin des türkischen Laizismus gegen die “religiöse“ AKP, und die nun erstarkte HDP war in die Wahl gegangen, um Erdogans Präsidialsystem zu verhindern. Zwei Tage nach der Wahlschlappe beauftragte Erdogan einen engen Vertrauten, den von ihm installierten AKP-Chef und Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Nur, um die Verhandlungen scheitern zu sehen, wie Skeptiker meinen. Am 24. August rief Erdogan Neuwahlen aus – diesmal um seine AKP wieder siegen zu sehen.

Begleitet werden die innenpolitischen Komplikationen von einer Welle der Gewalt: Selbstmordattentate, Ausschreitungen und Verhaftungswellen, Luftangriffe auf die kurdische PKK und den sunnitischen “Islamischen Staat“, Anschläge und hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte. Wenn Erdogan der PKK Vergeltung androht, “bis innerhalb unserer Grenzen kein einziger Terrorist übrig bleibt“, ist aus seiner Sicht auch die HDP mitgemeint, denn der Staatspräsident wirft seiner neuen Konkurrenz immer wieder eine Nähe zur verbotenen PKK vor.

All das wäre in anderen Zeiten viel Stoff für harsche Kritik aus Brüssel. Nicht erst seit der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 sehen es die EU-Kommission und das Europäische Parlament als ihre Pflicht, die Situation der Menschen- und Minderheitenrechte, der Presse- und Versammlungsfreiheit, die Gesetzgebung wie die Regierung in der Türkei maximal kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die “Fortschrittsberichte“ aus Brüssel gerieten im Fall der Türkei zuletzt zu Anklageschriften, die anstelle von Fortschritten bestenfalls Stillstand diagnostizierten. In anderen Zeiten würden jetzt Europas Politiker mit Mahnungen, Empfehlungen und Warnungen an die türkische Regierung nicht hinterm Berg halten. In anderen Zeiten wohlgemerkt, denn nie zuvor war den Granden Europas so sehr bewusst, dass die drängendste Krise Europas nur mit Hilfe der Türkei einigermassen gemanagt werden kann.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drängte am Dienstag im Europäischen Parlament in Strassburg vehement darauf, den Mitte Oktober erfundenen “Aktionsplan“ mit der Türkei schnell umzusetzen. Dass es Zweifel, Bedenken und Fragen zum Umgang mit der Türkei gebe, sei ihm durchaus bewusst, aber all das “bringt im Moment nichts“, so Juncker. Begründung: “Die Türkei ist einverstanden, dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei befinden, dort bleiben“.

Nicht nur die EU-Kommission, sondern auch die Staaten, die auf der Flüchtlingsroute liegen, hoffen nun darauf, dass die Türkei die aktuelle Völkerwanderung nach Europa stoppt. Sogar Alexis Tsipras, der Regierungschef des geradezu genetisch anti-türkischen Griechenlands, bejammerte beim Krisentreffen am Sonntag in Brüssel, dass “der entscheidende Partner“ nicht eingeladen wurde.

“Warum kontrolliert Griechenland nicht sein Seegebiet zur Türkei?“, fauchte Kroatiens Ministerpräsident Zoran Milanovic da. Die Antwort auf diese Frage ist in Ankara ebenso bekannt wie in Brüssel: Griechenland kann es einfach nicht. Zwei Lehren wurden am Sonntag aus dieser Einsicht gezogen: Einerseits wird der Schutz der EU-Außengrenzen immer mehr zur europäischen Aufgabe, insbesondere durch Ausweitung des Mandats und der Stärke der EU-Grenzschutzagentur “Frontex“, andererseits will Europa die Türkei dafür gut entlohnen, selbst den Grenzwächter Europas zu spielen.

“Ob es gefällt oder nicht gefällt, wir müssen mit der Türkei in gemeinsamer Anstrengung zusammenarbeiten“, formulierte dies Juncker am Dienstag in Strassburg. Man müsse nun “schnell und zügig mit der Türkei zu Vereinbarungen kommen, sonst wird die Lage schwieriger als sie schon ist“. Das ist nur realistisch: 2,5 Millionen “Gäste“ befinden sich aktuell in der Türkei. 2,2 Millionen von ihnen sind Flüchtlinge aus Syrien, die übrigen stammen grösstenteils aus dem Irak. Nicht zuletzt angesichts der vermehrten russischen Luftangriffe im Norden Syriens rechnen Experten nun mit weiteren Fluchtwellen über die syrisch-türkische Grenze. Ankara hat nach eigenen Angaben mittlerweile acht Milliarden Dollar für die Versorgung der Flüchtlinge – für Lager, Nahrung, Versorgung mit Wasser und Strom, für Kleidung, Decken und Schulen – ausgegeben, aber nur 500 Millionen Dollar an internationaler Hilfe hierfür erhalten.

“Die Türkei braucht drei Milliarden Euro“, meinte Juncker, und setzte hinzu, diese Mittel müssten die EU-Mitgliedstaaten eben aufbringen. Auch über Visa-Erleichterungen für die Türken und über eine Dynamisierung der stockenden Beitrittsverhandlungen wollen die Europäer nun mit Ankara handelseins werden. EU-Ratspräsident Donald Tusk machte am Dienstag vor dem Europäischen Parlament aber auch klar, dass Ankara den Europäern dafür die Kohlen aus dem Feuer holen muss: “Die Einigung mit der Türkei ist nur dann sinnvoll, wenn es dadurch gelingt, die Flüchtlingsströme einzudämmen.“

Auch die deutsche Bundeskanzlerin, die bekanntlich anstelle der EU-Mitgliedschaft eine “privilegierte Partnerschaft“ mit der Türkei favorisiert, vertrat jüngst bei ihren Gesprächen mit Erdogan und Davutoglu am Bosporus das beim EU-Gipfel festgezurrte Paket.

Und sogar Gianni Pittella, der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, versagte sich am Dienstag jede offene Kritik an Ankara. Gefragt, ob sich die EU jetzt von der Türkei erpressen lasse, meinte Pittella: “Wir verzichten nicht auf die Verteidigung unserer Werte.“ Man wolle der türkischen Regierung zwar keinen Blankoscheck ausstellen, aber “wir wollen die Türkei nicht alleine lassen, wenn es um die Flüchtlingskrise geht“. Gemeint ist umgekehrt: Europa ist bereit, alles zu tun, damit die Türkei uns in der Flüchtlingskrise nicht alleine lässt.

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