“Den Blick auf das Wesentliche richten”

Ein Gespräch mit dem Anden-Bischof Kay Martin Schmalhausen über die Seelsorge in den Regionen Lateinamerikas, die Papst Franziskus besucht

Von Guido Horst

Die Tagespost, 01. Juli 2015

Die arme Kirche für die Armen ist kein ökonomisches oder soziologisches Phänomen. Bischof Kay Martin Schmalhausen unterstreicht, dass die radikale Armut darin besteht, ohne Gott zu leben.

Bischof Kay Martin Schmalhausen wirkt in den peruanischen Anden. Im Norden liegt Ecuador, im Osten Bolivien, zwei Länder, die Papst Franziskus jetzt besucht. Im Gespräch schildert er die pastoralen Herausforderungen in dieser Region Lateinamerikas. Als Sohn eines deutschen Vaters und einer peruanischen Mutter wurde der heute 51 Jahre alte Schmalhausen 1989 zum Priester geweiht und 2006 von Benedikt XVI. zum Bischof der am Titicacasee gelegenen Territorialprälatur Ayaviri ernannt. Er gehört der geistlichen Gemeinschaft des “Sodalicio de Vida Cristiana” (SCV) an.

Von Europa aus betrachtet leben Sie in einem Randgebiet dieser Welt – in einer Ortskirche, die auch unter materiellen Engpässen leidet. Wie reagieren Sie da auf einen Papst aus Lateinamerika, der die Kirche auffordert, an die Peripherie zu gehen – und es selber auch tut –, und der sich eine arme Kirche für die Armen wünscht?

Peripherie und Armut sind zwei Aspekte unserer ortskirchlichen Wirklichkeit, die sozusagen zu unserem Alltag gehören. Unsere Teilkirche erstreckt sich über ein Gebiet mit einem fünftausend Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Hochland bis zu einem Urwald auf fünfhundert Metern Höhe, mit Temperaturen, die zwischen 35 Grad Celsius plus und 25 Grad minus schwanken. Fünfzig Prozent der Bevölkerung leben zwischen Armut und extremer Armut. Wir haben eine ältere Generation, die vom Terrorismus der achtziger und neunziger Jahre verletzt und teilweise traumatisiert ist. Zudem Jugendliche, die von der Geissel des Drogenhandels betroffen sind, und Kinder und Heranwachsende, die von der vielfältig verschwiegenen Gewalt in ihren Familien zerstört sind. Ich kann mit Gewissheit sagen, dass meine engagierten Priester, Ordensfrauen und Laien eingetaucht sind in jene nicht nur geografischen, sondern auch existenziellen Peripherien, auf die der Heilige Vater anspielt, um dort die Liebe Gottes hineinzutragen, die versöhnt und heilt. Darum ist die Thematik der Peripherien und der Armut, die im gegenwärtigen päpstlichen Lehramt – vielleicht unter einer neuartigen, etwas dringenderen Form – auftaucht, für uns kein Grund zur Überraschung oder Verunsicherung. Nichtsdestotrotz sollten wir, wenn wir den Ruf von Papst Franziskus vernehmen, eine arme Kirche für die Armen zu sein, die Versuchung einer bloss ökonomischen oder soziologischen Lesart meiden. Wichtig ist, von der Tatsache auszugehen, dass die Menschheit, ungeachtet ihres ganzen geschichtlichen und kulturellen Reichtums, ohne Gott radikal arm ist. Die Sünde, der Bruch mit Gott, ist die grösste Form von Armut. Manchmal vergessen wir, dass das die Quelle unzähligen Elends im Leben der Personen und Gesellschaften ist. Eine arme Kirche für die Armen ist deshalb die Gemeinschaft der Gläubigen, in der wir alle dem Bösen widersagen, wie es sich konkret auch nennen mag, um den Vorrang der Liebe Gottes zu empfangen und zu festigen, denn wir können nicht leben, ohne zu lieben.

Bei der letzten Familiensynode haben manche afrikanischen Synodenteilnehmer beklagt, dass die Weltkirche immer noch zu europäisch denkt. Wenn Sie an Ihre Prälatur Ayaviri denken: Was sind für Sie die Prioritäten in der Familien- und Ehepastoral?

In der Tat hat man in den letzten zwei Jahren einige Stimmen mit etwas exotischen Vorschlägen zu Ehe und Familie vernommen. Man hat zuweilen den Eindruck, dass manche ihre provinziellen Problemkreise universalisieren und sogar ihre unstimmigen Lösungsvorschläge aufzwingen möchten. Ganz klar ist, dass die säkularen Massenmedien diese Gelegenheiten sehr gut zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Nichtsdestotrotz bleibt immer die Frage, bis zu welchem Grad jene provinziellen Problemkreise bis zum heutigen Tag gerade deshalb überdauern, weil man sie zu ihrer Zeit nicht von Grund auf anpacken wollte, mit der ganzen stimmigen Logik des Glaubens, den pastoralen Lösungen, welche die Kirche selbst anbietet und die andernorts vielfach reiche Früchte bringen.

In der Pastoral ist eine Versuchung die des Wegs des geringsten Widerstandes: Die leichtesten Wege und Methoden zu suchen, die leider häufig mit weltlichen Rezepten deckungsgleich sind. Aber wir wissen, dass auf lange Sicht die Hypothek für alle riesig sein wird. Die von einigen afrikanischen Bischöfen ausgedrückte Sorge ist legitim. In unserer pastoralen Situation finden wir hinsichtlich Ehe und Familie einen besonderen Problemkreis vor. In den Anden gibt es neben einem verbreiteten religiösen Synkretismus die lange zurückreichende Gewohnheit des ungeregelten Zusammenlebens. Erst nach fünfzehn, zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren treten die Paare an uns heran, um das Sakrament der Ehe zu erbitten. Wir schätzen, dass vierzig Prozent der Bevölkerung keine standesamtliche Verbindung eingegangen sind. Mindestens fünfzig Prozent suchen nicht die sakramentale Ehe. Deshalb ist eine Grundpriorität, unseren Gläubigen, besonders den jungen, das genuin christliche Ideal des Ehesakramentes und der Familie zu erschliessen. Wenn Ehe und Familie bereits einen unantastbaren Wert von der Schöpfung her haben, so sind sie von Jesus Christus zu einer solchen Schönheit und Würde erhoben worden, dass wir gar nicht anders können, als sie in ihrem ganzen Glanz bekanntzumachen. Wir vergessen manchmal, dass Ehe und Familie in christlichem Verständnis Wege der Heiligkeit sind. Sie sind nicht nur das gute Wasser der Hochzeit zu Kana, sondern jener bessere, bis zuletzt aufgehobene Wein. Und ihre Grösse erfordert nicht weltliche pastorale Optionen, sondern solche, die gegen den Strom der falschen Modelle gerichtet sind, welche die Welt mit ihrer menschenfeindlichen Agenda aufzuzwingen versucht. Eine zweite Priorität ist die, unsere Familien auf einem Prozess der Bekehrung zu begleiten, der sie dazu führen soll, ihr Glaubensleben mit Kohärenz in die Hand zu nehmen. Auch hier liegt wegen des von mir bereits erwähnten religiösen Synkretismus viel Arbeit vor uns.

Bei Tagungen und akademischen Treffen in Rom heisst es oft, dass die katholische Kirche des 21. Jahrhunderts charismatischer wird. Dass sie Einflüsse aufnimmt, die aus der Pfingstbewegung und der evangelikalen Welt kommen. In Europa ist davon nichts oder nur sehr wenig zu spüren. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Manchmal wird der Begriff “Charisma” im Gegensatz zu “Institution” gebraucht. Diese antithetische Denkweise ist jedoch nicht katholisch. In der Kirche Jesu Christi sind beide Aspekte – Institution und Charisma – gegenwärtig und miteinander verbunden. Und wir Christen haben sie in jeder Generation immer wieder in unser Glaubensleben zu integrieren, damit beide zutiefst kirchliche Wirklichkeiten im Volk Gottes aufblühen können, zum Wohl der Kirche und der Menschheit. Manchmal hat man den Eindruck, dass Einschätzungen wie die, die Sie erwähnen und von denen wir hier ehrlicherweise nicht reden hören, eher Modeströmungen entsprechen, mit denen einige sich gern die Zeit vertreiben. Aber hier, in einer kirchlichen Wirklichkeit, in der wir inmitten so gewaltiger sozialer und pastoraler Anforderungen überleben – etwa Pfarrer mit zehn bis zwanzig zu betreuenden Dörfern, um nur ein Beispiel zu nennen –, haben wir für Zeitvertreib oder Moden einfach keine Zeit. Vielleicht ist dies eine Gnade, die der Herr uns schenkt: Hier gilt es, den Blick auf das Wesentliche zu richten. Die Kirche Jesu Christi, die Kirche, die Er gegründet hat und die in der katholischen Kirche fortbesteht, enthält den ganzen unergründlichen Reichtum seiner Offenbarung und alle Hilfsmittel seiner heilbringenden Liebe. Nach was sollen wir sonst noch Ausschau halten? Ich sehe nicht die Notwendigkeit, die Heilmittel aussen zu suchen und zu importieren, da wir sie zuhause haben und das überreichlich. Ich möchte damit nicht herabwürdigen, was die pfingstlerischen Gruppen vielleicht an religiöser Erfahrung entfaltet haben. Aber die einen sagten uns aufgrund einer falsch verstandenen Ökumene, wir müssen mehr wie die Protestanten sein; die anderen sagen uns jetzt, mehr wie die Pfingstler. Wieder andere sagten uns in vergangenen Jahrzehnten: “Seid offener für die Welt!” Wo sind die Früchte dieser Strömungen? Besteht unsere Herausforderung nicht womöglich darin, tiefer christlich, vollständiger Jesus Christus und seiner Kirche zugehörig zu sein? Inmitten all dieser Identitätsverwirrung, die wir heute erleben, die genährt wird vom herrschenden Relativismus, denke ich, dass es unsere Herausforderung als Hirten in Gemeinschaft mit dem ganzen Volk Gottes ist, die anderen christlichen Gemeinschaften und Konfessionen gewiss zu achten, aber vor allem unsere Identität als Glieder der katholischen Kirche zu festigen.

Ehe und Familie sind jetzt das Thema von zwei Bischofssynoden in Rom. Eingebettet ist das aber in das grosse Gebot der Stunde, die Neuevangelisierung. Wie spielt sich das ganz praktisch in Ihrem Zuständigkeitsbereich ab?

In mein Bischofswappen habe ich, als ich zum Bischof ernannt worden bin, das Kreuz der Neuevangelisierung eingeschlossen. Ich hatte und habe immer noch den Eindruck, dass dies weiterhin die grosse Herausforderung für die Kirche heute ist. Als ich letztes Jahr von den pastoralen Vorschlägen hörte – Segnung gleichgeschlechtlicher Verbindungen, Kommunion für die in zweiter Verbindung lebenden Geschiedenen und so weiter –, die auf einem falschen Begriff der Barmherzigkeit aufbauen, der die Bekehrung ausklammert, was ja bedeutet, sein Leben zu ändern, schrieb ich dem Präsidium der Synode einen Brief, in welchem ich nur einige Punkte herausstellte, von denen wir uns durch all diesen Rummel nicht ablenken lassen sollten. Logischerweise ergeben sich diese aus unserer lokalen, ganz konkreten pastoralen Erfahrung. Ich werde sie in vier Punkten zusammenfassen. Erstens: Die Verliebten und Verlobten auf ihrem christlichen Lebensweg begleiten. Zahlreich sind die Jugendlichen, die den Schatz des Glaubens überhaupt nicht kennen, sowohl hinsichtlich seiner Schönheit als auch hinsichtlich seiner konkreten Anforderungen. Auch wächst die Zahl derer, die ernste Vorurteile gegen die Kirche und ihre Moral hegen und nichtsdestotrotz die sakramentale Ehe einfach aus sozialer Gewohnheit heraus suchen. Für die meisten ist es notwendig, einen längeren Weg der Bekehrung, der Bildung im Glauben und der Eingliederung in die christliche Gemeinschaft zu durchlaufen. Der eine oder andere verfügt einfach nicht über die notwendigen Voraussetzungen für eine christliche Ehe und ist auch nicht bereit, diese von sich aus beizusteuern. Man muss es ihm offen und ehrlich klarmachen. Sich zu bekehren, liegt in seiner Verantwortung, nicht in der des Priesters oder pastoralen Mitarbeiters, der ihn begleitet. Das ist etwas Unersetzbares.

Zweitens: Die Verliebten und Verlobten auf ihrem Weg zur Ehe zu begleiten, und dies soll vor allem schon für die Verliebten gelten. Wie ist es möglich, dass wir sechs, sieben oder sogar acht Jahre der Formung der zukünftigen Priester widmen, wir dann aber glauben, dass man mit ein paar Vorträgen die Paare auf die christliche Ehe vorbereiten kann? Hier liegt eine schwerwiegende Verantwortungslosigkeit von uns Hirten vor. Niemand kann heutzutage mehr glauben, dass die Jugendlichen die Ehe zuhause und von den Eltern lernen. Statistisch gesehen geschieht dies nur in einer kleinen Minderheit der Fälle. Deshalb ist es nicht logisch, dass wir uns heute über eine entchristlichte Gesellschaft beschweren, aber nicht die pastoralen Schlussfolgerungen ziehen wollen hinsichtlich der dringenden Notwendigkeit der Implementierung neuer Methoden, Mittel und Anforderungen bezüglich unserer pastoralen Praxis, auch auf diesem Gebiet der Ehe und Familie.

Drittens: Die neuen Ehen begleiten. Allzu oft kehren die Paare, einmal verheiratet, nicht mehr in die Kirche zurück. Was ist passiert? Haben wir ihnen attraktive Räume christlichen Lebens angeboten, damit sie mit der Gemeinschaft in Verbindung bleiben? Oder ist es so gewesen, dass wir selbst die ersten waren, die, kaum dass die Hochzeitsmesse vorüber war, ihnen den Rücken zugekehrt haben? Dann brechen die Krisen über sie herein. Und die Eheleute, jung, oft schon mit Kindern, haben keine Wurzeln, die ihnen als Anker dienen könnten, um die Stürme des Lebens zu überstehen. Wir müssen in unseren Pfarrgruppen und kirchlichen Bewegungen Räume der Begegnung und Begleitung schaffen.

Viertens schliesslich die Ehen und Familien in Krisen begleiten. Ich denke, dass es für viele von uns Hirten frustrierend ist, Ehepaare in einer Krise dann in unser Büro kommen zu sehen, wenn nichts mehr zu machen ist. Und sie erwarten von uns einfach die Ausstellung eines Totenscheins für die Ehe. Wir müssen Begegnungszentren einrichten, in denen die Ehepaare, die sich in Krisen befinden, hingehen können, um Aufnahme und geeignete Hilfen zu finden. Die meisten Konflikte können, wenn sie rechtzeitig angepackt werden, einen positiven Ausgang haben, der dann zudem die Familiengemeinschaft reifen lässt. Wie viele Scheidungen liessen sich mit einer angemessenen präventiven Arbeit vermeiden! Tatsache ist, dass es bis heute solche pastoralen Versuche im Verhältnis zu den vorhandenen Schwierigkeiten fast nicht gibt.

Welche Aufgaben übernehmen da die Laien?

Den Anspruch zu erheben, dass die vier vorhin aufgezählten Punkte – welche lediglich eine kleine Anregung innerhalb eines sehr weiten pastoralen Arbeitsfeldes sind – alles Aufgaben der Pfarrer oder eines Priester sind, würde mit Sicherheit im Klerus immer wieder zu Ausfällen aufgrund von “Stress” und “Burnouts” führen. Und zudem erfordern die allermeisten Probleme der Ehen und Familien, die sich in einer Krise befinden, gerade die Hilfe derjenigen, die durch jene Klippen hindurchgegangen und wieder auf die Füsse gekommen sind, von ihren Fehlern gelernt haben und mit Hilfe der Mutter Kirche gewachsen und so weitergekommen sind. Hinterher kann sich ihre Erfahrung in ein wunderbares Apostolat verwandeln. Jesus Christus verwandelt unsere geheilten Wunden in eine Quelle des Segens für andere. Gleichermassen kann das Zeugnis der gereiften Ehen, die bereits jene Etappen durchlebt haben und ihre Herausforderungen kennen, für die Verliebten und Verlobten eine wunderbare Quelle der Lehre für einen zukünftigen Weg ehelicher Heiligkeit sein. Deshalb ist es eigentlich fast überflüssig zu betonen, dass bei dieser Aufgabe, wie bei vielen anderen, die Laien und ihr sehr konkretes Apostolat wesentlich sind. Der Priester wird dazu da sein, ihnen Orientierung zu geben und sie zu begleiten. Für ihn wird sich eine reife christliche Gemeinschaft aus seinem Bemühen ergeben, die aktive Beteiligung seiner gläubigen Laien zu ermutigen und zu fördern – in diesem Fall, von Ehepaaren und Fachleuten auf verschiedenen Gebieten, die ihre eigene Rolle im Bereich der Familienpastoral übernehmen.

Ihr Nachbarland Bolivien bereitet sich auf den Papstbesuch vor. Was erhoffen die Katholiken von der Begegnung mit Franziskus? Wird man die Visite in Peru aufmerksam verfolgen?

Ich habe nicht die Möglichkeit gehabt, meine bolivianischen Mitbrüder im Bischofsamt in Bezug auf ihre Erwartungen an den Besuch von Papst Franziskus zu hören. Aber die Sendung des Nachfolgers Petri ist die, die Brüder im Glauben zu stärken sowie die Teilkirchen in der Mission zu ermutigen. Und die Kirche – wie Paul VI. sagte – existiert für die Mission; es ist ihre Daseinsberechtigung. Wenn auf der einen Seite die weltlichen Massenmedien ihren Blick auf die Ankunft des Heiligen Vaters in Massstäben politischer Auswirkungen auf den Kontinent richten, sind die Erwartungen und Hoffnungen des einfachen und gläubigen Volkes Gottes ganz andere. Den Nachfolger Petri zu sehen, wird vor allem eine Begegnung des Glaubens sein, die Begegnung des einfachen Volkes Gottes mit dem Stellvertreter Christi auf Erden. Auf der anderen Seite wird es ein Fest riesiger Freude sein, eine Feier des “Kirche-Seins”. Begegnung und Fest sind zwei tief im lateinamerikanischen Volk verwurzelte Wirklichkeiten. Sie sind wie Merkmale seiner Seele. Wir können sicher sein, dass diese Merkmale einen neuen missionarischen Impuls der Kirche in Bolivien auslösen werden. Und dass Papst Franziskus aus unserem Lateinamerika stammt, wird, da bin ich sicher, eine noch grössere affektive und effektive Gemeinschaft erzeugen. Aus dem Nachbarland Peru werden wir den Papstbesuch nicht nur aufmerksam und mit Zuneigung verfolgen. Es gibt ausserdem Diözesen, die Pilgerfahrten organisieren, um Papst Franziskus in Santa Cruz zu begegnen, um ihn zu hören und ihm unsere kindliche Liebe zu Petrus zu bezeugen.

In Peru gab es den “Leuchtenden Pfad”, auch Bolivien ist nicht frei von innenpolitischen und gesellschaftlichen Spannungen. Wie sehen Sie die Aufgabe der Kirche, diese Länder zu befrieden?

Bei seinem Besuch in Peru, im Jahr 1982, hat sich der heilige Johannes Paul II. mit einem selten erlebten, energischen Ausdruck an den “Leuchtenden Pfad” gewandt. In Ayacucho, der Wiege des Sendero-Terrorismus, hat er ihnen laut zugerufen: “Wechselt den Weg!” Die Gewalt in unseren Ländern zerstört weiterhin das soziale Gefüge. Deshalb ist es die Aufgabe der Kirche, dabei zu helfen, dass diese Änderung des Weges hin zur Befriedung konkretisiert wird. Eine Aufgabe, die sicher sehr verschiedene Aspekte beinhaltet. Ich werde nur drei erwähnen.

Zuallererst dabei helfen, einen Prozess der Vergebung zu leben: Ich habe das Privileg, jeden Sonntag ein bis zwei Stunden ununterbrochen Beichten hören zu dürfen. Vor allem kommen Jugendliche, die auf der Suche nach der Gnade der Vergebung sind. In vielen Fällen kommen sie voller Verletzungen, die ihnen ihre Eltern oder Erwachsene zugefügt haben, die gewaltige Konflikte in sich tragen. Es ist eine grossartige Gelegenheit, um die neuen Generationen in die Logik der Vergebung einzuführen. Die Kunst, vergeben zu lernen, kostet und beansprucht Zeit. Sie wird gewöhnlich begleitet vom Lernen, weder zu urteilen noch zu verurteilen, sowie mit Einfachheit um Vergebung zu bitten. Das sind diskrete Schritte, um eine neue Kultur der Begegnung und des Friedens zu errichten.

Dann ist es nötig, die Verletzungen in der Tiefe zu heilen. Aufgrund der Vernachlässigung und Zurücksetzung der grossen Massen hat sich eine gewaltige Ladung an Misstrauen und sozialen Ressentiments in unseren Ländern aufgestaut. Nun fordern alle Rechte ein, aber niemand will seine Pflichten erfüllen. Dies alles erzeugt ein Klima der Verdächtigung, das dazu führt, dass sich jeder Einzelne in seine Welt einschliesst. Aber in dieser Einsamkeit heilen die Verletzungen nicht. Unsere Gläubigen müssen wieder die heilsame Wohltat der Gemeinschaft erfahren. Es ist eine Herausforderung, zu bewerkstelligen, dass unsere diözesanen und pfarrlichen Gemeinschaften sowie die der Bewegungen immer offener werden, wir einander zuhören und zu vergeben verstehen und einander vertrauen lernen. So lassen sich nicht nur die Einsamkeit und die Isolation überwinden, sondern es wird auch möglich, die Konflikte zu lösen und die Verletzungen zu heilen.

Eine dritte grosse Herausforderung ist die Hilfe zur Versöhnung. In Peru haben nach dem Ende der Zeit des Terrors verschiedene politische und zivile Gruppen die Schaffung einer Kommission für Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung vorangetrieben. Ihre Früchte waren jedoch eher bitter als süss. Wenn politische Interessen oder ideologische Sichtweisen vorherrschen, können sich die Wunden leider noch vertiefen. Papst Franziskus hat, dem Lehramt Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. folgend, bei mehreren Gelegenheiten die verschiedenen Ideologien von gestern und heute kritisiert. Und ganz zu Recht. Hinter jeder Ideologie steckt immer eine mit totalitärem Anspruch auftretende und konfliktträchtige Sicht. Es sind geschlossene Denksysteme, die mit ihren vorgefertigten Urteilen die Realität ignorieren. Mit ihnen kann man keine Wege der Versöhnung finden. Ich denke hingegen, dass die Kirche hier einen entscheidenden pastoralen Beitrag leisten kann. Als Expertin der Menschlichkeit vermag sie dem Menschen zuzuhören. Als Kennerin des Menschen versteht sie ihn und kann mit ihm einen Dialog ohne Vorurteile führen. Und in ihrer innersten Berufung ist ihre Vermittlerrolle angelegt, zuerst zwischen Gott und den Menschen, aber ebenso zwischen den Menschen unterschiedlichster sozialer, geschichtlicher und kultureller Herkunft.

Was können wir Europäer von dem Abschlussdokument der Versammlung des CELAM in Aparecida im Jahr 2007 lernen, das Papst Franziskus so wichtig ist?

Der erste stärkere Aspekt des Dokumentes ist der der Mission. Der berühmte Satz von Papst Franziskus über eine “hinausgehende Kirche” und seine Einladung, an die existenziellen Peripherien zu kommen, stellt dieses missionarische Bewusstsein unter Beweis. Dabei ist zu beachten, dass das Ziel von Aparecida das einer kontinentalen Mission war, einer Kirche im Zustand permanenter Mission. Schon Paul VI. bekräftigte in “Evangelii nuntiandi”, dass die Kirche für die Mission existiert, dass dies ihre Daseinsberechtigung und ihre innerste Berufung ist. Aber wir haben in den letzten Jahrzehnten einen gewissen Konformismus gesehen. Aparecida kommt zurück auf die Notwendigkeit, dass es uns, den Hirten wie den Laien, als “Jünger” Christi zukommt, Jesus Christus zu verkünden und einen missionarischen Protagonismus zu verwirklichen. Mit den Worten von Papst Franziskus: nicht Christen auf dem Zuschauerbalkon zu sein. Dieses missionarische Bewusstsein war unter anderem Frucht der Feststellung des Vormarsches der Sekten und der Beobachtung der gewaltigen Inkohärenz, die bei einer grossen Mehrheit der Katholiken zwischen dem Sonntagsglauben und dem praktischen Alltagsleben unter der Woche herrscht.

Der zweite Aspekt, bei dem ich kurz verweilen möchte, ist die Bildung. Aparecida betont die Tatsache, dass, obwohl unsere Völker sehr religiös sind, dennoch eine grosse Unwissenheit bezüglich des katholischen Glaubens besteht. Dies fördert die bereits erwähnte Inkohärenz zwischen Glauben und Leben. Es wird deshalb auf einer ganzheitlichen Glaubensbildung bestanden. Dies ist nur mit einer grösseren katechetischen Anstrengung möglich und – bereits ab der Taufe – mit einer christlichen Initiation, die tiefer und gründlicher sein muss, wenn wir wahrhaft, im kirchlichen Sinn, erwachsene Christen haben wollen. Diese beiden Aspekte, Mission und Bildung, können, obgleich sie nichts Neues bedeuten, wegen der Dynamik, mit dem das Dokument von Aparecida sie vorstellt, auch die Pastoral der Kirche in Europa bereichern. Bildung für die Mission: Diese beiden Aspekte tragen dazu bei, aus unserem Konformismus herauszukommen und aufzuhören, Nabelschau zu betreiben, um mit Enthusiasmus die Aufgabe wieder anzupacken, die der Herr seiner Kirche aufgetragen hat.

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