Nordirak: Zukunftschancen für die Kinder von Levo

Flüchtlinge aus Bagdad und dem Südirak in Kurdistan

Initiative Christlicher Orient

Tausende christliche Flüchtlinge aus Bagdad und dem Südirak haben in Kurdistan ein neues Zuhause gefunden – Oberösterreichischer Priester Hans Hollerweger hilft bei Aufbau einer neuen Existenz – “Kathpress”-Reportage von Georg Pulling

Erbil, kath.net/KAP, 19. Juli 2012

Eigentlich sollte Daniel Sako längst tot sein. Gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern hatte er in einem Restaurant in Bagdad Arbeit gefunden, in dem früher oft hohe Angehörige des Saddam-Regimes zu Gast waren. Wahrscheinlich war es deshalb bald nach dem Einmarsch der US-Truppen 2003 Ziel eines Bombenanschlags. Daniels Bruder und Schwester waren sofort tot. Er selbst überlebt schwer verletzt. “Wir haben alles verloren und verlassen in Bagdad. Wir kamen nur mit unseren Kleidern am Leib hier an”, erzählt der 32-jährige.

Hier – das ist die kleine Ortschaft Levo im Norden Kurdistans, in die sich viele Christen flüchteten. Daniels neuer Nachbar in Levo, Yousif Khamo, hat einen Onkel und einen Cousin in Bagdad verloren. “Und in der Strasse, in der ich wohnte, wurden fünf weitere Christen ermordet”, berichtet er.

Auch Bassam Elias und ihre Schwiegertochter Fahima kommen aus Bagdad. Ihr Haus wurde bei Kampfhandlungen zerstört. Sie kamen bei Verwandten in der Stadt unter, doch dann wurden die Bedrohungen durch radikale Muslime immer schlimmer. Die hatten es vor allem auf christliche Frauen abgesehen, die zum Islam konvertieren sollten. Sonst würden sie entführt, drohten Unbekannte immer wieder. Wer diese Männer waren? Sie weiss es nicht, zuckt Fahima mit den Schultern. Sie weiss nur, dass es nicht ihre muslimischen Nachbarn waren. Die hatten selber Angst.

2006 machten sich Bassam und Fahima mit ihren Familien auf den Weg in den Norden. Auch sie fanden in Levo ein neues Zuhause.

Jamila und ihr Mann Adris hatten eine nette Wohnung in Bagdad. Dann musste der junge Familienvater in den 1980er-Jahren im Krieg zwischen dem Iran und Irak in der Armee Saddam Husseins dienen. Dabei wurde er schwer verwundet und braucht seither einen Rollstuhl. Jamila hielt die Familie in den folgenden Jahren mit Arbeiten als Putzfrau und Haushaltshilfe über Wasser. Bald nach dem Einmarsch der US-Truppen in Bagdad wurde die Situation für die Familie aber unerträglich. Auch sie gingen zurück nach Kurdistan, in ihr Herkunftsdorf Heezawa. Zwei Söhne fanden Arbeit in der nahen Provinzstadt Zakho, einer blieb in Bagdad. Und dann ist da auch noch Gorgis, der vierjährige Nachzügler der Familie.

Rückkehr in die “Heimat”

Daniel, Fahima oder Jamila sind nur einige wenige von vielen Tausenden Christen, die aus den südlichen Landesteilen des Irak in den kurdisch kontrollierten Norden geflohen sind. Sie wohnen in Dörfern wie Levo, Heezawa, Nafkandala oder Feskabour. Dörfer mit einer aberwitzigen Geschichte: 23 rein christliche Dörfern gab es einst allein in der Region Zakho-Duhok im nördlichen Kurdistan. Als der Konflikt zwischen dem Regime von Saddam Hussein und den kurdischen Rebellen in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre erstmals eskalierte, zerstörte die irakische Armee 20 Dörfer. In einem Dorf wurden sogar alle Bewohner ermordet.

Freilich verübte das Regime nicht nur Verbrechen an den Christen. Rund 500 Dörfer wurden damals insgesamt zerstört und auch unzählige Muslime getötet und vertrieben. Die Christen wanderten in andere Landesteile ab, die meisten gingen nach Bagdad. In den verlassenen und noch bewohnbaren Dörfern der Christen wurden teilweise Kurden, Jesiden, aber auch Araber angesiedelt.

Vertrieben, geflüchtet, ermordet

Vor der US-Invasion 2003 lebten rund 800.000 Christen im Irak. Inzwischen sind es nur mehr 400.000 bis 500.000. Genaue Zahlen gibt es nicht. Knapp 1.000 wurden in den vergangenen zehn Jahren aufgrund ihrer Religion ermordet. Viele Christen, die nicht ins Ausland konnten oder wollten, suchten Schutz im relativ sicheren Kurdistan im Norden des Landes. Die autonome Region verwaltet sich praktisch völlig unabhängig von der irakischen Zentralregierung in Bagdad. Die Grenzen werden streng bewacht.

Die kurdische Regierung wollte nach 2003 die Christen wieder zurückholen und baute 16 Dörfer für die Flüchtlinge auf. Levo ist so ein Dorf. Fast alle Einwohner sind Flüchtlinge aus Bagdad, “und so gut wie jeder hier ist auch persönlich oder zumindest im Familien- oder Freundeskreis von Gewalt und Terror betroffen”, erklärt Bürgermeister Adris Nano. Auch sein Bruder wurde von Unbekannten gekidnappt, später aber gegen Lösegeld wieder freigelassen.

In ihre eigentliche “Heimat” zurückgekehrt sind freilich nur die alten, ehemals vertriebenen Bewohner. Die Jungen wurden im Süden geboren; sie sind in Städten aufgewachsen, haben oft gute Berufsausbildungen, die ihnen allerdings in den abgelegenen Dörfern wenig nützen. Vor Gewalt und Terror seien die Christen in Kurdistan sicher, bestätigt Bürgermeister Nano. Doch es fehlt an Arbeitsmöglichkeiten und Infrastruktur. Fahimas Mann hat zwar Arbeit als Gemüsehändler in Zakho gefunden, doch viele andere haben weniger Glück.

“Wie im Gefängnis”

“Unsere Kinder haben nichts zu tun. Es gibt keine Jobs. Sie leben hier wie in einem Gefängnis”, beklagt sich Khalid Yako. Er ist Bürgermeister von Feshkhabour. Das Dorf liegt am Ufer des Tigris, unmittelbar an der Grenze zu Syrien. Saddam Hussein hatte die Christen einst vertrieben und Araber angesiedelt. Die verliessen dann aber panikartig das Dorf, als die Kurden die Macht übernahmen. Heute gibt es im Dorf 230 Kinder und Jugendliche. “Alle, die die Schule abschliessen, wissen dann nicht weiter”, beklagt sich der Bürgermeister. Kein Wunder, dass fast jeder von Kanada, Australien, den USA oder auch Deutschland träumt.

Einer, der mit allen Mitteln verhindern will, dass diese Träume wahr werden, ist “Father Hans”. Zwei bis dreimal im Jahr besucht er die christlichen Dörfer in Kurdistan und versucht gemeinsam mit der Bevölkerung Projekte ins Leben zu rufen, die den Menschen eine neue Existenzgrundlage vor Ort ermöglichen.

“Father Hans” heisst in seiner oberösterreichischen Heimat Hans Hollerweger und ist Obmann der “Initiative Christlicher Orient”. Der päpstlich ausgezeichnete Prälat und emeritierte Hochschulprofessor für Liturgie fährt trotz seiner 82 Jahre unermüdlich von Dorf zu Dorf, diskutiert mit Bürgermeistern und Dorfgemeinschaften anstehende Hilfsprojekte, ärgert sich über Streit und Missgunst, und freut sich, wenn etwa in der Ortschaft Nafkandala dank des neuen Gewächshauses die erste Ernte eingefahren werden kann.

Allein 2011 konnte Hollerweger mit seiner Initiative in den Dörfern Hilfsprojekte im Wert von mehr als 210.000 Euro durchführen; beispielsweise Wasserpumpen für die Dörfer Piracca und Dashtatakh, 25 Tische für den Kindergarten von Shioz, einen Schulbus für die Kinder von Bajida, 68 Schafe für die Bewohner von Heezawa, jeweils einen Traktor für Levo, Nafkandala und Qarawella oder Kirchenstühle für Heezawa.

Letztere wurden freilich immer noch nicht geliefert, muss sich Hollerweger bei seinem aktuellen Besuch ärgern. Das Projekt sollte längst abgeschlossen sein. Liegt es am örtlichen Pfarrer oder am Tischler? “Father Hans” muss beide ordentlich ins Gebet nehmen, damit das Projekt doch noch positiv zu Ende geführt werden kann.

Im Orient sind meist Nerven wie Stahlseile gefragt, sieht man “Father Hans” mitunter die Anstrengung auch an. Aber meist überwiegt die Freude, etwa wenn die Arbeiten für den neuen Kindergarten in Levo endlich beginnen können. Schon bald müssen die Kleinen und ihre engagierten jungen Kindergärtnerinnen dann nicht mehr in der kleinen verfallenen Hütte am Ortsrand die Vormittage verbringen.

Freilich kann “Father Hans” nicht immer helfen. So könnte es vielen Christen längst besser gehen, wenn sie ihr Land zurückbekommen würden. Noch wird es von Kurden und Jesiden bewirtschaftet, die es nach der Vertreibung der Christen in Besitz genommen hatten. Die Behörden hätten zwar versprochen, für die Rückgabe an die rechtmässigen Besitzer zu sorgen, den Worten seien bislang allerdings noch kaum Taten gefolgt, ärgert sich Hollerweger. “Hier müsste sich unser Aussenminister Michael Spindelegger für die Rechte der Christen stark machen”, appelliert der ICO-Obmann.

Stimmen aus dem Westen würden von den kurdischen Behörden in der Regel ernst genommen, spricht Hollerweger aus Erfahrung.
“Das orientalische Christentum im Irak darf nicht aussterben” sagt “Father Hans” aus tiefster Überzeugung. Und er meint damit keine abstrakte Grösse, sondern ganz konkrete Menschen. Solche wie Daniel Sako in Levo. Der hat nämlich seit kurzem einen neuen Job – als Buschauffeur. Täglich bringt er die grösseren Schulkinder von Levo und auch viele Erwachsene in die nächste Stadt und wieder zurück. Den Bus hat – wie könnte es auch anders sein – “Father Hans” organisiert. Und er hat damit nicht nur Daniel, sondern auch dessen beiden kleinen Kindern Elias und Carolin die Chance auf eine bessere Zukunft eröffnet.

Quelle
Hoffnung für Levo
Kurdistan

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