Europas grössere Feinde

Zu Hunderttausenden sind sie am Sonntag in Paris marschiert

Die Tagespost, 12. Januar 2015

Von Oliver Maksan

Zu Hunderttausenden sind sie am Sonntag in Paris marschiert. Markige Worte waren von Politikern und Bürgern zu hören, von der Verteidigung unserer Freiheit, Nichtzurückweichen und ähnlichem. Keine Frage: Zwischen Europa und dem aus ihm hervorgegangenen Westen einerseits und dem extremistischen Islam andererseits tobt ein Kulturkampf. Die Frage nach der Identität des Kontinents stellt sich damit akut. Wer sind wir? Dieser Frage Samuel Huntingtons können die Europäer nun nicht mehr entkommen – und wollen es offenbar auch nicht, wie die in Paris und europaweit trauernd wie trotzig versammelten Massen zeigen. Das ist eine gesunde Reaktion.

Aber wissen die Europäer auch die richtige Antwort darauf zu geben? Frau Merkel fiel seinerzeit bei einer Rede vor dem Europaparlament nicht mehr ein, als zu sagen, die Toleranz sei die Seele Europas. Und die jetzt tödlich angegriffene Meinungs- und Pressefreiheit wird in Reden und Kommentaren quasi sakral überhöht. Keine Frage: Diese bürgerlichen Freiheiten sind zentrale und entschieden zu verteidigende Errungenschaften des modernen Staates. Doch darf sich die Antwort Europas auf die islamistische Herausforderung nicht in einem blutleeren Republikanismus französischer Prägung erschöpfen. Toleranz und Meinungsfreiheit sind keine Inhalte, sondern formale Strukturprinzipien des Miteinanders. Sie dürfen nicht zum Gegenstand eines säkularistischen Anti-Credos werden. Mit dem Anschlag auf das linksradikale, Islam wie katholisches Christentum gleichermassen verunglimpfende Satiremagazin “Charlie Hebdo“ droht aber genau diese Weltsicht gestärkt zu werden, droht verfasste Religion insgesamt als Problem wahrgenommen zu werden.

Einen religionsfeindlichen Humanismus in der Tradition der Französischen Revolution gab es schon, bevor die religiöse Homogenität des Kontinents durch die islamische Masseneinwanderung unwiederbringlich verloren gegangen ist. Aber er erhält durch den bei Teilen des europäischen Islams angesiedelten Extremismus neue Nahrung. Ein nicht gemainstreamtes, kulturkritisches Christentum etwa droht dafür in Mithaftung genommen, aus dem Diskurs entsorgt und zur reinen Privatsache erklärt zu werden. Das wäre die denkbar falscheste Lehre aus den Pariser Anschlägen.

Die freiheitliche Ordnung des Westens ist historisch gesehen etwas ebenso Unwahrscheinliches wie Zerbrechliches. Sie gilt es fraglos zu verteidigen. Allein, die freiheitliche Demokratie im säkularen Staat lebt bekanntlich von theoretischen und moralischen Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Und da ist Europa sein grösster Feind. Vom pathologischen Selbsthass Europas sprach Kardinal Ratzinger im Jahr 2000. Permanent werden die geistigen Quellen vergiftet, die erst zusammen die einzigartige abendländische Synthese von Ordnung in Freiheit hervorgebracht haben: Christentum und eine an transzendenzoffener Vernunft orientierte Aufklärung. Materialistischer Konsumismus, richtungsloser Individualismus und postmoderner Nihilismus sind deshalb auf die Dauer die grösseren Feinde Europas als die terroristische Infragestellung durch den globalen Dschihad. Oder mit Ratzinger: “Europa braucht, um zu überleben, eine neue – gewiss kritische und demütige – Annahme seiner selbst, wenn es überleben will.”

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