Europa ringt um eine Rückkehr zur Realpolitik

Ernüchterter Pragmatismus beherrschte den EU-Gipfel, der unter dem Schatten Donald Trumps über Syrien und die Ukraine beriet

Quelle

20.12.2024

Stephan Baier

Von einem “fairen Frieden” für die Ukraine sprach Bundeskanzler Olaf Scholz, nicht von einem gerechten. Da schwingt schon etwas von Kompromiss und Deal mit, also von dem Stil, mit dem die Ukraine ab der Amtsübernahme von Donald Trump am 20. Januar rechnen muss. Gewiss, Scholz und die anderen Brüsseler Gipfelstürmer versicherten wie üblich, man werde die Ukraine nicht alleine lassen und konsequent weiter unterstützen. Militärisch wie finanziell. Es solle auch “keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine” geben, hieß es in Brüssel wie üblich. Also keinen Deal über den Kopf der Ukraine hinweg. Immerhin.

Den EU-Staaten fehlt die gemeinsame Strategie

Tatsächlich hat es trotz aller finanziellen und militärischen Hilfen, trotz aller Sanktionen und Erklärungen eine gemeinsame Strategie der EU-Mitgliedstaaten nie gegeben, und das wurde beim EU-Gipfel wieder deutlich. Die Bandbreite der Sichtweisen reicht von der neuen EU-Außenbeauftragten und früheren Ministerpräsidentin Estlands, Kaja Kallas, die vor zu frühen Verhandlungen warnte und zu noch stärkeren Hilfen für die Ukraine mahnte, bis zum ungarischen Regierungschef Viktor Orbán, der einer Verlängerung der Ende Januar auslaufenden EU-Sanktionen gegen das System Putin und seine Unterstützer nicht zustimmen wollte. Orbán will zuerst Trumps Amtseinführung abwarten.

Alle wissen, dass ein militärisches Standhalten der Ukraine von den Europäern alleine nicht abgesichert werden kann, sondern auf die USA angewiesen ist. Am deutlichsten formulierte das der Gast aus Kiew: “Ich glaube, dass bloß europäische Garantien für die Ukraine nicht ausreichen werden”, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Brüssel. Und: “Es ist unmöglich, nur mit den Europäern zu diskutieren, denn die einzige Garantie, derzeit und in Zukunft, ist die NATO.” Alle wissen das, und so blicken – jenseits der üblichen Rhetorik – alle auf Donald Trump, der sich offenbar einen großen Deal mit Putin zutraut.

Beziehungen zu Terroristen

Pragmatismus herrscht aber auch beim Thema Syrien, wo die EU irgendwie kalt erwischt wurde. EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas soll und will nun Optionen für eine humanitäre Unterstützung der notleidenden Bevölkerung Syriens erarbeiten. Das ist gut und dringlich, setzt aber voraus, dass die unseligen westlichen Sanktionen, die zur Verarmung der Bevölkerung beigetragen haben, rasch beendet werden. Und ebenso, dass die EU offizielle Kontakte zu den neuen Machthabern aufnimmt, obwohl diese auf allen westlichen Terrorlisten stehen. Realpolitik eben.

In dieser Woche reisten deshalb die ersten europäischen Diplomaten nach Damaskus, um Gesprächskanäle zu den neuen Regierenden zu etablieren. Gleichzeitig ist der EU-Spitze glasklar, dass die HTS-Kämpfer, die dort jetzt das Sagen haben, die Scharia in der Verfassung verankern wollen, dass die Rechte von Frauen sowie von ethnischen und religiösen Minderheit keineswegs gesichert sind. Doch mehr als rhetorischen, diplomatischen und finanziellen Einfluss auf die Entwicklung in Syrien hat die Europäische Union nun einmal nicht. Militärisch agieren dagegen die USA, die Türkei und Israel in Syrien.

Katholischen Journalismus stärken

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Stärken Sie katholischen Journalismus!

Unterstützen Sie die Tagespost Stiftung mit Ihrer Spende.
Spenden Sie direkt. Einfach den Spendenbutton anklicken und Ihre Spendenoption auswählen:

Die Tagespost Stiftung- Spenden

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Hier kostenlos erhalten!

Themen & Autoren

Stephan Baier
Donald Trump
Viktor Orbán
Wladimir Wladimirowitsch Putin
Wolodymyr Selenskyj

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel