Dieser Weg darf sein Ziel nicht aus den Augen verlieren

Romano Guardini und die Kernkraft

Wie sehr der Mensch heute seinen Stand in der Wirklichkeit verloren hat und ortlos geworden ist, weil er das Wesen der Begriffe Natur und Verantwortung korrumpiert hat, zeigt nicht zuletzt seine gefährliche Fehleinschätzung unabsehbarer Risiken und Folgen der Atomkraft. Ein Nachdenken mit dem christlichen Religionsphilosophen.

Die Tagespost, 18. April 2011, von Hans Otto Seitschek

Die Gefahren selbst der friedlichen Nutzung der Kernkraft wurden durch den verheerenden Unfall von Fukushima der Weltöffentlichkeit erneut drastisch vor Augen geführt. Und das nahezu pünktlich 25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist unumgänglich, zu viele Gründe sprechen dagegen. Der bisherige Weg, der die geringe Wahrscheinlichkeiten einer Kernschmelze betonte, ist nicht mehr gangbar. Dass ein Ereignis mit höchst geringer Wahrscheinlichkeit eintreten kann, heisst schlussendlich nichts anderes, als dass dieses Ereignis passieren kann.

Darauf hat schon der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker immer wieder hingewiesen. Die Folgen sind dabei nicht abschätzbar und betreffen mehrere zukünftige Generationen. In ihren hochgefährlichen Auswirkungen ist die Kernkraft unberechenbar und nicht mehr zu steuern. So hat Joseph Kardinal Höffner 1980 bekanntermassen festgestellt, dass die Atomenergie nur dann genutzt werden dürfe, wenn alle Auswirkungen und Folgeerscheinungen beherrschbar seien. Da dies bis heute nicht der Fall ist, ist eine verantwortbare Nutzung der Atomenergie folglich nicht möglich. Diese sogenannte tutioristische Argumentation, die etwas als nicht zulässig erklärt, wenn auch nur ein rational ernstzunehmender Einwand existiert, steht den pragmatischen Wahrscheinlichkeitsabwägungen mancher Wissenschaftler, aber auch der politischen Praxis entgegen. Der Religionsphilosoph Romano Guardini hat dagegen schon früh davor gewarnt, die Technik über die Natur zu stellen. Der Mensch kann nur dann Verantwortung für etwas übernehmen, wenn er es tatsächlich beherrscht, die Folgen abschätzen und mögliche negative Auswirkungen selber rückgängig machen kann.

Bei der friedlichen Nutzung der Kernkraft greift der Mensch in höchstem Masse in die Natur ein. Er zwingt sie, Energie frei zu geben, um sie in Elektrizität umzuwandeln. Jedoch geht der Mensch hier ein hohes Risiko ein. Die Natur lässt sich eben nicht zwingen. Sie kann die gewaltigen Energien auch unkontrolliert abgeben, was unabsehbare Folgen für die Zukunft mit sich bringt.

In seinem Pascal-Buch “Christliches Bewusstsein” (1935) schreibt Guardini über “Die Natur und das Künstliche”. Die Natur ist für Guardini als “das Erstgegebene”, “der Inbegriff der Daseinsvoraussetzungen” anzusehen. In dieses ursprünglich Gegebene darf der Mensch nur begründet eingreifen und nur soweit, dass nachfolgende Generationen nicht betroffen sind. Hierbei stellt auch die Entsorgungsfrage ein wichtiges Problem dar. Die Frage, wo Atommüll – wenn überhaupt – sicher gelagert werden kann, wird schon jetzt die Experten über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, hinweg beschäftigen und die Umwelt belasten. Robert Spaemann akzentuiert in der Atomdebatte seit Jahren Argumente dieser Art (siehe zuletzt DT vom 14. April).

Der Mensch ist von der Antike bis heute aus der Natur mehr und mehr herausgetreten, wie Guardini in “Welt und Person” (1939), aber auch im ersten Teil seiner Vorlesungen über “Das Ende der Neuzeit” (1950) verdeutlicht. Das menschliche Subjekt sieht sich im Sinne von Descartes, Gegenspieler Pascals, als “Herr und Meister der Natur” an, ohne wirklich über sie verfügen zu können, da er selbst Geschöpf innerhalb der Schöpfung ist. Aus dieser falschen Selbsteinschätzung heraus übersteigert der Mensch sein Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und in die daraus resultierende Technik. Damit verliert er laut Guardini den eigentlichen Bezug zur Natur und auch das Verständnis dafür, dass ein falscher und unverantwortbarer Eingriff in die Natur fatale, da nicht mehr zu kontrollierende Folgen nach sich zieht.

Durch den Verlust seines Bezugs zur Natur verliert der Mensch auch den Bezug zu seiner eigenen Geschöpflichkeit und schliesslich zu Gott selbst. In der Folge hat das Individuum keinen Stand mehr in der Wirklichkeit. Es verliert den Sinn für die Zusammenhänge des Seins- und Weltganzen und schliesslich für sich selbst, so Guardini im 2. Kapitel von “Christliches Bewusstsein”: “Der Mensch ist ortlos geworden.” Der Rückzug ins Innere, nicht das Verlieren in Zeit und Äusserlichkeit, ist für den von Guardini geschätzten Augustinus die Lösung dieses Zustands: “Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas.” “Gehe nicht hinaus, ziehe Dich in Dich selbst zurück. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.” (De vera religione, 72) Damit ist kein subjektivistischer Selbstbezug gemeint, der vermeintlich aus dem Subjekt heraus die ganze Welt erschafft, sondern die Gottessuche im Inneren des Menschen, im Sitz seiner Vernunft, die ihn fähig für Gott, für die Gotteserkenntnis, werden lässt. Wie sehr der Mensch heute seinen Stand in der Wirklichkeit verloren hat, zeigt nicht zuletzt seine gefährliche Fehleinschätzung unabsehbarer Risiken und Folgen der Atomkraft.

Doch nicht nur der Naturbegriff ist in der Atomdebatte von philosophischer Relevanz, auch der Verantwortungsbegriff muss hier, wie sich gezeigt hat, wieder neu durchdacht werden. Verantwortung zu übernehmen heisst, die Folgen einer Handlung in ihrer Gänze abschätzen zu können und alle möglichen unerwünschten Wirkungen aus eigener Kraft so zu regeln, dass keine Unbeteiligten, insbesondere zukünftige Generationen, damit belastet werden, sei es indirekt oder direkt. Verantwortung und Freiheit bilden für Guardini die “Waage des Daseins” (1946), die im Gleichgewicht stehen muss, soll das Leben der Einzelnen sowie der Gemeinschaft gelingen. Des Weiteren ist das menschliche Dasein ein Leben in “ausgehaltener Spannung”, so Guardini in “Der Gegensatz” (1925), da der Mensch seine Freiheit in der Spannung zwischen personaler Existenz und göttlicher Transzendenz begreifen muss. Im Gewahrwerden dieser Spannung kann das Individuum seine Freiheit in Verantwortung ergreifen und fruchtbar werden lassen, beispielsweise in echtem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Menschlich verantwortete Forschung und Technik sind für Guardini durchaus sinnvoll, wie er bereits im 6. und 8. der “Briefe vom Comer See” (1927), die später den Titel “Die Technik und der Mensch” (1981) erhielten, deutlich werden lässt. Die Technik und die Werke des Menschen können in gewissem Rahmen die menschliche Handschrift behalten und sind nicht zuletzt auch von ästhetischem Reiz. Jedoch verliert der Mensch zusehends die Macht über seine technischen Hervorbringungen, wie Guardini in “Die Macht” (1951) ausführt. Unverantwortete Technik verselbstständigt sich ebenso wie unverantwortete Macht und wird dadurch unmenschlich und dämonisch – beiden fehlt der Bezug zum Menschen genauso wie der Bezug zum Schöpfer, zu Gott. In “Das Ende der Neuzeit” schreibt Guardini einen Satz, der gerade in diesen Tagen von neuer Aktualität ist: “Von jetzt an und für immer wird der Mensch am Rande einer sein ganzes Dasein betreffenden, immer stärker anwachsenden Gefahr leben.”

Die Frage der Energieversorgung muss in einer immer stärker vom Wohlstand geprägten Gesellschaft gelöst werden; immer neue Probleme werden sich hier stellen. Auch wenn es bisher keine Patentlösung gibt, darf nicht voreilig auf die Atomenergie als angeblich sauberste Möglichkeit gesetzt werden. Im Finden neuer Wege bei der Energiegewinnung eröffnet sich ein nicht unerhebliches Forschungsfeld, in dem wahrer Fortschritt noch möglich ist.

Der Weg aus der Kernkraft ist jedoch unumkehrbar, auch wenn er sehr teuer ist und nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Dieser Weg darf sein Ziel nicht aus den Augen verlieren und muss mit höchster Sorgfalt beschritten werden. Dabei muss der Sicherheitsstandard der Kraftwerke so hoch wie möglich gehalten werden, um sowohl die jetzige Generation als auch deren Nachkommen bestmöglich zu schützen, sofern dies überhaupt möglich ist. Es bleibt dabei: Was der Mensch nicht beherrschen kann, das darf er nicht in die Tat umsetzen, da er weder vor Gott noch vor den Mitmenschen die Verantwortung dafür übernehmen kann.

Der Autor ist wissenschaftlicher Assistent am Guardini-Lehrstuhl der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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