“Zumutbar” oder nicht – das ist die Frage
Der US-Supreme Court muss entscheiden, ob die neue texanische Abtreibungsgesetzgebung verfassungsgemäss ist.
Washington, Die Tagespost, 2. März 2016
Am Mittwoch hat der Oberste Gerichtshof in den USA mit der Verhandlung der Klage eines Betreibers von Abtreibungskliniken begonnen, die dieser gegen den US-Bundesstaat Texas angestrengt hat. Der Betreiber der Kliniken „Whole Woman’s Health“ wirft dem Bundesstaat vor, mit seinem im Sommer 2013 erlassenen Gesetz gegen den 14. Zusatzartikel der US-Verfassung zu verstossen.
Mit mehr als 25 Millionen Einwohnern ist Texas, das im mittleren Süden der USA liegt, der zweitgrösste Bundesstaat der USA. Der Fläche nach wird der Staat nur noch von Alaska, der Einwohnerzahl nach nur noch von Kalifornien übertroffen.
Mit dem vor drei Jahren von der republikanischen Mehrheit im texanischen Senat verabschiedeten Gesetz wurde in Texas erstmals ein generelles Verbot vorgeburtlicher Kindstötungen nach der 20. Schwangerschaftswoche eingeführt, das auch im Falle einer Vergewaltigung keine Ausnahmen mehr macht. Darüber hinaus hat das Gesetz die Auflagen für Abtreibungseinrichtungen beträchtlich erhöht, mit der Folge, dass in den vergangenen Jahren 26 der insgesamt 36 Abtreibungskliniken in Texas schlossen, darunter auch solche des Betreibers „Whole Woman’s Health“.
Das neue Gesetz verpflichtet die Betreiber von Abtreibungseinrichtungen, in ihren Kliniken dieselben Standards einzuführen, die für alle anderen ambulanten OP-Zentren längst gelten. Dazu zählt unter anderem eine Tagesklinik-Lizenz, die nur der erhält, der bestimmte bauliche Vorschriften erfüllt und ausreichend medizinisches Personal vorhält. Ferner schreibt das Gesetz vor, dass Frauen, die ihr ungeborenes Kind mittels der Abtreibungspille Mifegyne (früher: RU 486) abtreiben wollen, diese jeweils im Beisein eines Arztes einnehmen müssen.
Gegen das Gesetz gab es – wie immer, wenn in den USA der Lebensschutz gestärkt werden soll – heftigen Widerstand. Seit der zweifelhaften und heftig umstrittenen Entscheidung, die der US-Supreme Court 1973 im Fall „Roe versus Wade“ fällte, gilt in den USA ein generelles Abtreibungsverbot als verfassungswidrig. Laut dem damals mit sieben gegen zwei Richterstimmen gefällten Urteil verletzten die meisten der bis dahin geltenden Gesetze, mit denen die einzelnen Bundesstaaten Abtreibungen rechtlich regelten, das im 14. Verfassungszusatz geregelte Recht auf Privatsphäre. Den US-Bundesstaaten wurde jedoch das Recht zugestanden, vorgeburtliche Kindstötungen von dem Moment an zu verbieten, ab dem der Embryo auch ausserhalb des Mutterleibes lebensfähig ist. Allerdings mit der Einschränkung, dass Frauen eine Abtreibung zu einem späteren Zeitpunkt dann ermöglicht wird, wenn sie nach Ansicht von Ärzten erforderlich ist, um Leben oder Gesundheit der Schwangeren zu schützen. Durch den Fortschritt in der Intensivmedizin wurde der Zeitpunkt, zu dem ungeborene Kinder auch ausserhalb des Mutterleibes überleben können, immer weiter vorverlegt. Er liegt mittlerweile zu Beginn der 21. Schwangerschaftswoche.
1992 gestand der Supreme Court im Fall „Planned Parenthood versus Robert P. Casey“ den Bundesstaaten zudem das Recht zu, weitergehende rechtliche Regelungen zu erlassen, die einen wirksameren Schutz des Lebens ungeborener Kinder zum Ziel haben, sofern diese keine „unzumutbare Belastung“ der Schwangeren darstellten. Als „zumutbare Belastung“ gelten seitdem etwa die Einführung einer obligatorischen Beratung sowie einer 24-stündigen Bedenkzeit vor Vornahme einer vorgeburtlichen Kindstötung. Der Supreme Court, der nach dem Tod von Antonin Scalia derzeit nur aus acht Verfassungsrichtern besteht, wird also in erster Linie entscheiden müssen, ob die von US-Bundesstaat Texas erlassenen neuen gesetzlichen Vorschriften als „zumutbare Belastungen“ betrachtet werden können. Mit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA wird nicht vor Juni gerechnet.
siehe Titelkommentar
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