“Die Liebe Christi kennt keine Grenzen”

Warum das Gemeinwohl gar nicht auf Kosten des Eigenwohls realisiert werden muss, wozu der christliche Glaube dabei verpflichtet und was wir dadurch gewinnen

Quelle
Joseph-Höffner-Gesellschaft für christliche Soziallehre
Festveranstaltung | 25 Jahre Kardinal-Höffner-Kreis

15.06.2025

Stefan Rehder

“Nemo tenetur ad impossibile” – “Niemand ist zu Unmöglichem verpflichtet”, heißt es in der “Summa Theologiae” des heiligen Thomas von Aquin. Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch für ganze Gesellschaften. Die Einsicht, dass Menschen moralisch allenfalls zu dem verpflichtet sein können, das sie auch tatsächlich zu leisten vermögen, ist nicht trivial. Sie entlastet zum Bespiel von den Ansprüchen sozialromantischer Utopien, die die Lösung globaler Herausforderungen wie Hunger und Armut, Flucht und Vertreibung oder Klimawandel und Weltfrieden von wenigen erwarten. Aus der persönlichen Verantwortung für das “bonum commune”, dem Gemeinwohl, entlässt sie jedoch niemanden.

Heute meinen nicht wenige, Eigen- und Gemeinwohl seien Gegensätze, die nur auf Kosten des jeweils anderen realisiert werden könnten. Oft verbirgt sich dahinter die Annahme, die Summe des Wohls bestehe aus einer endlichen Menge materieller Güter. Was davon auf den Tellern anderer lande, sei für den eigenen verloren. Und auf den ersten Blick scheint dafür auch einiges zu sprechen. So schmälern Steuern und Abgaben ja tatsächlich das Budget, das für den persönlichen Konsum verbleibt. Wie sehr Eigen- und Gemeinwohl einander bedingen, wird jedoch spätestens dort deutlich, wo oft für selbstverständlich erachtete kommunale Einrichtungen wie Feuerwehren, Krankenhäuser und Polizeistationen in den Blick genommen werden. Denn ohne sie wäre das Leben aller nicht bloß weitaus unsicherer und gefährlicher, sondern für viele auch deutlich kürzer.

Der Mensch als soziales Wesen

Die Angewiesenheit des Einzelnen auf solche und andere Gemeinschaftsleistungen wirft nicht nur Fragen der Organisation auf, die zweifellos bisweilen effizienter gelöst werden könnten, sie ist auch eine der Natur. Denn der Mensch ist, wie schon Aristoteles feststellte, ein zoon politikon, ein soziales Wesen. Eines, das von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt ist. Ein nach maximaler Autonomie und Autarkie strebendes Denken muss in dieser Verwiesenheit zwangsläufig einen Mangel erblicken. Einen, den es dann, wo immer möglich, zu beheben gilt. Nur: Das Christentum sieht dies völlig anders.

Denn als imago Dei, als vernunftbegabtes Abbild des dreifaltigen Gottes, der Gemeinschaft und Beziehung ist, erfährt sich auch der Mensch wesenhaft auf Gemeinschaft hingeordnet. “Ohne Beziehung zu den anderen kann er weder leben noch seine Anlagen zur Entfaltung bringen”, lehrt etwa das II. Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution “Gaudium et Spes” (GS 12). Konkreter: Erst “durch die geistige Verbundenheit untereinander sind die Menschen imstande, soziale Tugenden (Nächstenliebe, Treue, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Gehorsam) zu üben und Kultursachgebiete aufzubauen, die ein Einzelner aus sich allein nicht schaffen könnte (Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft)”, erläutert dies Joseph Kardinal Höffner in seiner “Christlichen Gesellschaftslehre”. Anders formuliert: Erst in Gemeinschaft vermag der Mensch “seinshafte und sittliche Werte” zu entfalten, die laut dem Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning SJ, “außerhalb jeder Reichweite absoluter Individuen liegen” und “die selbst Gottes Schöpfungsmacht nur sozialen Wesen verleihen und zugänglich machen konnte”.

Die wichtigste der Tugenden

Mit anderen Worten: Zur vollen Entfaltung der menschlichen Person, welche der Endzweck und zugleich die Krönung der gesamten Schöpfung ist, bedarf der Mensch der Gemeinschaft. Das heißt aber auch: Gemeinschaften jedweder Art, angefangen bei der Familie, über den Betrieb, das Dorf bis hin zu Staat und Gesellschaft, sind für den Menschen da, nicht umgekehrt. Gemeinschaften so zu gestalten, dass sie den Personen, die sie bilden, die volle Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Talente gestatten, dient denn auch nicht bloß dem Gemeinwohl, sondern mindestens ebenso sehr dem Eigenwohl. Der Clou ist: Wo Gemeinschaft so gedacht wird, können sich Eigen- und Gemeinwohl gar nicht feindlich gegenüberstehen. Aus dem einfachen Grund, weil sich das Gut des Einzelnen, der zu dessen Verwirklichung auf die Gemeinschaft angewiesen ist, erst im Gut des Ganzen erreichen lässt, darin enthalten ist und von diesem gefördert wird.

Zur vollen Entfaltung der Person aber gelangt der Mensch erst durch die Liebe. Sie ist die höchste und wichtigste aller Tugenden. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn wenn Gott Liebe ist, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Antrittsenzyklika “Deus caritas est” schreibt, dann kann auch der Mensch als sein Abbild, sich nur ganz entfalten, wenn er zu einem Liebenden wird. Was für alle Menschen aufgrund ihres Personseins gilt, gilt für Christen in besonders nachdrücklicher Weise. Ihnen hat Gott in der Gestalt Jesu Christi im Abendmahlssaal, in dem er den Aposteln der Reihe nach die Füße wusch, ein “neues Gebot” hinterlassen: “Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt” (Joh 13, 34–35).

Christus und die Globalisierung des Wirs

Selbstverständlich erstreckt sich das “neue Gebot” nicht allein auf den Umgang, den Christen untereinander pflegen sollen, sondern verpflichtet dazu, jedem Menschen mit Liebe zu begegnen. In ihren “Geistlichen Texten” schreibt die heilige Edith Stein, die Papst Johannes Paul II. zusammen mit der heiligen Birgitta von Schweden und Katharina von Siena zur Patronin Europas ernannte:

“Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe. Aber es ist eine andere als die natürliche Menschenliebe. Die natürliche Liebe gilt diesem oder jenem, der uns durch Bande des Blutes verbunden oder durch Verwandtschaft des Charakters oder gemeinsame Interessen nahesteht. Die anderen sind ‘Fremde’, die einen ‘nichts angehen’, einem sogar durch ihr Wesen widerwärtig sind, sodass man sie sich möglichst weit vom Leibe hält. Für die Christen gibt es keinen ‘fremden Menschen’. Der ist jeweils der ‘Nächste’, den wir vor uns haben und der unser am meisten bedarf, gleichgültig, ob er verwandt ist oder nicht, ob wir ihn ‘mögen’ oder nicht, ob er der Hilfe ‘moralisch würdig’ ist oder nicht. Die Liebe Christi kennt keine Grenzen, sie hört nimmer auf, sie schaudert nicht zurück vor Hässlichkeit und Schmutz. Er ist um der Sünder willen gekommen und nicht um der Gerechten willen.”

Christus, so formulierte es einmal der langjährige Direktor des Kölner Lindenthal-Instituts, Hans Thomas, habe die “Globalisierung des Wirs” gebracht. Gott, der jeden Menschen beseelt und im Dasein erhält, erwartet von uns, dass wir lernen, in jedem Menschen sein Abbild zu sehen und ihm mit Liebe zu begegnen. Deshalb kann niemand Gott lieben und seinen Mitgeschöpfen mit Gleichgültigkeit begegnen. Wessen Herz etwa für eine würdige und feierliche Liturgie schlüge, sich aber verschlösse, sobald ihm Christus statt unter der Gestalt des Brotes im Leib des Nächsten begegnet, muss sich vorwerfen lassen, Wesentliches der christlichen Existenz noch nicht verstanden zu haben.

Die Reichweite der Nächstenliebe

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25–37) lässt Jesus keinen Zweifel daran, dass die tätige Nächstenliebe denn auch kein Luxus ist, auf den ein Christ verzichten könnte. Dem Gesetzeslehrer, der ihn auf die Probe stellen will und fragt: “Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen”, antwortet Jesus zunächst mit einer Gegenfrage: „Was steht im Gesetz? Was liest Du dort?“ Als dieser antwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst”, lobt Jesus ihn nicht nur, sondern verspricht: “Handle danach und du wirst leben” (vgl. LK 10, 25–28).

Wie Jesus im weiteren Verlauf des Gleichnisses verdeutlicht, ist weder die Reichweite der Nächstenliebe noch ihr Adressatenkreis in das Belieben des Christen gestellt. Auch wenn es zweifellos eine Hierarchie der Liebe gibt, so ist doch der Kreis derer, denen Christen mit Nächstenliebe begegnen müssen, weit größer als der der Familie und Freunde. Der unter die Räuber Gefallene, dessen sich der barmherzige Samariter annimmt, war diesem fremd. Dennoch ist die Hilfe, die er ihm zuteilwerden ließ, umfassend: Er “goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme” (LK 10, 34–35).

Wer gutes tut, mehrt das Gemeinwohl

In vielen Gesellschaften, die zum christlich-abendländischen Kulturkreis zählen, ist die tätige Nächstenliebe weitgehend professionalisiert und institutionalisiert worden. Das hat – für die Nutznießer – bisweilen viele Vorteile, für den Christen aber auch manchen Nachteil. So bleibt es ihm nicht erspart, gewissenhaft zu prüfen, ob er dem Gebot der Nächstenliebe durch Steuern, Sozialabgaben und Spenden bereits hinreichend nachgekommen ist oder ob er darüber hinaus “Werke der Barmherzigkeit” leisten sollte, zu denen auch das Beherbergen von Fremden und Obdachlosen gehört.

Weil aber, wie eingangs erwähnt, niemand zu Unmöglichem verpflichtet ist, gibt es bei all dem auch eine faktische “Obergrenze”. So wie kein Rettungsschwimmer rund um die Uhr Menschen vor dem Ertrinken retten und kein Feuerwehrmann 24 Stunden lang Brände löschen kann, so kann auch kein Gemeinwesen alle Migranten aufnehmen. Und weil das so ist, ist es nicht nur zulässig, sondern geboten, dass sich Politiker wie Bürger Gedanken darüber machen, wie sie mit der Flüchtlingskrise umgehen, welche Signale sie wohin aussenden und wann sie eingestehen müssen, dass ihre Kapazitäten erschöpft sind. Nur: Völlig inakzeptabel wäre es, wenn Christen sich als Bürger und den Staat, in dem sie leben, prinzipiell für unzuständig erklärten, wo Hilfe für Menschen gefordert ist, die unter die Räuber von heute gefallen sind.

“Lieben heißt”, so der heilige Thomas von Aquin, “anderen Gutes tun.” Wir haben uns angewöhnt, zu meinen, dort, wo wir Werke der Nächstenliebe vollbringen, brächten wir ein Opfer und erlitten folglich einen Verlust. In Wirklichkeit ist es genau andersherum. Wenn wir andern Gutes tun, entfalten wir uns als die sozialen Wesen, die wir von Natur aus sind, werden wir mehr zu denen, die Gott sich gedacht hat, als er uns schuf. Auf diese Weise mehren wir, sogar noch zur selben Zeit, sowohl unser Eigenwohl als auch das Gemeinwohl.

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