Wie der Glaube die wahre Größe der Vernunft offenbart

Die zeitgenössische Philosophie hat das Staunen verlernt. Höchste Zeit, dass sie diese Fähigkeit wiedergewinnt, so Pater Engelbert Recktenwald

24.02.2024

Engelbert Recktenwald

“Wir stehen in der Versuchung, der Vernunft ihre wahre Größe zu verweigern”, hat Joseph Ratzinger einmal geschrieben. Aber worin besteht ihre Größe? “Größe” ist ein Wertbegriff. Wenn Werte Illusionen sind, dann gibt es keine “wahre Größe”. Und sie sind Illusionen, wenn sie bloße Vorspiegelungen unserer Bedürfnisse sind. Bedürfnisse verursachen ein Begehren, und allein dieses Begehren steht demnach hinter unseren Werturteilen.

Spinoza hat es auf klassische Weise formuliert: “Wir begehren etwas nicht, weil wir es für gut befinden, sondern wir beurteilen etwas als gut, weil wir es begehren.” Vernunft wird dann zu einer Sklavin unserer Begierden, wie David Hume es schonungslos ausgedrückt hat. Sie verliert ihre Fähigkeit, wahre Größe zu erkennen, und verliert deshalb auch ihre eigene Größe. Ihre Fähigkeit hat sie verloren, weil es nirgends mehr wahre Größe gibt, die es zu erkennen gilt.

Der drohende Verlust des Staunens

Wo es keine Größe mehr gibt, gibt es auch nichts mehr zu staunen. Die “Entzauberung der Welt”, von der Max Weber sprach, verdankt sich nicht zuletzt der Reduktion der Vernunft von umfassender Wertrationalität auf bloße Zweckrationalität. Vernunft wird reduziert auf intelligente Technik zur Erreichung jener Zwecke, die uns unsere Bedürfnisse vorgeben. Sie bewährt sich in Naturbeherrschung zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung. Wirklichkeit, die nur noch benutzt wird, kann nicht mehr bestaunt werden. Eine Philosophie, die solchen Wegen folgt, hat das Staunen verlernt. Das ist dann nicht mehr die Philosophie, die Aristoteles meinte, als er an ihrem Anfang das Staunen verortete. Deshalb braucht die Philosophie einen neuen Anfang.

“Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne” (Hermann Hesse): Brauchen wir also eine Wiederverzauberung der Welt? Eher eine neue Fähigkeit zum Staunen. Der Positivismus hat die Philosophie enthauptet, schreibt Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie und Lehrer der heiligen Edith Stein. Positivismus ist die Reduktion der Wirklichkeit auf wertneutrale Fakten. Wir brauchen wieder den Blick für wahre Größe, die Sehfähigkeit der Vernunft für all das, was in sich wertvoll und staunenswert ist. Dadurch gewinnt auch die Vernunft ihre eigene Größe zurück.

Der Glaube ermutigt die Vernunft zum Neuanfang

Der Glaube, so schreibt Ratzinger, kann der Vernunft ihre Größe zurückschenken, denn “er steht nicht gegen sie, sondern fordert sie heraus, sich das Große zuzutrauen, zu dem sie geschaffen ist”. Wie kann – so müssen wir nun weiterdenken – der Glaube dies leisten? Der Glaubende nimmt das Zeugnis der Apostel über den Logos ernst, der die Welt erschaffen hat: “Wir haben seine Herrlichkeit gesehen” (Joh 1, 14).

Dieses Ernstnehmen führt zu einem neuen Wahrnehmen. Der Glaube ermutigt die Vernunft zu einem neuen Anfang, der darin besteht, sich jener Herrlichkeit zu öffnen und deren Spuren in der Schöpfung neu zu entdecken – in der aufgeklärten Gewissheit: Sie sind keine bloßen Vorspiegelungen unserer Bedürfnisse. Es gibt mehr als bloße Fakten. Es gibt in sich Wertvolles und Gutes, es gibt Herrlichkeit, und in der Welt ist deren Gipfel der Mensch selbst, der aufgrund seiner Vernunft eine Würde besitzt, die Gottes Herrlichkeit widerspiegelt.

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