Freiheit, die sich an der Natur orientiert
Beim Kongress des Jérôme-Lejeune-Bioethik-Lehrstuhls hat der Präfekt des Glaubensdikasteriums “Humanae vitae” als gültige Antwort des Lehramts herausgehoben
Quelle
Humanae vitae – Die prophetische Enzyklika | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Humanae vitae ist heute sogar aktueller, als zur Zeit ihrer Veröffentlichung | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Jérôme-Lejeune
03.06.2023
Andrzej Kucinski
Mit den Adjektiven “gewagt, prophetisch, aktuell” hat Monica López, Professorin für Molekularonkologie und Bioethik am Internationalen Lehrstuhl “Jérôme Lejeune”, die berühmteste Enzyklika von Paul VI. beschrieben, als sie am 19. Mai in Rom den zweitägigen Kongress “Humanae vitae, das Wagnis einer Enzyklika über Sexualität und Fortpflanzung” eröffnete. Die Tagung mit mehreren hundert Teilnehmern sollte deutlich machen, dass der Wagemut des Montini-Papstes, inmitten der sexuellen Revolution die moralische Wahrheit über die menschliche Sexualität zu bestätigen und zu präzisieren, seiner Enzyklika vom Juli 1968 verständlicherweise den Platz unter den kontroversesten päpstlichen Dokumenten bescherte.
Eine Verknüpfung, die der Mensch nicht eigenmächtig auflösen darf
Die Kontroverse auf das Pillenverbot zu reduzieren, wie es bis heute abschätzig geschieht, ist jedoch ein eklatantes Verkennen der Tiefe und Reichweite von “Humanae vitae”. Denn der eigentliche Sprengstoff – wie mehrere Kongressbeiträge nahelegten – war nicht die Erläuterung der unerlaubten Wege der Empfängnisregelung unter Nummer 14 der Enzyklika, sondern lag in der Herausstellung einer “von Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinngehalte – liebende[r] Vereinigung und Fortpflanzung –, die beide dem ehelichen Akt innewohnen” (Nr. 12).
Das sei eine Verknüpfung, die “der Mensch nicht eigenmächtig auflösen [darf]”. Diese Wahrheit über den ehelichen Akt, die zugleich die Wahrheit der Ehe als solche ausmache, spiegele eine integrale Vision der Person wider und mache aus der Enzyklika ein “anthropologisches Angebot”, wie es Elena Postigo, Professorin für Philosophie und Bioethik an der Madrider Francisco-de-Vitoria-Universität, formulierte.
Zwei dramatisch einander widersprechende Sichtweisen
So kamen bei der Tagung grundlegende anthropologische Themen wie Freiheit, Natur, Liebe, Gewissen und Transzendenz zur Sprache. Gleich am Anfang hatte Kardinal Luis Ladaria, Präfekt des Glaubensdikasteriums, in diesem Sinne die Weichen gestellt, indem er den “wahren Wagemut” der Enzyklika auf der Ebene der Anthropologie ansiedelte (siehe DT vom 25. Mai). Bei der Lehre der Kirche einerseits und der Ideologie der sexuellen Revolution andererseits handele es sich um zwei dramatisch einander widersprechende Sichtweisen der menschlichen Person und deshalb auch ihrer Freiheit, Natur, Sexualität und Liebe, erklärte auf derselben Linie Michele Schumacher, Dozentin an der Universität von Fribourg.
Eine Freiheit, die sich bar jeder Bindung an die menschliche Natur als eigenes Lebensprojekt gestalte, habe keine objektive Teleologie und strebe damit nicht einer Vollendung entgegen, während eine Freiheit, die im Dienst der Liebe gelebt werde, den Menschen zu seiner Fülle führe: “Die Freiheit ist das Mittel, die Liebe – das Ziel”, zitierte Schumacher Karol Wojtyła.
Koppelung von Ethik und Anthropologie
Schumacher erinnerte daran, dass die für das menschliche Handeln normativ relevante Natur nicht die bloß biologische Ausstattung, sondern die Vernunftnatur meine. Die Dozentin verdeutlichte dabei die Bedeutung des Wortes “Sinngehalt”: Es sei mehr als “Zweck”, denn es beinhalte – außer der objektiven Hinordnung auf ein “Telos” – auch das Verständnis desselben. Dementsprechend sei es möglich, mittels der Vernunft den eigenen Leib mit seinen natürlichen Rhythmen kennenzulernen und dieses Wissen im Rahmen einer verantworteten Elternschaft einzusetzen.
Mit dem Hinweis auf den Transzendenzbezug der menschlichen Natur fügte wiederum Postigo dem Programm ihrer Wiederherstellung – im Rahmen einer notwendigen Koppelung von Ethik und philosophischer Anthropologie – ein krönendes Element hinzu, da die postmoderne Idee einer “fluiden Natur”, die sich selbst “setzt”, keinerlei Fundament für irgendetwas bieten könne. In diesem Kontext entfaltete schließlich Pia de Solenni, Moraltheologin von der Päpstlichen Universität Santa Croce, das Thema des Gewissens, das “von der Wahrheit nicht dispensiert, sondern zu ihr führt”, wie sie mit Bezug auf Joseph Ratzinger feststellte. Das Gewissen solle sich dem göttlichen Gesetz im Licht der Lehrautorität der Kirche anpassen, da unser geschöpflicher Charakter uns immer auf den Schöpfer angewiesen mache.
Folgen von Verhütungsmitteln und die Technisierung der Macht
Die anthropologische Grundlegung von “Humanae vitae” war auf der Tagung mit direkter Praxisrelevanz verflochten. Mehrere Wissenschaftler konzentrierten sich auf die verheerenden Effekte des flächendeckenden Gebrauchs von Verhütungsmitteln. 250 bis 300 Millionen Frauen würden hormonelle Antikonzeptiva benutzen, schätzte Pilar Vigil, Chirurgin und Gynäkologin an der Katholischen Universität von Chile, und zählte mögliche Nebenfolgen auf: Übelkeit, Kopfschmerzen, Erschöpfung, Libidoverlust, erhöhtes Risiko für Stoffwechselstörungen, Infektionen, Brust- und Gebärmutterhalskrebs sowie Depressionen, abgesehen von der Beschädigung von Gehirnfunktionen, insbesondere während der Adoleszenz.
Auf der Makro-Skala erkenne man, anstatt des neo-malthusianischen Schreckgespenstes der Überbevölkerung, eher die Risiken eines demographischen Rückgangs – merkte Jean-Marie Le Méné, Vorsitzender der Jérôme-Lejeune-Stiftung an. Le Méné erinnerte in diesem Kontext an die berühmt gewordenen Worte des Bioethikers Lejeune selbst: “Verhütung heißt – Liebe ohne Kind; extrakorporale Befruchtung – Kind ohne Liebe; Abtreibung – kein Kind und die Pornographie – keine Liebe.” Auf diese Weise werde die in der Enzyklika betonte Pflicht der Eheleute, das Leben weiterzugeben, durch eine “Technisierung der Macht” abgelöst, um “lebenswertes Leben” zu schaffen.
Verhütungsmentalität führt zur Kultur des Todes
Die Kontrolle über die Quellen des Lebens sei nur durch technische, also verschiebbare Grenzen limitiert. Die “Befreiung” der Selbstverwirklichung der Eheleute von der Fruchtbarkeit machten dagegen die Heterosexualität, Monogamie und Treue in der Ehe auf dem Weg zum Aufbau einer neuen, transhumanen Ordnung obsolet. Deren Konturen anhand voraussehbarer bioethischer Probleme zeichnete Postigo auf: Embryo mit drei Elternteilen oder Spendern, Embryo aus Stammzellen, asexuelle Befruchtung, biologisch synthetisierte und genetisch modifizierte Embryonen, künstliche Gebärmutter beziehungsweise Ektogenese.
Dabei führe die Verhütungsmentalität sachlogisch zur Kultur des Todes. Denn die durch Verhütung ermöglichte permissive Sexualität und die antinatalistische Einstellung bewirkten die Entnaturalisierung der menschlichen Liebe und die Zerstörung des menschlichen Lebens. So hat es John Haas, emeritierter Vorsitzender des Nationalen Zentrums für Bioethik in den USA, am Beispiel von “Planned Parenthood” dargelegt: Diese Organisation sei vom größten Befürworter der Verhütung zum größten Abtreibungsanbieter weltweit geworden. Die Statistiken lügen nicht: Die meisten Frauen, die abtreiben, haben vorher verhütet. Der prophetische Paul VI., der in “Humanae vitae” bestimmte Folgen der Verhütungsverbreitung geahnt hat, hat Recht behalten.
Natürliche Mechanismen der Fruchtbarkeit
Das Alternativmodell der Liebe und des Lebens, wie es die Enzyklika und die katholische Lehre vorlegen, sei jedoch ein universales Angebot. Die Teilnehmer blieben nämlich nicht bei schwarzen Szenarios, sondern präsentierten auch mögliche Heilungswege. Hoffnungsvoll klingen Erfahrungen von Menschen, die zum ersten Mal von einem erfüllten sexuellen Leben mittels gegenseitiger Hingabe und Respekt gegenüber der periodischen Fruchtbarkeit der Frau hören und dann fragen, warum ihnen dies vorher niemand erklärt habe. Die Rückkehr zur menschlichen Natur als einer zielorientierten Vorgegebenheit mit Transzendenzfähigkeit sei möglich. Die natürliche Familienplanung auf Basis der Kenntnis der eigenen Fruchtbarkeit wirke befreiend.
Schließlich werde seit langem an einem Gerät gearbeitet (FemCheck), das mit fast 100-prozentiger Sicherheit diese Kenntnis den Paaren ermöglichen solle. All dies wäre nicht ohne die Vorarbeit von “Hobbits” möglich, wie sie Professor Vigil genannt hat: Wissenschaftler, die ihr Leben dem Ergründen von natürlichen Mechanismen der Fruchtbarkeit gewidmet hätten. Verständlich der Schlussappell von Professor Lopez: “Wie wichtig ist es, dass unsere Hirten, Kardinäle, Bischöfe und Priester das Volk Gottes in dieser Materie unterweisen!”
Menschenwürdige Integration der Sexualität in die Ehe
Als Veranschaulichung der Wahrheit von “Humanae vitae” dienten Zeugnisse von einigen Ehepaaren, die in ihrem Leben diesen schwierigen, aber erfüllenden Weg der menschenwürdigen Integration der Sexualität in die Ehepraxis gegangen sind. Manche hätten es in ihrer eigenen Herkunftsfamilie als vorgelebt entdeckt, andere seien dazu auf Umwege über die durch Verhütung verursachten Leiden gekommen. Durchgehend hing dies mit Glaubens- beziehungsweise Umkehrerfahrungen in der katholischen Kirche zusammen, manchmal mittels Unterstützung von geistlichen Gemeinschaften wie Schönstatt oder dem Neokatechumenalen Weg.
Der kirchliche Mainstream in Deutschland vermittelt den Eindruck, man würde mit seiner neuen Sexualmoral auf ähnliche Bestrebungen in der Weltkirche stoßen. Mag dies sicher in einigen Fällen zutreffen, so bekam man bei diesem Kongress einen anderen Eindruck: Die zahlreichen teilnehmenden Experten unter anderem aus den berühmten “Humanwissenschaften” – Ärzte, Ethiker, Theologen, Philosophen –, aus vier Kontinenten sprachen miteinander in vier Kongress-Sprachen, nicht aber auf Deutsch. Der Rhein fließt diesmal ganz bestimmt nicht in den Tiber.
Der Autor ist Theologe und arbeitet derzeit im vatikanischen Glaubensdikasterium.
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