‘Erinnern und Versöhnen’

Internationale Theologische Kommission – ‘Erinnern und Versöhnen’ – Die Kirche und die Verfehlungen in der Vergangenheit

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Internationale Theologische Kommission – ‘Erinnern und Versöhnen’ – Die Kirche und die Verfehlungen in der Vergangenheit

Vorwort des Herausgebers

Der Aschermittwoch des Heiligen Jahres 2000 der Menschwerdung des Sohnes Gottes wird die Welt in Erstaunen versetzen. In Rom, dem Ort des Martyriums der Apostel Petrus und Paulus, will Papst Johannes Paul II. als universaler Hirte der Kirche Gott öffentlich um Vergebung bitten für die Schuld ihrer Söhne und Töchter.

Ist diese Vergebungsbitte Ausdruck ungebrochener Glaubensstärke der katholischen Kirche, oder meldet sich ein Zweifel an ihrer Sendung? Kapituliert sie vor kirchenfeindlicher Polemik, oder handelt es sich gar um einen Propagandatrick, um ihre Kritiker zu beschwichtigen?

Diesen Akt der Vergebungsbitte kann man in seinem Sinn und Ziel nur verstehen, wenn man sich einlässt auf das Selbstverständnis der Kirche. Sie versteht sich nicht als eine von Menschen organisierte Gesellschaft, die mit einem von Menschen ausgedachten religiösen und ethischen Programm vor die Welt tritt.

Vielmehr ist mit der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils (21.11.1964) zu sagen: “Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Gründung offenbar” (Lumen gentium4). Die Kirche verdankt sich in ihrem Ursprung und in ihrem Auftrag dem Heilswillen des dreifaltigen Gottes gegenüber der ganzen Menschheit.

Seinen universalen Heilswillen hat Gott, der Vater Jesu Christi, in der Menschwerdung seines Sohnes und in der Ausgiessung seines Geistes geschichtlich konkret in Raum und Zeit durch Jesus Christus verwirklicht, so dass er allein der von Gott geoffenbarte Mittler zwischen Gott und den Menschen ist (vgl. 1 Tim 2,4f.): “Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen” (Apg 4,12).

Durch die Gemeinschaft der an ihn Glaubenden führt der von den Toten auferstandene Herr seine Sendung bis ans Ende der Geschichte fort. Er bleibt für immer bei seinen Jüngern, und durch sie ruft er die Menschen zum Glauben und erhellt damit das Rätsel menschlicher Existenz. Im Licht Christi kann jeder Mensch seine höchste Berufung erkennen: die Gemeinschaft mit dem Gott der dreieinigen Liebe und mit allen Menschen, die ihn gesucht und gefunden haben.”Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ist das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet” (Joh 1,9.14.18). Er lässt seine Herrlichkeit auf dem Antlitz der Kirche widerscheinen, damit seine Kirche durch die Verkündigung der Botschaft vom ewigen Leben immer neu werde, was sie in ihrer Gründung im Geheimnis Christi ist.

“Die Kirche ist ja in Christus gleichsam Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit” (Lumen gentium1).

Die Kirche ist heilig, weil sie das Heilsinstrument des heiligen Gottes ist, der im Gang der Geschichte durch die Kirche seinen Heilswillen auf alle Menschen bezieht und in ihr jeden einzelnen persönlich anspricht. Deshalb ist sie unzerstörbar im Bekenntnis der Heilstaten Gottes, in ihrem Glauben, ihrer Lehre und in den sakramentalen Lebensvollzügen, die Christus ihr eingestiftet hat. Weder innerer Zerfall noch Feindschaft von außen, die alle menschlichen Gemeinschaftsgebilde in ihrem Bestand bedrohen, werden sie jemals überwinden (Mt 16,18). Aber die Kirche des dreieinigen Gottes besteht auch aus Menschen, die auf dem Weg ihres Glaubens immer versagen und der Versuchung zur Sünde verfallen können. Zur Kirche als der in der Welt sichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden in ihrer sichtbaren Gestalt gehören darum immer auch Sünder. 

“Die Kirche ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Busse und Erneuerung. Die Kirche ‘schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin’ (Augustinns, Civ. Dei, XVIII, 51,2) und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl.1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermassen wie äussere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird” (Lumen gentium, 8). 

Somit gehört zum Weg der Kirche auch das Bekenntnis zur Erneuerung und die Bitte um Vergebung (ecclesia semper reformanda). Die Kirche gewinnt damit an Glaubwürdigkeit vor Gott und den Menschen. Sie dient der Einheit der Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionsrichtungen und Weltanschauungen, wenn sie um Vergebung bittet für das Übel, das in der Vergangenheit von Gliedern der Kirche und gerade auch von ihren Repräsentanten den Menschen anderer Gemeinschaften zugefügt worden ist. Zwar gibt es keine Kollektivschuld, deren Zurechnung eine Verletzung der ethischen Verantwortung jeder Person für ihre eigenen Taten wäre. Aber Verantwortung, Schuldübernahme und Bitte um Verzeihung dienen einer “Reinigung des Gedächtnisses”, das Menschen und Menschengruppen auch über die Generationen miteinander verbindet oder trennt und gegeneinander aufbringt. Die Formulierung “Reinigung des Gedächtnisses”, wörtliche Wiedergabe des italienischen Ausdrucks “purificazione della memoria”, bedeutet eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen, von der Sünde entstellten Vergangenheit der Gemeinschaft, der man angehört. Dadurch soll die Möglichkeit der Versöhnung eröffnet werden. Nicht gemeint ist damit ein Sich-Reinwaschen, das auf ein Verdrängen oder blosses Vergessen von Schuld hinausläuft und einen endgültigen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen will. Ziel ist eine “versöhnte Erinnerung” an die Wunden, die man sich in der Vergangenheit zugefügt hat (vgl. unten 5.1).

Das theologische Verständnis von Sein und Sendung der Kirche hat auch unmittelbare Auswirkung auf das Verständnis und die Interpretation ihrer Geschichte. Die theologisch-wissenschaftliche Disziplin “Kirchengeschichte” hat zwei Extreme zu vermeiden, die bei allem Gegensatz im gleichen falschen Bild von Kirche zutiefst miteinander verbunden sind. Zu vermeiden ist eine Apologetik, die alle Schattenseiten und alles Versagen herunterspielt oder leugnet. Töricht und unfruchtbar wäre auf der anderen Seite aber auch eine fundamentalistische Kritik, der es um den Aufweis geht, dass die Kirche nicht von Gott kommen kann und dass sie im innersten Wesen korrumpiert sei, wenn man sie an ihren Idealen misst.

Von dieser Seite her wird der katholischen Kirche eine aus immer den gleichen Punkten bestehende Kurzlitanei vorgehalten: Kreuzzüge – Inquisition Hexenwahn – Wissenschaftsfeindlichkeit – Intoleranz. Neuerdings sind weitere Elemente hinzugetreten. Man macht das Christentum verantwortlich für den ausbeuterischen Umgang des Menschen mit der Schöpfung. Man bezichtigt die katholische Kirche der Sexualfeindlichkeit und der Behinderung der Emanzipation der Frau. Dieser Kanon der Kritik an allem, was mit der katholischen Kirche zusammenhängt, bleibt dem engen eurozentrischen Horizont der westlichen Welt zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert verhaftet. Er ist markiert von globalen Vorwürfen und Schuldzuweisungen aus der konfessionalistischen Polemik des 17. Jahrhunderts und der folgenden Epoche der Religionskritik, im Rationalismus der Aufklärung, der antikirchlichen Propaganda des Liberalismus sowie der totalitären Ideologien des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Dies beschränkt sich auf das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft und ihren Institutionen. Genau genommen reduziert sich der “Kanon der Kritik” auf die Epoche der abendländischen Christenheit, das sogenannte “Mittelalter”, als Kirche und weltliche Gesellschaft fast ununterscheidbar miteinander verflochten waren. Neuere Kritikpunkte sind nur die Nachwirkungen des Bildes, das sich seit dem 18. Jahrhundert im westlichen Europa bei meist klischeehafter und vorurteilsbefrachteter Interpretation des “Mittelalters” verfestigt hat. Geschichte soll nicht möglichst objektiv erforscht werden in ihren kulturellen, sozialen und mentalen Bedingungen und in den Motivationen ihrer handelnden Personen. Kirchengeschichte wird instrumentalisiert, um die Kirche als Gegenmacht zu den Idealen von Freiheit, Autonomie, Wissenschaft und Fortschritt zu desavouieren. Von dieser Seite ist kaum zu erwarten, dass das mea culpa der Kirche mit einem mea culpa der Anhänger dieser Geistesrichtungen für all das beantwortet wird, was im Namen dieser Ideale den Christen und den Menschen anderen Glaubens an Leid zugefügt worden ist. Sie werden sich in ihrer Anklagehaltung bestätigt fühlen und um so lauter der katholischen Kirche entgegenrufen: “Tua sola culpa ist seit zweitausend Jahren Christentum die Welt nicht besser geworden”. Zu erwarten ist sicher auch, dass gegenwärtige innerkirchliche Spannungen in diese Vergebungsbitte hineinprojiziert werden. Es wäre nur eine weitere Form der Instrumentalisierung der Kirchengeschichte, wenn Christen – Glieder am Leib Christi, der die Kirche ist – den Papst zur Vergebung  nötigen wollten für das, was sie für ein Versagen der Kirche angesichts der Herausforderungen der Gegenwart halten, wenn z.B. manche den Zölibat der Priester in der lateinischen Kirche fälschlicherweise für einen Missstand halten, der mit dem Menschenrecht auf Ehe in Konflikt stehe, oder wenn sie die Lehre von der dem Mann vorbehaltenen Weihe mit den Themen der Vergebungsbitte vermengen, weil sie meinen, dass, ähnlich wie im Fall Galilei, die Tradition der Kirche von falschen naturwissenschaftlichen Annahmen ausgehe.

Die Vitalität der Kirche Jesu Christi erweist sich darin, dass sie die Gerechtigkeit des Schuldbekenntnisses für das Versagen in der Vergangenheit nicht zur Bedingung eines neuen Miteinanders machen muss. Sie hat die Kraft, den ersten Schritt zu tun. Die Kirche traut sich dies zu, weil sie um die Gabe der Heiligkeit weiss, aus der sie lebt und die sie ihrer Sendung zum Heilsdienst an den Menschen gewiss macht. Darum kann sie sich auch zu der Tatsache bekennen, dass es im Laufe ihrer Geschichte – gemessen am Evangelium, das sie zu allen Zeiten, auch durch den Mund ihrer sündigen Glieder, verkündet  hat, und an den geistigen Erfordernissen der jeweiligen Geschichtsepoche – persönliche Sünden, erschreckendes Versagen, unangemessenes und unverantwortliches Handeln ihrer Glieder und ihrer  Repräsentanten gegeben hat. In diesem Sinn  kann man auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen, besonders wenn sie von denen begangen wurden, die ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln. Es geht um das Handeln der Kirche in ihrer Auswirkung auf die zivile Gesellschaft und ihre Institutionen (Staat, Kultur, Wissenschaft, Kunst, Rechtsordnung u.a.). Nicht gemeint ist in diesem Zusammenhang die Infallibilität in der Auslegung der Offenbarung und die Wirksamkeit der sakramentalen Heilsvermittlung, die der Kirche anvertraut sind und die vom Geist Gottes vor Korruption und Zersetzung bewahrt werden (Lumen gentium, 25)

Papst Johannes Paul II. wagt als Repräsentant der universalen Kirche diesen Schritt im Dienst an der geschichtlichen Wahrheit, wenn er um Vergebung bittet für Sünden und Fehlleistungen der Kirche und ihrer Glieder in der Vergangenheit. Die Kirche lässt sich führen von Christus, der nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen, der seinen Jüngern mit dem Dienst der Fußwaschung ein Beispiel der Demut geschenkt hat

Die kritische Überprüfung der Vergangenheit und die Bitte um Vergebung für die Wunden, die im kollektiven Gedächtnis der religiösen und kulturellen Gemeinschaften zurückgeblieben sind und destruktiv nachwirken, hat als Ziel die Versöhnung unter den Menschen, die heute diesen Gemeinschaften angehören.

Die Internationale Theologische Kommission hat den Auftrag erhalten, mit einer wissenschaftlichen Studie diesen Akt der Vergebungsbitte vorzubereiten und in seinem tieferen Sinn zu erläutern. 

Unter der Leitung von Prof. Dr. Bruno Forte (Neapel) hat eine Subkommission den Text “Memoria e riconciliazione. La Chiesa e le colpe del passato” erarbeitet. Als Mitglieder gehörten ihr an die Professoren Roland Minnerath (Strassburg), Christopher Begg (Washington D.C.), Francis Moloney S.D.B. (Washington), Anton Strukelj (Ljubljana, Slowenien), Thomas Norris (Maynooth, Irland), Jean-Louis Bruguès O.P. (Fribourg) und Rafael Salazar Cardenas M.Sp.S. (Guadalajara, Mexico). Er wurde in zwei Vollversammlungen der Internationalen Theologischen Kommission ausführlich diskutiert, nach Einarbeitung mehrerer Modi in forma specifica gebilligt und ihrem Präsidenten, Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, vorgelegt, der ihn für die Veröffentlichung genehmigt hat.

Im Auftrag des Vorsitzenden der Internationalen Theologischen Kommission, des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger, wird der Text veröffentlicht und hier den Lesern deutscher Sprache vorgestellt.

Zu beachten ist das eigene literarische Genus einer solchen Publikation. Man kann von ihr nicht die Geschlossenheit und den einheitlichen Duktus einer wissenschaftlichen Monographie eines Einzelautors erwarten. Die Stufen der Erarbeitung und der Endredaktion sind ebenso zu erkennen wie sich im Text die vielfältigen Perspektiven der Kulturen, der geographischen Räume und der historischen Perspektiven widerspiegeln. Deutlich zeichnet sich der Fächer theologischer Stile ab, in dem sich die Pluralität der Weltkirche präsentiert.

Bei dem Text der Kommission handelt es sich nicht um das offizielle Schuldbekenntnis der Kirche, das vom Papst am Aschermittwoch persönlich vorgetragen und das von ihm als Vertreter der universalen Kirche verantwortet wird. Es ist aber auch keine kirchengeschichtliche Spezialuntersuchung zum Thema “Kirche und Schuld in der Vergangenheit”. Man wird wohl der literarischen Eigenart dieses Textes am besten gerecht, wenn er als eine Interpretationshilfe betrachtet wird, die von Fachleuten für Exegese, Kirchengeschichte und Ekklesiologie erarbeitet wurde, die – von den Bischofskonferenzen als Repräsentanten der Theologie ihrer Länder vorgeschlagen – sich durch Kompetenz und Treue zum Lehramt der Kirche auszeichnen. Im Licht der hier zusammengestellten theologischen Kategorien und hermeneutischen Prinzipien können sich Sinn und Tragweite dieser in der bisherigen Kirchengeschichte einmaligen Liturgie der Busse und der Vergebungsbitte erschliessen und mitvollziehen lassen, die der Heilige Vater zu Beginn der Österlichen Busszeit des Heiligen Jahres 2000 mit der ganzen Kirche und in ihrem Namen feiern möchte. Liturgie ist immer Lob und Verherrlichung Gottes (confessio laudis), der uns die Sünden vergibt, die zu bekennen er uns die Kraft geschenkt hat (confessio peccati).

Von Jesus Christus, dem Sohn Gottes belehrt, sprechen seit 2000 Jahren Christen Gott als ihren Vater an und bitten ihn: “Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind” (Lk 11,4).

Wer ist mehr zu diesem Schuldbekenntnis im Namen der katholischen Kirche ermächtigt als der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, dem Christus im Abendmahlssaal Verleugnung und Umkehr vorausgesagt hatte? Es ist derselbe Apostel, dem der Herr auch die Verheissung gegeben hat: 

“Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich einst bekehrt haben wirst, dann stärke deine Brüder” (Lk 22,32).

München, den 22. Februar 2000, am Fest Cathedra Petri 

Gerhard Ludwig Müller

 

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