Die Kirche als der mystischen Leib Christi
Predigtreihe: Die Kirche – Werk und Sendung Christi (Teil 4)
Quelle
Im Geist und in der Wahrheit
Predigtreihe: Die Kirche – Werk und Sendung Christi (Teil 4) – 30. Oktober 2005
Die Kirche als der mystischen Leib Christi
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In der Epistel, die soeben verlesen wurde, steht der Satz: „Christus ist das Haupt seines Leibes.“ Die Kirche ist der Leib Christi. Wir sprechen von dem mystischen Leibe, von dem geheimnisvollen Leibe Christi, der die Kirche ist. Das soll das Thema unserer heutigen Überlegungen sein: Die Kirche ist der mystische Leib Jesu. Jesus hat also gleichsam zwei Leiber, seinen natürlichen Leib, den er von der Jungfrau Maria annahm, und seinen mystischen Leib, der ihm von allen Weltteilen zuwächst, je nachdem, wie seine Kirche sich ausbreitet.
Um dieses Geheimnis zu verstehen, hat uns der Heilige Geist in der Heiligen Schrift Hilfen gegeben, Bilder, die verdeutlichen, was damit gemeint ist. Das erste Bild ist jenes vom lebendigen Bau. Das Bild stammt vom Apostel Petrus. Er sagt den Christen in einem Hirtenschreiben: „Lasst euch als lebendige Steine aufbauen zu einem geistigen Tempel!“ Lasst euch als lebendige Steine aufbauen zu einem geistigen Tempel. Also: Die Kirche ist ein Bau, aber nicht ein Bau aus Steinen – wie dieses Gebäude –, sondern ein geistiger Bau, ein geistiger Bau aus lebendigen Bausteinen, harmonisch zusammengefügt zu einem Tempel im Geiste, eine lebendige Einheit aus lebendigen Menschen. Im Epheserbrief heisst es ähnlich: „Ihr seid aufgebaut auf dem Grunde der Apostel und der Propheten, und Jesus Christus ist der Eckstein. In ihm ist der ganze Bau zusammengefügt und wächst empor zu einem heiligen Tempel im Herrn.“ Also jetzt ahnen wir, was gesagt werden soll: Es gibt einen mystischen Leib Christi. Es ist das ein Bau, aber ein Bau nicht von dieser Welt, sondern ein Bau aus übernatürlichen Bausteinen, nämlich aus den im Heiligen Geist versammelten Menschen.
Das zweite Bild stammt von Christus selbst, nämlich er spricht davon: „Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt viele Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Das Bild ist uns, die wir in einer Weingegend leben, ohne weiteres verständlich. Der Weinstock ist es, der die Säfte in die Zweige treibt, der bis ins letzte Zweiglein hinein seine Kraft ausströmt, und dann blüht der Weinstock, und dann treibt er Blätter, und dann bringt er Früchte. Wir wissen: Ohne den Weinstock können die Rebzweige nichts tun, die Zweige können nichts hervorbringen, wenn nicht der Weinstock, in der Erde verwurzelt, ihm seine Kraft zuleitet. So ähnlich ist es mit der Gemeinschaft in Christus. Er ist der Lebensspender; von ihm geht der Strom der Gnade aus, der uns Kraft und Fruchtbarkeit schenkt.
Und schliesslich das entscheidende Bild, das vom Apostel Paulus stammt: „Ihr seid der Leib Christi. Wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat und die Glieder des Leibes trotz ihrer Vielheit nur einen Leib ausmachen, so verhält es sich auch mit Christus. Denn in der Taufe sind wir alle durch einen Geist zu einem Leib verbunden.“ An einer anderen Stelle: „Wir vielen zusammen bilden einen Leib in Christus, einzeln aber sind wir untereinander Glieder.“ Er will damit sagen: Wie in einem Bau die Bausteine harmonisch zusammengefügt sind, dass ein Tempel entsteht, so ist es auch beim Leibe. Der menschliche Leib ist ja auch eine Einheit mit vielen Gliedern. Und wie im Rebstock die Zweige von den Säften leben, die aus dem Rebstock kommen, so geht auch durch den Leib Christi ein Lebensstrom durch alle Glieder.
Der geheimnisvolle Leib Christi, die Kirche, ist ein mystischer Leib, das heisst eben kein natürlicher Leib. Mystisch besagt nicht etwas Unwirkliches oder etwas Erdachtes, sondern etwas Geheimnisvolles, das wir nicht ganz durchdringen können. In diesem geheimnisvollen Leib ist der natürliche Leib Christi mit seiner Seele und Gottheit das Haupt. Und wir Menschen, die wir an ihn glauben und durch ihn lebendig sind, sind seine Glieder. Wenn wir es also einfach ausdrücken wollen: Wir sind gleichsam ein Stück von Christus. Christus und wir zusammen sind eine Art Gross-Christus. Der heilige Augustinus schreibt einmal: „Lasst uns frohlocken und dankbar sein. Wir sind nicht nur Christen geworden, wir sind Christus geworden. Begreift ihr die Gnade Gottes über uns? Wir sind Christus geworden!“ Damit will er ausdrücken: Dadurch, dass wir zu einem Leib mit ihm zusammengefügt sind, sind wir ein Stück von Christus. Der heilige Paulus hat dieses Geheimnis lebendig erfahren. Als er nach Damaskus ritt, um dort die Christen zu verfolgen, umstrahlte ihn ein Licht, und er stürzte vom Pferde. Jesus erschien ihm. „Wer bist du, Herr?“ fragte er. „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Ja, er hat doch gar nicht Jesus verfolgt; er hat doch die Christen verfolgt? Jesus kann deswegen sagen: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“, weil die Christen eins sind mit ihm, weil sie ein lebendiger, geheimnisvoller Leib mit ihm sind. Christus ist das eigentliche Ich der Kirche, und die Kirche ist der von den Christuskräften durchrieselte Leib. Die Sakramente machen uns nur bewusst, dass Christus der Spender des Lebens in diesem Leibe ist, und zwar als das Haupt.
Paulus nennt Christus das Haupt des mystischen Leibes. Wir wissen, was ein Haupt ist. Wenn man einen Menschen enthauptet, dann hört das Leben mit Sicherheit auf. Wenn man ihm einen Arm abschneidet, nicht. Das Haupt ist eben das Zentrum des Menschen. Das Haupt ist ein Glied, aber ein Glied besonderer Art. Es lenkt und leitet alles. Von ihm gehen alle Nervenverbindungen aus, und in ihm sind alle Sinne vereinigt. Alle Bewegungen gehen von ihm aus, alle Empfindungen werden zu ihm zurückgeleitet. Kein Glied kann etwas tun und kann etwas leiden, ohne dass das Haupt mittätig ist und mitleidet. So ähnlich-unähnlich ist Christus das Haupt der Kirche. Er ist eines Wesens mit uns, Mensch wie wir, freilich mit der Gottheit verbunden, und doch unendlich über uns erhaben. Er ist mit uns eins, und wir sind seine Glieder.
Christus steht mit den Gläubigen in lebendiger persönlicher Verbindung. In der jetzigen Heilsordnung wird jede Gnade von Christus verdient, vermittelt und uns zugeleitet. Sein Leben strömt buchstäblich in uns. Und deswegen kann Paulus sagen: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Er betet in mir, er arbeitet in mir, er leidet in mir. Er ist mir durch seine Gnade zuinnerst gegenwärtig. So verstehen wir, wenn der Heiland sagt: „Ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist. Ich war durstig, und ihr habt mich getränkt. Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Weil Christus in allen Brüdern lebt, kann Jesus so sprechen: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ „Ich habe den Bruder gesehen, ich habe den Herrn gesehen“, so sagten die ersten Christen.
Im Leibe gibt es eine Seele, und die Seele bewirkt, dass unser Leib lebt und wächst. Sie nimmt die Stoffe aus der Natur auf und bildet sie um, assimiliert sie, wie man das nennt, sie gliedert sie dem Leibe ein, sie lebt und wirkt im Leibe und in allen Gliedern. Und so eine Seele hat auch der mystische Leib Christi. Es ist der Heilige Geist. So wie der Heilige Geist den natürlichen Leib Christi aus der Jungfrau Maria gebildet und aufgebaut hat, so baut er auch den geheimnisvollen Leib Christi auf, indem er uns Christus angleicht und uns in ihn aufnimmt. Bei der heiligen Taufe ist dieses Wunder geschehen. Da haben wir die Gotteskindschaft, die Christusgliedschaft und die Geisterfülltheit erworben. In einem Augenblicke hat das Leben im Heiligen Geiste in uns begonnen. „Vivas in Spiritu Sancto“, so haben die ersten Christen einander zugerufen: Mögest im Heiligen Geiste du leben! Und diesen altchristlichen Gruss können wir uns auch zurufen und gleichzeitig das Wort des Paulus: „Löschet den Geist nicht aus!“
Die Glieder im Leibe sind alle miteinander verbunden. Wir wissen ja, dass unsere Glieder notwendig einander Dienste leisten. Von unserem Körper hat eigentlich nur das Auge die Sehkraft verliehen bekommen, aber das Auge sieht deswegen nicht für sich allein, es sieht für den ganzen Körper. Es sieht für die übrigen Glieder; denn wenn dem Fusse eine Gefahr droht, dann macht das Auge den Menschen darauf aufmerksam, dann wendet sich das Auge nicht ab, sondern es kommt dem Stoss zuvor. Oder denken Sie an die Hand. Die Hand hat viele, viele Arbeiten zu leisten, die sonst kein Glied des Körpers leisten kann. Aber arbeitet sie deswegen für sich allein? Keineswegs. Sie sorgt für alle anderen Körperteile mit. Wenn eine Stelle des Körpers bedroht ist, da rührt sich die Hand, denn sie wehrt den Schlag ab, auch wenn sie nicht selbst von diesem Stoss bedroht ist. So hat auch im geheimnisvollen Leib Christi jedes Glied seine Aufgaben und seine Gaben. Sie müssen alle füreinander sorgen und einander zusammen helfen.
Ja, das ist unsere Aufgabe, brüderlich einander verbunden zu sein im übernatürlichen und im natürlichen Leben. Wenn irgendwo einer von uns von der Kirche abfällt, dann schmerzt uns das alle. Wenn ein Glied vom Leibe Christi losgerissen wird, dann geht das alle anderen an. Wenn einer in der Versuchung kämpft, dann müssen die anderen mit ihm sorgen. Und auch wenn einer innerlich oder äusserlich in Not ist, dann leiden alle mit. Ebenso ist auch der Sieg des einen die Freude aller. Wo ein Martyrer gekrönt wird, da haben alle an diesem Triumph teil. Wenn die Kirche erhöht wird, dann spüren wir alle die Ehre. Jedes gute Werk, das einer tut, kommt allen zugute. Denn es gibt eine Gemeinschaft der Heiligen, d.h. der im Heiligen Geiste Lebenden, und in dieser Gemeinschaft wirkt einer für den anderen und wirken alle für einen.
So ist dieser Tag, meine lieben Freunde, wo wir über den Leib Christi nachdenken, geeignet, auch eine Gewissenserforschung zu halten, nämlich die Frage zu stellen: Bin ich ein lebendiges Glied am Leibe Christi? Ist meine Verbindung mit Christus innig und stark? Bin ich ein gesundes, ein brauchbares, ein nützliches Glied oder bin ich ein abgestorbenes, ein krankes, ein eiterndes Glied, das den Leib Christi entstellt, das die anderen um Verzeihung bitten müsste wegen der Schuld? Und wie stehe ich zu den Mit-Gliedern? Sind sie mir gleichgültig oder weiss ich um meine Verantwortung für sie? Bete ich für sie, für die Ringenden, für die Kranken, für die Sterbenden, für die Sünder, für die Verfolgten, für die Missionen? Wenn im Breviergebet, das wir Priester ja jeden Tag verrichten, die Lesungen aus dem grossen Papste Leo kommen, dann habe ich immer eine besondere Freude; denn was er schreibt, das ist inhaltlich und stilistisch weit erhaben über andere Kirchenväter. Und von diesem grossen Papst Leo habe ich gelesen das Wort: „Es ziemt sich, dass die Glieder zu ihrem Haupte passen. Sei dir bewusst, welches Hauptes, welches Leibes Glied du bist!“
Amen.
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