Leben und Sterben in Aleppo-West
In Aleppo, Syrien, regnet es weiter Bomben, und im UNO-Sicherheitsrat herrscht Stillstand:
Die Grossmächte konnten sich nicht auf die Bedingungen eines neuen Waffenstillstands einigen. Das einzig Neue ist, dass der scheidende UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen in Syrien durch den Internationalen Strafgerichtshof fordert; allerdings war ein ähnlicher Vorstoss schon 2014 im Sicherheitsrat an Russland und China gescheitert.
Nichts wirklich Neues also – ausser immer neuen Bomben. 517 getötete Zivilisten hat das „Syrische Observatorium für Menschenrechte“ seit dem 19. September in der geteilten und umkämpften Stadt gezählt. Antoine Audo, chaldäischer Bischof von Aleppo, erfährt das jeden Tag am eigenen Leib, zum Beispiel könne er gar nicht mehr sein gesamtes Bistum erreichen, wie er uns berichtet.
„Ich kann nicht für den Ostteil von Aleppo sprechen, weil wir von ihm keine direkten Nachrichten haben“, sagt Audo: „Man kann da nicht hingehen, auch wenn das nur einen Kilometer von uns entfernt ist. Was ist weiss, ist, dass dieser Ostteil der Stadt bombardiert wird. Dort halten sich bewaffnete Gruppen auf, deren genaue Zahl man allerdings nicht kennt. Alle sprechen von ihnen, aber keiner spricht von uns: In unserem Teil Aleppos leben zwei Millionen Menschen, darunter die christliche Minderheit aus Aleppo, oder was von ihr in der Stadt geblieben ist.“
Warum redet man nur über den Osten der Stadt?
Das Regime von Baschar al-Assad tut so, als wäre im Westteil von Aleppo, den die staatliche Armee kontrolliert, alles perfekt. Das soll die eingekesselten Menschen im Ostteil von Syriens grösster Stadt mürbe machen. Doch Bischof Audo (der übrigens auch der Caritas-Verantwortliche der syrischen Bischofskonferenz ist), sagt auf die Frage, ob auch in West-Aleppo Notstand herrscht: „Ja! Gestern zum Beispiel habe ich zwei chaldäische Familien besucht. Die eine hat Vater und Sohn verloren, das war bei den Bombardements von Ende September… Und dann die andere Familie im selben Viertel, Midan: Eine junge Frau, 16 Jahre alt, guckte mal gerade vom Balkon, da wurde sie von einer Bombe getroffen; sie lebt noch, aber mit schweren Verletzungen. Von morgens bis abends erleben wir solche schrecklichen Dinge. Wir sind ohne Strom, ohne Wasser, und keiner redet von uns – alle Infos drehen sich nur um den Ostteil der Stadt, wo sich diese bewaffneten Gruppen aufhalten. Wirklich, ich frage mich, wo die Objektivität bleibt…“
Aber natürlich sind die im Ostteil von Aleppo eingekesselten Menschen besonders übel dran, das weiss auch der Jesuit Antoine Audo. Haben Sie denn, so fragen wir ihn, nie versucht, Caritas-Hilfen in den Ostteil zu bringen? „Nein – das geht nicht! Es wäre viel zu gefährlich, den Ostteil zu betreten. Nein – wir arbeiten in ganz Syrien, überall wo wir hingelangen. Aber wo es bewaffnete Gruppen gibt, da ist das nicht möglich. Vor allem für uns als Christen, als Unabhängige: Es ist nicht möglich.“
Ununterbrochen in Gefahr
Noch einmal ein Blick auf den Westteil von Aleppo, in dem Bischof Audo und die chaldäischen Christen leben. „Wenn Sie zum Beispiel hierhin kämen, wo ich gerade bin, dann würden Sie sagen: Ist ja alles normal, man hört nichts, alles normal. Man weiss eben nicht, wann – auf einmal gibt es nicht-gezündete Bomben, die hochgehen und in diesem oder jenem Stadtviertel für vierzig oder fünfzig Tote sorgen. Wenn wir über die Strasse gehen, denken wir: Vielleicht treten wir gleich auf einen Sprengsatz. Wir müssen aufpassen, wohin wir gehen und wie… Wir sind ununterbrochen in Gefahr. Und das schafft eine schreckliche Atmosphäre der Angst. Die meisten Christen verlassen deswegen Aleppo – die, die sich das leisten können. Und das ist unser grosses Leid…“
rv 11.10.2016 sk
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