„Franziskus öffnet fraglos viele Türen“

Anfang dieses Jahres konnte Kardinal Paul Josef Cordes den vierzigsten Jahrestag seiner Bischofsweihe begehen

Hl. Papst Johannes Paul II. JanuarQuelle

Anfang dieses Jahres konnte Kardinal Paul Josef Cordes den vierzigsten Jahrestag seiner Bischofsweihe begehen. Er wirkte in Paderborn, aber mit dem grossen Polen auf dem Petrusstuhl kam auch er bald nach Rom.

Ein Gespräch über Einsichten, die in dieser Zeit gewachsen sind.

Von Guido Horst

Die Tagespost, 09. Mai 2016

Eminenz, sie wurden 1976 zum Bischof geweiht und kamen bereits 1980 nach Rom – Sie wurden damals Vizepräsident des Päpstlichen Laienrats. Hatte Johannes Paul II. etwas damit tun?

Oh ja. Ich kannte Papst Johannes Paul schon, als er noch Kardinal von Krakau war.

Der liebe Gott hat die Dinge in einer Weise gefügt, dass ich beim Rückblick schon ein bisschen überrascht bin. Während meiner Zeit im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz entstanden Kontakte auch nach Polen. So besuchte ich in den Jahren 1972 bis 1976 häufiger dieses Land. Dann kam meine Bischofsweihe und 1978 der erste grosse Besuch der polnischen Bischöfe in der Bundesrepublik. Zwar war vorher schon der berühmte Brief „Wir bitten um Vergebung und gewähren Vergebung“ mit den östlichen Nachbarn ausgetauscht worden. Aber die katholische Kirche im kommunistischen System Polens konnte es sich nicht leisten, ihre guten Beziehungen zur Bundesrepublik, also zum kapitalistischen Ausland, öffentlich zu machen. Erstmals tat 1978 eine offizielle Delegation der polnischen Bischöfe diesen Schritt. Im letzten Augenblick stellte man fest, dass von deutscher Seite für den Besuch kein hochrangigen Begleiter vorgesehen war. Prälat Josef Homeyer, Sekretär der Bischofskonferenz, bat mich darum kurz vor der Reise einzuspringen. So wurde ich als ganz junger Weihbischof abgeordnet, mitzufahren. Eigentlich war es freilich unzutreffend, von einer Delegation der polnischen Bischofskonferenz zu sprechen; vielmehr kam der Primas Kardinal Wyszyñski in Begleitung von einigen weniger bedeutsamen Bischöfen. Bei der Fahrt durch Deutschland führte Kardinal Wyszyñski mit dem Ortsbischof der jeweiligen Diözese die Kolonne an und im zweiten Wagen folgte der Kardinal von Krakau, der gar nicht so bekannt war – zusammen mit mir. In diesen Tagen habe ich Karol Wojtyla kennen und schätzen gelernt.

Zurück in Paderborn, traf ich dort Prälat Christoph. Er hatte die Reise am Fernsehen verfolgt und sagte: „Ja, der Wyszyñski, das ist ein gestandener Mann, ein wichtiger Zeuge des Glaubens.“ Spontan antwortete ich: „Wyszyñski ist gut, aber Wojtyla ist besser“. Das war im Juni 1978. Dann kam im Oktober 1978 die Wahl von Karol Wojtyla zum Papst. Ich war elektrisiert und dachte: Jetzt muss ich nach Rom. Und es klappte. Am Tag seiner Amtseinführung konnte ich ihn sogar dank einiger günstiger Umstände persönlich begrüssen. Später stand im „Osservatore Romano“, es habe überrascht, dass der neue Papst dem Weihbischof von Paderborn als zweitem Mann des Weltepiskopats Audienz gewährte.

Die Zeit in Rom wurde zu Ihrem längsten ununterbrochenen Lebensabschnitt. Wenn man auf eine so lange Zeit zurückblickt, teilt man Sie in Phasen ein. Wie gliedert sich für Sie Ihr römisches Leben? Nach den Päpsten? Nach Ihren Tätigkeiten, nach der aussenpolitischen Grosswetterlage?

Eigentlich gliedert sich meine römische Zeit durch die Aufgaben, die ich jeweils hatte. Die lange erste Phase unter Johannes Paul II. hatte prägendes Gewicht. Als ich ernannt wurde, habe ich mich zuerst einmal eingewöhnen müssen. Bekannte hatten mich gewarnt. Einer sagte: „Du sollst nach Rom – kann man nichts dagegen tun?“ Ein anderer schrieb mir: „Du im Vatikan – ich kann dich nur bedauern.“ In der Tat war es ein Sprung ins kalte Wasser. Etwa die neue Sprache, ich sprach ja kein Wort Italienisch. Dann die Lebensumstände. In Paderborn standen mir ein Haus und ein Fahrer zur Verfügung; Alltag und Haushalt waren geregelt. Hier hingegen lebte ich für dann fünfzehn Jahre im Campo Santo Teutonico auf zwei Zimmern und musste mich in der grösseren Hausgemeinschaft einfügen.

Die Arbeit begann im Rat für die Laien. Hier hatte ich einen sehr, sehr guten Kardinal als Chef, den Italiener Opilio Rossi. Die Annäherung aneinander dauerte vielleicht ein halbes Jahr, aber dann schenkte er mir sein volles Vertrauen. Das hat mir sehr geholfen und mir Mut gemacht, Dinge in Angriff zu nehmen, die vielleicht ein bisschen ungewöhnlich waren. Schon bald fielen mir die neuen geistlichen Bewegungen auf. Mit ihnen zusammen konnten wir das Centro San Lorenzo eröffnen. Einige in der Kurie reagierten verwundert. Wohl wünschten sie gute Pastoral, aber eine, die von anderen geleistet wird. Papst Johannes Paul hingegen dachte anders: Er kam selbst zur Eröffnung des Centro. Aus diesem gingen dann die Internationalen Jugendtage hervor. Mir wiederum zeigte deren Entstehung, dass diese neuen geistlichen Bewegungen eine ganz wichtige Funktion für die Vitalisierung der Kirche haben. Sie geht weit über die Jugendtage hinaus: wie viele glückliche Ehen, Priester- und Ordens-Berufe, Träger der Neuevangelisierung! Ich selbst verdanke diesen Gruppen viel und habe mich voll auf sie eingelassen; bin nach Rimini zum Meeting von Comunione e Liberazione gezogen oder zu den Gemeinschaftstagen des Neukatechumenats. Die Charismatische Erneuerung lernte ich bald in den Vereinigten Staaten kennen. Häufig sah ich die Gründerin des Focolare Chiara Lubich in Rocca di Papa, wurde gut bekannt mit dem Priester Luigi Giussani und befreundet mit dem Maler Kiko Argüello. So befasste ich mich dann weniger mit Gesellschaftsfragen, sondern mein Schwerpunkt im Laienrat – das mag paradox klingen – wurde ein geistlicher. Die weltgeschichtlichen Ereignisse, die uns natürlich täglich berühren, standen nicht so sehr im Vordergrund – zumal manche Kirchenleute sie über die Massen herausstellen und bald nur noch innerweltliche Ziele kennen. Es sind ja wohl auch die von Johannes Paul proklamierte Neuevangelisierung und der Glaube, die die genannten Gruppen betreiben, der wichtigere Schlüssel zu mehr Lebensqualität. Bezeichnend das Wort von Kardinal Ratzinger: „Wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig.“

Sie wechselten 1995 an die Spitze des Rates „Cor unum“, dem Hilfswerk der Päpste. Wie genau war das mit Ihren Vorarbeiten für die erste Enzyklika von Benedikt XVI., „Deus caritas est“?

Die allgemeine Anerkennung des Kampfes gegen jede Form von Not – die staatlichen „Entwicklungsministerien“ zum Beispiel entstanden erst im zwanzigsten Jahrhundert – kam auch den katholischen Hilfswerken und der kirchlichen Caritas zugute. Freilich mochte die Annahme öffentlicher Gelder auch dazu verleiten, die Glaubens-Wurzeln des Helfens zu kappen. Jesus aber nennt das Gebot der Nächstenliebe das „zweite“, nach dem Gebot der Gottesliebe. Johannes Paul war nicht verborgen geblieben, dass hier dem Helfen der Kirche eine tragische Verarmung drohte. Er trug mir schon bald nach dem Wechsel auf, das Thema „Kirchliche Hilfswerke“ bei einer Congregatio generalis der römischen Kurie zu behandeln. Die Sitzung fand im November 1999 statt. Ich stellte anhand von Beispielen den säkularistischen Trend einiger kirchlicher Agenturen dar. Meine Überlegungen fanden Bestätigung und Ergänzungen bei den Präfekten und Präsidenten der vatikanischen Dikasterien. Beim Hinausgehen nahm mich der Heilige Vater beim Arm und fragte mich, was nun konkret geschehen könnte. Er bat mich, ihm mögliche Schritte in einem Brief mitzuteilen. In diesem regte ich ein „Dokument des Lehramtes“ an, in dem der Papst „den Sinn der Nächstenliebe aus christlicher Sicht klären könnte“. Mein Vorschlag war da sehr anspruchsvoll. Offenbar traf er dann auch im vatikanischen Staatssekretariat auf wenig Gegenliebe. Eine Weile lang schien mir jedenfalls ein mögliches Schreiben „vom Tisch“ zu sein. Doch lange später, im Februar 2003, zeigte sich, dass er nicht ganz vergessen war. Johannes Paul II. selbst schaltete sich ein. Er lud mich in sein Apartment zum Essen ein und beauftragte mich mit der Erstellung einer ersten Version für eine päpstliche Weisung. Wir machten uns im Rat „Cor unum“ also an die Arbeit und erstellten einen Vorschlag, den ich im Mai 2003 Kardinal Ratzinger zeigte. Er sah ihn gründlich durch und versah ihn mit Verbesserungen und Einfügungen, die er mir mit einem Brief vom März 2004 zusandte. Die so entstandene Fassung schickten wir an das Staatssekretariat. Vor den Sommerferien, im Juli, kam dann von dort eine mich verblüffende Antwort: Unser Projekt wurde verworfen. Gestützt auf einige wenig einleuchtende oder kaum relevante Beanstandungen wurde in Zweifel gezogen, dass die weitere Arbeit an dem Text überhaupt sinnvoll sei. Doch die Vorsehung wollte, dass Kardinal Ratzinger seinen Sommerurlaub just in Brixen verbrachte, wo auch ich mich jährlich erholte. Es war also leicht, ihn um Rat zu fragen. Er diktierte mir gleich einen Antwortbrief, der den vorliegenden Text verteidigte. Ich schickte das Schreiben am 9. September an das Staatssekretariat.

Im April 2005 wurde dann überraschend Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt. Er wohnte in den Anfangstagen seines Pontifikats im vatikanischen Gästehaus Santa Marta. Deshalb begegnete ich ihm bald. Wir redeten kurz miteinander und er fragte mich, als ob er mein unausgesprochenes Anliegen geahnt hätte: „Was wird denn nun aus der Enzyklika?“ Mir war bewusst, dass das erste Lehrschreiben eines Papstes gleichsam sein „Regierungsprogramm“ formulierte – wie es Johannes Paul II. 1979 mit „Redemptor hominis“ getan hatte. So sagte ich spontan: „Ich denke, der neue Papst hat viele Dinge im Sinn, die er in seiner ersten Enzyklika behandeln möchte. Aber wenn in seinem Kopf noch ein wenig Raum wäre für das Thema des christlichen Helfens, würde ich mich sehr freuen.“ Er darauf: „Ich werde mich bald entscheiden.“ Wenig später ließ er mich dann wissen, er wolle in seinem ersten Lehrschreiben das Liebesgebot behandeln. Sein Entschluss erfreute mich sehr – führte er doch den langen Prozess zu einem glücklichen Abschluss. Mehr noch: Von Papst Ratzinger durfte man einen tiefschürfenden Antrieb für die Sendung der Kirche sowie für die Glaubwürdigkeit ihres caritativen Dienstes erwarten.

Wenn man 35 Jahre in Rom gelebt hat, hat man viele Veränderungen erlebt. Man kann aber auch das Gefühl haben: Alles ist gleich geblieben. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Mir scheint, Geschichte ist in der Ewigen Stadt so dicht und prägend greifbar, dass sich angesichts der viertausend Jahre Rom und der zweitausend Jahren Christentum Veränderungen relativieren und eher peripher bleiben. Der Auftrag Roms ist es, wie es mir einmal ein evangelischer Bruder von Taizé, Bruder Rudolf aus Hamburg, gesagt hat, „das Herz der Kirche“ zu sein – und das Herz der Kirche hat in Gott einen guten Arzt. Er macht es möglich, dass der Glaube an Christus und sein Erlösungswerk Bestand hat und den Menschen weitergegeben wird. Natürlich wechseln die Mittel und Methoden der Evangelisierung. Doch scheint mir, dass in der Schnelllebigkeit und Aktualitätssucht, der wir unterliegen, Veränderungen zu wichtig erscheinen. Substanziell gilt doch der Satz aus dem Hebräerbrief: „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei fremde Weisungen irrführen.“ Die Offenbarung ist vorgegeben und abgeschlossen. Und Sündhaftigkeit und Heilssehnsucht des Menschen sind genau so dauerhaft. So braucht es heute – wieder und immer noch – dringender als neue Modelle: vor allem glaubwürdige Zeugen.

Die Welt erlebt eine bisher nie da gewesene Globalisierung. Ihr sichtbarster Ausdruck: das Internet. Aber gerade jetzt wird deutlich, dass die Kirche immer schon ein global player war. Sie hat die Erfahrung und die Instrumente, um in dieser Globalisierung an vorderster Front zu stehen. Wie kommt es, dass sie in den säkularisierten Gesellschaften des Westens dennoch so marginalisiert ist?

Sie haben das Stichwort schon vorgegeben: Säkularisierung. Seit ihrer Stiftung stand unserer Glaubensgemeinschaft – vielleicht in einigen Phasen der Kirchengeschichte nicht so sichtbar – immer der Gegenwind ins Gesicht. Das Evangelium ist keine Erfolgsgeschichte. Schon aus dem zweiten Jahrhundert stammt der Satz: Das Blut der Märtyrer ist Same für neue Christen (Tertullian). Widerstand aber weckt neuen Glaubensgeist; Erlösung geschieht eben durch das Kreuz. Und wer wach ist, sieht auch Osterlichter. Letztlich lässt sich das Evangelium keinesfalls mit dem Geist der Welt harmonisieren – es sei denn durch den Ausverkauf seiner Substanz. Auch ich ziehe natürlich vor, angenommen, geliebt, effizient zu sein; so empfindet wohl jeder Gesunde. Aber es wäre eine verhängnisvolle Illusion zu meinen, wir könnten irgendwann den Geist der Welt so in die Kirche übertragen, dass das Denken beider Welten gleich würde. „Überlasst euch nicht dem Geist der Welt!“, warnt Paulus die Römer. Der Apostel zeigt eine fortwährende Versuchung an. Da fällt mir Papst Benedikts Ansprache in Freiburg von der „Entweltlichung“ ein. Sie stieß auf zornigsten Widerspruch, der oft schlagzeilenhaft oberflächlich war. Wieder einmal zeigte sich, dass weltliches Denken dem religiösen feindlich entgegensteht. Darum muss die Kirche davor auf der Hut sein, sich von diesseitigen Maßstäben – wie Benedikt gesagt – vereinnahmen zu lassen.

Eine Einschränkung zu der von Ihnen genannten Gegensätzlichkeit: Der Papst ist heute ungeahnt populär…

Das scheint paradox und ist dennoch erklärbar. Es ist menschlich, nach einem leitenden Vorbild auszuschauen, nach einem Guru, einem Starez. Die Person des Papstes dient wohl ähnlich manchen Zeitgenossen zur Orientierung. Die Leitgestalt mag auch Sportler, Filmschauspieler, oder Politiker sein – man hat früher in deutschen Religionsbüchern selbst Willi Brandt als eine Hilfe zum Verständnis des Messias abgebildet. Oder auch Dichter und andere Gestalten der Vergangenheit. Freilich sollten wir Katholiken bei solcher Lebenshilfe nicht die Heiligen vergessen.

Waren Sie enttäuscht, als ein Papst, dazu noch ein deutscher, von seinem Amt zurücktrat?

Ich war wirklich fassungslos. Wir saßen in diesem dramatischen Konsistorium. Nach Abschluss begann Papst Benedikt eine Ansprache. Leider höre ich nicht mehr gut, und er sprach zudem lateinisch, so dass ich während der ersten zwei, drei Sätze die Sensation nur allmählich begriff. Als der Kardinaldekan Sodano antwortete, zerbrach vollends die Hoffnung auf meinen Irrtum. Die Kardinäle liefen herum wie aufgescheuchte Hühner. Es war für alle ein Schock. Erst später kam bei mir Verständnis auf: Wir hatten alle nicht vor Augen, dass Joseph Ratzinger mit kühlem Verstand entscheidet. Schon als Präfekt der Glaubenskongregation hatte er einmal geäußert, ein Papst könne durchaus zurücktreten; theologische Hindernisse sah er also nicht. Dann hat er diese Auffassung auf sich angewendet und Bilanz gezogen – in einer sachlichen Überlegung vor Gott; er hat von allen Gefühlen abstrahiert, die uns hingegen verwirrten. Sein Urteil: Der Rücktritt ist für mich jetzt nötig. Da hat niemand das Recht zu einem Einspruch; seine Gewissensentscheidung kann ihm niemand ankreiden. Inzwischen wurde ich mehrfach zu ihm eingeladen. Wir stehen uns nach wie vor nahe, lachen auch miteinander und klammern im Gespräch nichts aus.

Wer ist für Sie Papst Franziskus?

Er liebt die Menschen. Ich glaube wirklich, dass er ihnen sehr, sehr zugetan ist. Ich habe zur Zeit von Johannes Paul ganz in dessen Nähe bei einer Audienz einmal erlebt, wie die Menschen bei der Begegnung mit ihm ganz außer sich waren. Hinterher ging mir durch den Kopf: Einmal solchen Enthusiasmus zu erfahren – Menschen, die nach dem Papst greifen, ihm zujubeln, in berühren wollen –, das mag ja schön sein. Sich dem eine Woche lang fast täglich auszusetzen, ist schon anstrengend. Und erst für Monate und Jahre: Das ist gewiss eine Last. Aber Franziskus geht den Menschen entgegen, unermüdlich und mit immer gleicher Wärme. In seiner Art hat er fraglos für die Verbreitung des Christentums viel Boden gewonnen. Vorige Woche sagten mir Bekannte kurz „Hallo!“. Einer von ihnen dankte mir dann spontan, dass wir beim letzten Konklave diesen Papst gewählt hätten. Das waren normale nüchterne Christen aus dem Sauerland. Papst Franziskus hat also fraglos sehr viele Türen geöffnet. Ein großer Dienst am Evangelium! Denn Gottes Heilsbotschaft kann nicht ankommen, wenn die Türen des Herzens verschlossen sind. Freilich knüpft Evangelisierung immer bei eindeutigen Glaubenswahrheiten an. Um die streng formulierten Sätze der katholischen Lehre wurde jahrhundertelang im Licht des Heiligen Geistes gerungen. Sie sind uns als bindend vorgegeben. Unser Glaube wird nicht je neu im Gefühl erfunden. Da ist mein Verstand gefordert. Ich muss Gottes Botschaft kennen – und dann freilich auch umarmen.

Der Vatikan arbeitet an einer Kurienreform. Doch was ist das: die Kurie? Ein Instrument des Papstes oder ein Organ im Dienst der Weltkirche?

Die katholische Kirche hat eine bipolare Struktur. Dies Modell ist einfach genial. Für den Katholizismus stehen die Ortskirche und die Universalkirche. Das Bild einer Ellipse verdeutlicht beider Unterschiedlichkeit und Miteinander. Die einmalige Qualität dieser Form zeigt sich in der Kirchengeschichte. Immer wieder gingen in den Jahrhunderten Impulse zur Erneuerung des Glaubens von ortskirchlichen Anstößen aus. Sie wurden dann von dem zweiten Zentrum der Ellipse, von Rom, universal verbreitet und kamen der Kirche global zugute. Das Papsttum vitalisierte so die Weltkirche. Als etwa die Ortskirche von Paris die Erneuerung durch Franziskaner und Dominikaner unterdrückte, wurde die Ortskirche von der römischen Zentralgewalt, vom Papst, ausgebremst. So brachte der Glaubensimpuls der Mendikanten der Gesamtkirche neue Energie. Solcher Zugewinn zeigte sich häufig. Der heiligen Marguerite-Marie Alacoque aus Paray-le-Monial verdanken wir den Anstoß zur Herz-Jesu-Verehrung, Bischof Ketteler von Mainz war einer der Pioniere für das Aufkommen der katholischen Soziallehre, die Liturgische Bewegung schließlich begann durch die Neuentdeckung der Liturgie in den Benediktiner-Klöstern Solesmes in Frankreich und Beuron in Deutschland. Und immer kam der Aufbruch in einer bestimmten Ortskirche nicht zuletzt dank der päpstlichen Förderung der Universalkirche zugute.

Anders verliefen die Entwicklungen bei den abgespaltenen Kirchengemeinschaften. Weil sich deren Leitungen staatlichen Autoritäten auslieferten, hatten Erneuerungen keinen Raum; sie wurden in Sekten abgedrängt – unter dem englischen König etwa in die Sekte der „Methodisten“, unter dem russischen Zar in die der „Altgläubigen“. Wenn Teilkirchen sich von der Bindung an die Zentrale trennen – und damit auch von dem Blutfluss, der durch die Zentrale, das Herz, überallhin gelangt –, schädigen sie sich selbst. Sie dörren aus und bald dominieren weltliche Mächte. So ist dem antirömischen Affekt und seinen zentrifugalen Belangen zu wehren.

Seit der letzten Bischofssynode in Rom ist jetzt viel von Dezentralisierung in der katholischen Kirchenführung die Rede. Wird die Bedeutung des Papsttums für die Kirche abnehmen?

Die Struktur der Catholica ist nicht mit dem Modell autonomer Patriarchate gleichzusetzen oder als Föderation von unabhängigen Diözesen zu verstehen. Ortskirche und Universalkirche sind durch ein unscheidbares Ineinander verbunden. So lehrt es eine korrekte Ekklesiologie. Dass seitens des Petrusamtes gelegentliche lehramtliche Klarstellungen oder administrative Schritte unumgänglich sind, wird den Geschichtskenner nicht wundern. Er weiß auch, dass der Stellvertreter Jesu Christi immer wieder der Stein des Anstoßes war, der Polemik weckte. Mal deftiger – Martin Luther trug ja den Seinen noch im Testament den „Hass gegen den Römischen Bischof“ auf –, mal subtiler: „Kölner Erklärung“ 1989, der „Fall Williamson“ 2009. Doch hinter solchen Attacken erkenne ich nicht den Wind des Heiligen Geistes, der der Kirche den Weg Gottes weist. Mir scheint vielmehr, dass Gott selbst dieses Amt, wie es Jesus dem Petrus zusagte, durch historische Fakten bestätigt: Hat er uns nicht in den letzten Päpsten mindestens seit Pius X. begnadete große Gestalten geschenkt? Ferner legen politische Trends (Pan-Europa) und wirtschaftliche Entwicklungen von Großkonzernen dem Einsichtigen nahe, dass Zentralisierung zur größeren Effizienz hilft.

In der Kirche ist die Bedeutung des Sakralen zurückgegangen. Die Liturgie interessiert wenige. Stattdessen – obwohl das kein Gegensatz ist – zählt das Charismatische, die Person, also irgendwie doch der Mensch. Gibt es so etwas wie eine anthropologische Wende des Christentums?

Ich würde eine solche Wende nicht am Phänomen der Liturgie festmachen. Denn die Liturgie-Reform des Zweiten Vatikanums erschien mir sehr dringend. Sie hat damit ernst gemacht, dass der Gottesdienst nicht mechanisch abläuft – wie das chinesische Hofzeremoniell. Ich erlebte vor der liturgischen Reform 1960 eine Eucharistiefeier in der Schweiz. Die Kirche war voller Christen. Sie saßen im Dunkeln. Vorne am Altar passierte irgendetwas nach bestimmten Regeln, ohne die Gemeinde einzubeziehen. So wird Liturgie verkannt. Sie ist zwar Dienst Gott gegenüber. Aber der ist umso würdiger, je dichter die anwesenden Gläubigen beteiligt sind. Darum muss die Liturgie die Feiernden ansprechen – auch wenn das kein Freibrief für ihre Banalisierung oder gar Profanierung sein darf.

Fatal ist hingegen eine anthropozentrische Wende, die Gott vertreibt. Als ich in den von der Bertelsmann-Stiftung 2008 herausgegebenen „Religionsmonitor“ schaute, dachte ich, er müsste allen geweihten deutschen Hirten den Schlaf rauben. Dieser seriösen Umfrage zufolge sehen nur 16,2 Prozent der deutschen Katholiken in Gott noch ein personales Gegenüber. Das heißt doch: Für über achtzig Prozent hat sich das Du Gottes verflüchtigt. Was denken sie, wenn sie „Vater unser“ beten? Der Ministerpräsident von Irland sagte kürzlich: „Ich bin gläubig, ich bin katholisch; da muss doch irgendeine Kraft sein über den Wolken.“ Das also blieb vom christlichen Europa. Ist das nicht bestürzend? Und der Glaube wird sich vollends verwässern, wenn Kirche sich zuvorderst für die Belange der Vereinten Nationen interessiert. Nicht zufällig hat Papst Benedikt wieder und wieder auf moderne Gottvergessenheit verwiesen. Und sein Vorgänger auf dem Bischofsstuhl in München, Kardinal Döpfner, sagte bei der legendären Würzburger Synode: „Wir können dem Menschen von heute keinen besseren Dienst erweisen, als ihn sicher zu machen: ,Gott ist, und er ist für mich, er ist für uns da‘“.

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