Politik braucht ein Ethos ANTIQUARIAT

Es fällt nicht einfach, dieses sprachmächtige, aus einem dichten Teppich von geschichtsphilosophischen Einschüben gesponnene Werk zu beschreiben

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Weitere Titel von Günter Rohrmoser

Es handelt sich um eine monumentale sozialphilosophische Analyse, welche geschichtliches Denken (wieder) in den Vordergrund rücken will (210+226). Weshalb? Weil der Autor von der fortlaufenden, zusammenhängenden Entwicklung (Teleologie) der Geschichte überzeugt ist (480). Da das Buch aus Vorträgen heraus entstanden ist, wiederholen sich manche Gedankengänge. In den letzten 100 Seiten sind alle wesentlichen Gedankengänge enthalten.

Es lässt sich zuerst fragen: Welcher Ernstfall ist gemeint? Rohrmoser sieht das kulturelle Fundament unseres Gemeinwesens bedroht (548). Er meint es ernst mit der Demokratie (498) und will die Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland für künftige Generationen bewahren. Das Buch ist von seiner Substanz her zwar kulturkritisch, jedoch nicht kulturpessimistisch. Rohrmoser bezeichnet die Krise seines Landes – er schrieb das Buch 1996, also einige Jahre nach der Wiedervereinigung – als „letzten Punkt, an dem sich noch alles zum Guten wenden kann“ (526). Seine Zuversicht schöpft er aus dem christlichen Glauben (468).

Wenden wir uns den zentralen Thesen zu. Rohrmoser sieht sein Land in einer unberechenbaren, unüberblickbaren Situation (472), die der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg nicht unähnlich sei (113). Erst dachte ich, dass der Autor dies doch etwas düster sieht. Doch Rohrmoser unterlegt diese Einschätzung mit vielen Argumenten und Beispielen. Offensichtlich: Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt (Balkan). Die wesentliche Destabilisierung komme jedoch aus dem Inneren der Gesellschaft: Sie habe sich verselbständigt und sei unregierbar geworden (489). Man beschränke sich deshalb darauf, Sachverhalte zu „organisieren“ (426). Die Fortschrittsutopie der Moderne sei als gescheitert zu betrachten (45, 473), da der angestrebte Zustand der Vollkommenheit nicht eingetreten sei. Die Spät- bzw. Postmoderne sei eine „fröhliche Apokalypse“ einer „hedonistischen, privatistischen, vor jeder geschichtlichen Verantwortung“ resignierende und andankende Epoche (478).

Der Untertitel „Die Krise unserer liberalen Republik“ weist darauf hin, dass sich Rohmoser vor allem auch mit dem Liberalismus auseinandersetzt, der als scheinbar einzige valable Gesellschaftsform übrig geblieben ist. Seine These: Der Liberalismus hat sich seiner christlichen Wurzeln entledigt, indem er auf eine „öffentliche, anerkannte Wahrheit“ verzichtete (94, 467, 494). Er habe sich also von der Wahrheitsfrage emanzipiert, weshalb ihm damit das nährende Element fehle. Der untergegangene Sozialismus, der das utopische Ideal von Freiheit und Gleichheit postuliert, stelle die Krise des Liberalismus als Alternative erst recht heraus (501). Rohrmoser sieht den Sozialismus nicht beerdigt, er tauche – gerade in den Köpfen mancher Intellektueller – wieder auf. „Die Niederlage des Sozialismus bedeutet nicht das Ende der Geschichte, sondern ihre Wiederkehr.“ (231)

Welche Lösung sieht der Autor für eine (späte) Wendung der Krise? Es müsse eine Rückbesinnung zu den Grundlagen des Aufbaus nach 1945 geben (vgl. 425). „Die einzige Alternative zu dieser Entwicklung, in der ein zunehmend von Krisen geschwächter Liberalismus alleine den wachsenden neuen totalitären Gefahren gegenübersteht, ist, dass wir imstande sein müssen, einen modernen, über sich selbst aufgeklärten und mit sich selbst kritisch umgehenden Konservatismus hervorzubringen.“ (514) Die Alternative zum ideologischen sei das geschichtliche Denken (519). „Wenn der Begriff des Konservativen heut noch einen Sinn haben soll, dann kann man ihn dahingehend definieren, dass ein Konservativer der ist, der einen Sinn für geschichtliche Katastrophen hat.“ (474) Rohrmoser hofft auf einen Zusammenschluss der christlichen Kräfte (448) und auf ein Lernen aus der Geschichte. Der objektive Anspruch des Evangeliums müsse wieder in den Vordergrund gestellt werden. Wie dies genau zu bewerkstelligen sei, dafür bleibt der Autor einer Antwort allerdings weitgehend schuldig.

Die Hauptbotschaft hallt mächtig durch das Werk: Politik braucht ein Ethos (131). Rohrmoser bekennt sich furchtlos zum christlichen Glauben, indem er dessen Aktualität anhand aktueller politischer Fragen erläutert. Er schreckt nicht davor zurück, die Substanz des christlichen Erbes wieder deutlich zu postulieren, zum Beispiel den Sündenbegriff. „Wir müssten doch wissen, dass die Gottesebenbildlichkeit durch das Ereignis der Sünde … zerstört worden ist! Das Faktum, das uns von der Ebenbildlichkeit Gottes trennt, haben die Christen seit 2000 Jahren, ohne zu erröten, Sünde, Schuld oder ‚peccatum‘ genannt. Wir können dieses Faktum nicht beiseite schieben und uns auf einen paradiesischen Urzustand beziehen.“ (360) Er kann das sehr plastisch ausarbeiten, etwa an der Frage der Abtreibung. „Die Frage nach Leben oder Tod ist nicht mehr eindeutig beantwortbar. Sie ist zu einer Frage der Abwägung von Umständen geworden.“ (165) Die vielleicht herausforderndste Frage an unsere Zeit bleibt diese: „Was ist, über die materielle Sättigung hinaus, das uns geistig bestimmende Ziel? Was ist unsere Identität?“ (324) Uns neu darauf zu besinnen und daraus Antworten auf die dringlichen Fragen der Zeit zu erarbeiten, darin bleibt uns der Autor ein leuchtendes Vorbild.

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