Der Weg zur Einheit der Christen

P. Raniero Cantalamessa OFMCap — 5. Fastenpredigt 2016 (Volltext)

„Der Weg zur Einheit der Christen — Gedanken zu Unitatis redintegratio“

In der Kapelle „Redemptoris Mater“ im Vatikan hielt der Prediger des Päpstlichen Hauses, Pater Raniero Cantalamessa OFMCap, heute die fünfte traditionelle Fastenpredigt 2016 für den Papst und die römische Kurie.

Wir dokumentieren die Predigt in einer eigenen Übersetzung.

***

Der Weg zur Einheit der Christen/Gedanken zu Unitatis redintegratio

1. Der ökumenische Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Die moderne Hermeneutik hat uns mit Gadamers Prinzip der „Wirkungsgeschichte“ vertraut gemacht. Dieser Methode zufolge muss man, wenn man einen Text verstehen will, von der Wirkung ausgehen, die dieser Text in der Geschichte hervorgebracht hat, indem man in einen Dialog mit der Geschichte tritt.[1]  Besonders nützlich ist dieses Prinzip, wenn man es auf die Heilige Schrift anwendet. Es lehrt uns, dass man das Alte Testament nur im Licht seiner Vollendung im Neuen Testament wirklich verstehen kann, und dass man das Neue Testament nur versteht, wenn man auf die Früchte blickt, die es im Leben der Kirche hervorgebracht hat. Daher genügt die herkömmliche historisch-philologische Erforschung der „Quellen“, die den Text beeinflusst haben, nicht zum Verständnis; vielmehr muss man auch den vom Text ausgeübten Einfluss berücksichtigen. Diesen Grundsatz hatte schliesslich schon Jesus selbst nahegelegt, als er sagte, dass man jeden Baum an seinen Früchten erkennt (vgl. Lk 6,44).

Ins richtige Verhältnis gesetzt, kann man dieses Prinzip auch auf die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils anwenden. Heute möchte ich zeigen, dass dies auch ganz besonders für Unitatis redintegratio gilt, das Dekret über den Ökumenismus, dem ich die heutige Meditation widme. Fünfzig Jahre Fortschritte auf dem ökumenischen Weg sind der Beweis für das grosse Potenzial, das dieser Text birgt. Die Konzilsväter erläutern zunächst die tiefen Gründe, die die Christen dazu drängen, die Einheit untereinander zu suchen, und stellen fest, wie sich unter den Gläubigen der verschiedenen Kirchen eine neue Einstellung diesbezüglich breit macht. Dann erklären sie die Zielsetzung des Dekrets:

„Dies alles erwägt die Heilige Synode freudigen Herzens und, nachdem sie die Lehre von der Kirche dargestellt hat, möchte sie, bewegt von dem Wunsch nach der Wiederherstellung der Einheit unter allen Jüngern Christi, allen Katholiken die Mittel und Wege nennen und die Weise aufzeigen, wie sie selber diesem göttlichen Ruf und dieser Gnade Gottes entsprechen können.“[2]

Die Früchte dieses Dekrets sind von zweierlei Sorten. Auf der doktrinären und institutionellen Ebene ist der Päpstliche Rat für die Einheit der Christen entstanden und sind bilaterale Gespräche mit nahezu allen christlichen Konfessionen in die Wege geleitet worden, um sich gegenseitig besser kennenzulernen, die jeweiligen Positionen zu vergleichen und Vorurteile abzubauen.

Neben diesem amtlichen und doktrinären Ökumenismus hat sich von Anfang an ein inoffizieller Ökumenismus der Herzen breitgemacht, der von Begegnungen und Versöhnungen lebt. Hier sind einige symbolträchtige Treffen zu erwähnen, die den ökumenischen Weg der letzten 50 Jahren gezeichnet haben: etwa das Treffen zwischen Paul VI. und dem Patriarchen Athinagoras, die unzähligen Begegnungen die Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mit den Oberhäuptern der verschiedenen Kirchen hatten, bis hin zur Begegnung zwischen Papst Franziskus und Patriarch Bartholomäus im Jahr 2014 und, zuletzt, zwischen dem Heiligen Vater und dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill auf Kuba, die den Horizont für einen neuen ökumenischen Weg geöffnet haben.

Diesem spirituellen Ökumenismus gehören auch die vielen Initiativen an, in denen Gläubige verschiedener Kirchen sich treffen, um gemeinsam zu beten und das Evangelium zu verkünden, ohne die jeweils anderen bekehren zu wollen und in der vollen Treue zur eigenen Tradition. Ich hatte das Glück, an mehreren solchen Treffen teilzunehmen. Eines hat sich mir besonders eingeprägt, weil es wie eine Vision dessen war, was das Ziel der ökumenischen Bewegung sein sollte.

In Stockholm fand 2009 eine grosse Veranstaltung unter dem Motto „Jesus manifestation“ statt. Am letzten Tag zogen die Gläubigen der verschiedenen Kirchen durch die Stadt, jede Konfession auf einer anderen Strasse, um im Stadtzentrum aufeinanderzutreffen. Auch unsere kleine katholische Gruppe zog betend durch ihre Strasse, der örtliche Bischof vorweg. Als die Gruppen aber im Zentrum zusammenkamen, vermischten sich alle und eine einzige grosse Schar von Christen verkündete die Herrschaft Christi vor mehr als achtzehntausend Jugendlichen und erstaunten Passanten. Das, was als eine Kundgebung „für Christus“ gedacht gewesen war, wurde zu einer machtvollen Kundgebung Christi für die Menschen. Seine Gegenwart war fast greifbar und das in einem Land, das solche grossen religiösen Kundgebungen nicht gewohnt ist.

Solche Auswirkungen des Dekrets über den Ökumenismus sind auch eine Frucht des Heiligen Geistes und ein Zeichen des ersehnten neuen Pfingstgeschehens. Wie ging der Auferstandene vor, um die Apostel zu überzeugen, dass sie auch Nichtjuden in die christliche Gemeinde aufnehmen sollten? Er führte Petrus in das Haus des Hauptmanns Kornelius und liess ihn schauen, wie der Heilige Geist auf seine Bewohner herabkam, was mit den selben Zeichen einherging, die die Apostel zu Pfingsten erlebt hatten: Sprechen in fremden Sprachen, lautes Gotteslob. Petrus blieb gar nichts anderes übrig, als aus alledem den Schluss zu ziehen: „Wenn nun Gott ihnen, nachdem sie zum Glauben an Jesus Christus, den Herrn, gekommen sind, die gleiche Gabe verliehen hat wie uns: wer bin ich, dass ich Gott hindern könnte?“ (Apg 11,17).

Genau das ist es, was der auferstandene Herr auch heute unter uns wirkt. Er sendet den Heiligen Geist und seine Gaben an die Gläubigen der unterschiedlichen Kirchen; auch an jene, die wir für die am weitesten von uns entfernten gehalten haben. Wie könnte man darin nicht ein Zeichen sehen, dass er uns dazu drängt, uns gegenseitig anzunehmen und als Brüder zu erkennen, auch wenn wir die volle und sichtbare Einheit erst noch erreichen müssen? Jedenfalls waren es Erlebnisse dieser Art, die in mir die Liebe zur Einheit der Christen entflammen liessen, nachdem meine in der Zeit vor dem Konzil absolvierten Studien mich daran gewöhnt hatten, Orthodoxe und Protestanten nur als „Gegner“ zu betrachten, denen wir in unseren theologischen Schriften nachweisen mussten, dass sie irrten.

2. Ein Jahr vor der Fünfhundertjahrfeier der Reformation (1517)

In der letztjährigen Fastenzeit habe ich versucht, die Ergebnisse zu zeigen, zu denen auf theologischer Ebene der ökumenische Dialog mit dem orthodoxen Orient gelangt ist. Dem Büchlein, das meine Gedanken zusammenfasst, habe ich den Titel „Zwei Lungen, ein Atemzug“ gegeben, womit ich zum Ausdruck bringen wollte, was unser Ziel ist und was zu einem großen Teil schon erreicht wurde.[3] Heute möchte ich meine Aufmerksamkeit auf den anderen großen Gesprächspartner im ökumenischen Dialog richten, d.h. auf die protestantische Welt. Dabei will ich nicht auf geschichtliche und doktrinäre Fragen eingehen, sondern zeigen, wie alles uns dazu antreibt, unsere Bemühungen fortzusetzen, um den Bruch innerhalb der abendländischen Christenheit zu beheben.

Ein Umstand macht diese Bemühungen heute besonders aktuell. Die Christenheit bereitet sich darauf vor, 2017 die Fünfhundertjahrfeier der Reformation zu begehen. Es ist für die Zukunft der Kirche sehr wichtig, diese Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, indem wir Gefangene unserer Vergangenheit bleiben und vielleicht lediglich friedfertigere Töne anschlagen, um das jeweilige Recht und Unrecht festzulegen. Es ist, so glaube ich, an der Zeit, einen Qualitätssprung zu wagen; wie ein Schiff, das auf einem Fluss oder Kanal eine Schleuse erreicht, die es ihm ermöglicht, auf einer höheren Ebene weiterzufahren.

Die Lage hat sich in diesen fünfhundert Jahren erheblich verändert; doch wie so oft tun wir uns schwer damit, diesen Umstand anzuerkennen. Die Fragen, die im 16. Jahrhundert zum Bruch zwischen der römischen und der reformierten Kirche führten, waren im wesentlichen der Ablassverkauf und die Rechtfertigungslehre. Doch können wir wirklich behaupten, dass das die Probleme sind, mit denen heute der Glaube der Menschen steht oder fällt? Auf einer Konferenz im römischen Zentrum „Pro unione“ machte Kardinal Walter Kasper sehr richtig darauf aufmerksam, dass während für Luther das existenzielle Hauptproblem darin bestand, einen Weg zu finden, um das Schuldbewusstsein zu überwinden und einen gütigen Gott zu vermitteln, es heute eher darum geht, das gegenteilige Problem zu lösen: Wie kann man den Menschen von heute noch ein Gefühl für die Sünde vermitteln, das ihnen völlig abhanden gekommen zu sein scheint?

Ich glaube, dass die jahrhundertelangen Diskussionen zwischen Katholiken und Protestanten über den Glauben und die Werke uns den Kern der Botschaft aus den Augen haben verlieren lassen, die Paulus uns vermitteln wollte. Was der Völkerapostel im dritten Kapitel des Römerbriefs vordergründig sagen will, ist nicht so sehr, dass wir durch den Glauben gerecht werden, sondern durch den Glauben an Christus; nicht so sehr, dass wir durch die Gnade gerecht werden, sondern durch die Gnade Christi. Christus ist das Herz der Botschaft und er kommt vor dem Glauben und vor der Gnade.

Nachdem er in den ersten beiden Kapiteln seines Briefs die Menschheit in ihrem allgemeinen Sündenzustand vorgestellt hat, hat der Apostel den ungeheuren Mut zu verkünden, dass diese Lage sich nun grundlegend verändert hat, „durch die Erlösung in Christus Jesus“ und „durch den Gehorsam des einen“ (Röm 3,24; 5,19).

Die Aussage, dass uns diese Erlösung durch den Glauben und nicht durch eigene Werke zuteilwird, ist im Text bereits enthalten und war zu Luthers Zeiten der wichtigste Punkt, den es hervorzuheben galt. Damals war klar, zumindest in Europa, dass vom Glauben an Christus und von der Gnade Christi die Rede war. Doch der Glaube kommt an zweiter Stelle, nicht an erster. Wir haben den Fehler begangen, das, was bei Paulus eine Aussage von universaler Tragweite war, auf einen Streit zwischen unterschiedlichen Schulen innerhalb des Christentums zu reduzieren. Heute sind wir berufen, den Kern der Botschaft des Völkerapostels wiederzuentdecken und gemeinsam zu verkünden.

In der Schilderung mittelalterlicher Schlachten kommt immer der Augenblick, wenn die Bogenschützen und die Kavallerie überwunden sind und das Kampfgedränge sich um den König selbst schließt. Dort wurde das Schicksal der Schlacht entschieden. Auch für uns ist der Kampf heute am König angelangt… Die Person Jesu Christi ist das, was wirklich auf dem Spiel steht. Was die Evangelisierung anbelangt, müssen wir heute zur Zeit der Apostel zurückkehren. Es gibt eine Analogie zwischen unserer Zeit und ihrer. Sie hatten eine vorchristliche Welt vor sich; wir stehen heute, zumindest im Abendland, vor einer weitestgehend nachchristlichen Welt.

Wenn Paulus den Kern der christlichen Botschaft in einem einzigen Satz zusammenfassen will, dann sagt er nicht: „Wir verkündigen die und die Lehre“, sondern: „Wir verkündigen Christus als den Gekreuzigten“ (1 Kor 1,23) und weiter: „Wir verkündigen Jesus Christus als den Herrn“ (2 Kor 4,5). Das ist der wahre „articulus stantis et cadentis Ecclesiae“; der Punkt, mit dem die Kirche steht und fällt.

Das bedeutet nicht, alles zu übergehen, was die Reformation an Neuem und Gültigem auf den Gebieten der Theologie und Spiritualität hervorgebracht hat, besonders mit der Betonung des Primats der Heiligen Schrift. Es bedeutet, dass wir diese Errungenschaften der ganzen Kirche zugänglich machen müssen, sobald wir sie von gewissen Übertreibungen und starren Haltungen befreit haben werden, die auf das überhitzte Klima der damaligen Zeit, auf die Einmischung der Politik und auf spätere Polemiken zurückzuführen sind.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die am 31. Oktober 1999 unterschriebene „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen der katholischen Kirche und dem lutherischen Weltbund.[4] In deren Schlussbetrachtungen heißt es:

„Das in dieser Erklärung dargelegte Verständnis der Rechtfertigungslehre zeigt, dass zwischen Lutheranern und Katholiken ein Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre besteht, in dessen Licht die verbleibenden Unterschiede in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung des Rechtfertigungsverständnisses tragbar sind […]. Deshalb sind die lutherische und die römisch-katholische Entfaltung des Rechtfertigungsglaubens in ihrer Verschiedenheit offen aufeinander hin und heben den Konsens in den Grundwahrheiten nicht wieder auf.“[5]

Ich war dabei, als die Erklärung im Rahmen einer feierlichen Vesper unter dem Vorsitz von Papst Johannes Paul II. und dem Erzbischof von Uppsala Bertil Werkström im Petersdom verlesen wurde. Ich erinnere mich ganz besonders an eine Bemerkung, die der Papst in seiner Predigt machte. Wenn ich mich recht entsinne, brachte er damit folgenden Gedanken zum Ausdruck: Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, aus dieser Lehre über die Rechtfertigung einen Schauplatz von Kämpfen und Streit unter Theologen zu machen; stattdessen müssen wir versuchen, allen Getauften zu helfen, damit sie aus dieser Wahrheit eine persönliche und befreiende Erfahrung machen. Seit jenem Tag habe ich nie aufgehört, wann immer ich in meinen Predigten Gelegenheit dazu hatte, die Menschen zu dieser Erfahrung aufzufordern.

Die Rechtfertigung mittels des Glaubens in Jesus Christus sollte von der ganzen Kirche verkündet werden und das heute mehr denn je. Jedoch nicht mehr im Widerstreit zu den „guten Werken“ – diese Angelegenheit ist erledigt und überholt – sondern im Gegensatz zur Anmaßung der säkularisierten Welt, sich selbst retten zu können, durch Wissenschaft, Technik oder irgendeine selbsterfundene spirituelle Praxis. Ich bin überzeugt, dass Luther, Calvin und die anderen Reformatoren, wenn sie heute lebten, genau in diesem Zusammenhang über die dem Menschen geschenkte Rechtfertigung im Glauben predigen würden! In einem Buch, das seinerzeit Epoche machte, ist zu lesen:

„Moderne Gesellschaften gründen auf der Wissenschaft. Ihr verdanken sie ihren Wohlstand, ihre Macht und die Gewissheit, dass noch größerer Wohlstand und größere Macht dem Menschen eines Tages zur Verfügung stehen werden, so er es will […]. Ausgestattet mit aller Macht und allem Wohlstand, die die Wissenschaft ihnen bietet, versuchen unsere Gesellschaften immer noch, nach Wertsystemen zu leben, deren Grundlagen längst von dieser selben Wissenschaft untergraben wurden.“[6]

Mit diesen „überholten Wertsystemen“ meint der Autor natürlich die Religionen. Jean-Paul Sartre kommt zum selben Ergebnis, indem er von einem philosophischen Standpunkt ausgeht. Einem seiner Charaktere legt er die Worte in den Mund: „Ich selbst klage mich heute an und nur ich allein kann mich freisprechen; ich, der Mensch! Wenn es Gott gäbe, wäre der Mensch nichts.“[7] Diese Herausforderungen seitens des atheistischen Wissenschaftsglaubens und der säkularisierten Kultur sind es, denen die Christen von heute mit der Lehre begegnen müssen, „dass der Mensch nicht durch seine Werke gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (vgl. Gal 2,16).

3. Jenseits der Formeln

Ich bin überzeugt, dass der ökumenische Dialog mit den protestantischen Kirchen schwer mit der bremsenden Wirkung der Formeln belastet ist. Das meine ich so: Die dogmatischen Formulierungen, durch die man eine Lehre ausdrückt, sind das Ergebnis wichtiger Lebensprozesse innerhalb der Kirche und spiegeln den gemeinsamen Weg wieder, durch den die Gemeinde mühsam eine bestimmte Wahrheit erreicht hat. Mit der Zeit neigen sie jedoch dazu, steif zu werden und sich in „Parolen“ zu verwandeln, die wie Etiketten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe anzeigen. Der Glaube hat nicht mehr die Wirklichkeit einer Sache als Ziel, sondern deren Formulierung. Das ist genau das Gegenteil dessen, was gemäß der berühmten Aussage des heiligen Thomas von Aquino sein sollte: „Fides non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem“: Der Glaube endet nicht in seiner Formulierung, sondern im Ding an sich.[8]

Dieses Phänomen, der Formalismus, ist schon in der Antike zu beobachten, kaum dass die kreative Phase der großen Dogmen abgeschlossen war.[9] Erst in jüngster Vergangenheit haben wir beispielsweise begriffen, dass die Spaltungen innerhalb des christlichen Orients, zwischen der chalzedonischen und den sogenannten monophysitischen oder nestorianischen Kirchen, zum großen Teil auf Formeln beruhten, etwa auf dem unterschiedlichen Wert, den man den Ausdrücken Ousia und Hypostase beimaß. Diese Formeln berührten den Kern der Lehre nicht. So konnte die Einheit zwischen verschiedenen orientalischen Kirchen wiederhergestellt werden.

Diese Hürde wird besonders deutlich, wenn man die Beziehungen zu den verschiedenen reformierten Kirchen betrachtet. Glaube und Werke, Heilige Schrift und kirchliche Tradition: das alles sind verständliche Gegensätze, die zum Teil auch bei ihrer Entstehung berechtigt waren, aber sie werden zu Trugbildern, wenn man versucht, sie aufrecht zu erhalten, als habe sich in den letzten fünfhundert Jahren nichts verändert.

Nehmen wir einmal den Gegensatz von Glaube und Werken. Er ist berechtigt, wenn man unter „guten Werken“ vor allem (wie es leider zu Luthers Zeiten der Fall war) Ablässe, Wallfahrten, Fasten, Almosen, Votivkerzen usw. versteht. Aber er wird irreleitend, wenn wir uns darüber einig sind, dass die guten Werke in erster Linie die Werke der Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind. Durch das Evangelium sagt Jesus uns sehr deutlich, dass wir ohne sie nicht ins Himmelreich kommen. Wir sind also nicht durch unsere guten Werke gerechtfertigt; dennoch gibt es kein Heil ohne gute Werke. Die Rechtfertigung ist bedingungslos, aber nicht folgenlos. Das glauben wir alle, Katholiken und Protestanten, und schon das Konzil von Trient hat es betont.

Dasselbe kann man über den Gegensatz von Heiliger Schrift und Tradition sagen. Er taucht immer wieder auf, sobald die Frage der Offenbarung angesprochen wird, gerade so als hätten die reformierten Kirchen nur die Heilige Schrift und die katholische Kirche Schrift und Tradition zugleich. In Wirklichkeit aber gibt es keine Kirche ohne eine eigene Tradition. Wie könnte man die Existenz so vieler Benennungen innerhalb des Protestantismus anders erklären, als mit unterschiedlichen Arten, die Heilige Schrift auszulegen? Und was ist die Tradition im engeren Sinn anders, als die Art, wie eine Kirche die Heilige Schrift auslegt?

Auch die lutherische Formel „simul iustus et peccator“, „zugleich gerecht und Sünder“, ist kein unüberwindbares Hindernis zur vollen Kommunion. Zur katholischen Tradition gehört seit der Zeit der Kirchenväter die Definition der Kirche als „keusche Dirne“ (casta meretrix), die „heilig und stets zu reformieren“ ist.[10] Was von der Kirche in ihrer Ganzheit als Leib Christi gesagt wird, sollte doch auch auf ihre einzelnen Glieder zu beziehen sein.

Was auf unterschiedliche und komplementäre Weise betrachtet werden kann ist hingegen die Art und Weise, wie diese gleichzeitige Anwesenheit von Heiligkeit und Sünde im erlösten Menschen aufzufassen ist. Im Anhang der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre findet sich eine Erläuterung der Formel „simul iustus et peccator“, die nicht im Widerspruch mit der katholischen Lehre steht. Sie besagt, dass die Rechtfertigung eine echte Erneuerung im Leben des Getauften bewirkt, die jedoch nie zum gesicherten Besitz wird, auf den der Mensch sich vor Gott stützen könnte, weil sie immer vom Wirken des Heiligen Geistes abhängig bleibt.

1974 ging eine Nachricht durch die Presse, die die gesamte Welt erstaunte und belustigte. Ein japanischer Soldat, der im Zweiten Weltkrieg auf eine Insel der Philippinen abgesetzt worden war, um hinter den feindlichen Reihen Informationen zu sammeln, hatte sich dreißig Jahre lang im Dschungel versteckt und von Wurzeln, Waldfrüchten und wilden Tieren ernährt, weil er überzeugt war, der Krieg sei noch in Gang und er noch in Mission. Als man ihn fand, war es nicht leicht, ihn davon zu überzeugen, dass der Krieg zu Ende war und er nach Hause konnte. Ich glaube, unter uns Christen geschieht etwas sehr ähnliches. Es gibt in beiden Lagern Christen, die man erst noch davon überzeugen muss, dass der Krieg vorbei ist, dass die Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten vorbei sind. Wir haben ganz andere Sorgen, als uns gegenseitig zu bekriegen! Die Welt hat ihren Erlöser vergessen, hat ihn zum Teil nie kennengelernt; ihn, der das Licht der Welt, der Weg, Wahrheit und Leben ist; und wir verschwenden unsere Zeit in Streitigkeiten?

4. Einheit in der Liebe

Dieser praktische Beweggrund genügt jedoch allein nicht, um die Einheit der Christen herbeizuführen. Es genügt nicht, auf der Front der Evangelisierung und der Werke der Nächstenliebe geeint zu sein. Diesen Weg versuchte die ökumenische Bewegung in ihrer Anfangszeit, mit der Initiative „Life and Work“, die sich jedoch bald als unzureichend erwies. Wenn die Einheit unter den Jüngern Christi ein Abbild der Einheit des Vaters mit dem Sohn sein soll, dann muss sie in erster Linie eine Einheit in der Liebe sein, denn das ist die Art von Einheit, die in der Dreifaltigkeit herrscht. Die drei göttlichen Personen sind nicht deshalb geeint, weil sie in der Schöpfung und in allen Werken „zusammen wirken“; sie sind es in ihrem innersten Wesen. Die Heilige Schrift lädt uns ein, „uns von der Liebe geleitet an die Wahrheit zu halten“ (Eph 4,15). Und der heilige Augustinus erklärt, dass man „nicht in die Wahrheit eintritt, es sei denn durch die Liebe“ (non intratur in veritatem nisi per caritatem).[11]

Das besondere an diesem auf der Liebe basierenden Weg zur Einheit ist, dass er heute schon vor uns offen steht. Wir können den Dialog über die Lehre nicht beschleunigen, weil die Differenzen real sind und eine angemessene Beurteilung erfordern. Aber wir können die Annäherung in der Liebe beschleunigen und heute schon wirklich geeint sein. Das wahrste und sicherste Zeichen für das Kommen des Heiligen Geistes, schreibt Augustinus weiter, besteht nicht in der Sprachengabe, sondern in der Liebe zur Einheit: „Wisst, dass ihr den Heiligen Geist habt, wenn ihr zulasst, dass euer Herz sich in echter Liebe der Einheit anschließt.“[12]

Erinnern wir uns an das Loblied der Liebe des Apostels Paulus. Jedes Wort darin gewinnt eine aktuelle und neue Bedeutung, wenn man es auf die Liebe zwischen Mitgliedern verschiedener christlicher Kirchen bezieht, die im ökumenischen Dialog zueinander stehen:

„Die Liebe ist langmütig…
Die Liebe ereifert sich nicht…
Sie sucht nicht ihren Vorteil [oder den Vorteil der eigenen Kirche].
Sie trägt das Böse nicht nach [eher denkt sie an das Böse, das man selbst zugefügt hat!].
Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit [Sie freut sich nicht über die Probleme anderer Kirchen, sondern über deren geistige Erfolge].
Sie glaubt alles, hofft alles, hält allem stand“ (vgl. 1 Kor 13,4-7).

Es ist gesagt worden: „Sich lieben bedeutet nicht, sich gegenseitig in die Augen zu schauen, sondern in dieselbe Richtung zu blicken.“ Auch unter Christen bedeutet sich lieben, dass man in dieselbe Richtung blickt, nämlich auf Christus; „denn er ist unser Friede“ (Eph 2,14). Wenn wir uns zu Christus bekehren und gemeinsam auf ihn zugehen, dann werden wir Christen untereinander näher rücken, bis wir „in ihm und im Vater eins werden“ (vgl. Joh 17,21), wie er es gewollt hat. Es ist wie mit den Speichen eines Rads. Sie beginnen an weit auseinanderliegenden Punkten der Felge; je weiter sie aber zum Mittelpunkt kommen, desto näher rücken sie auch untereinander zusammen, bis sie schließlich im Zentrum eins werden. Es ist wie an jenem Tag in Stockholm…

Wir bereiten uns darauf vor, das Osterfest zu begehen. Am Kreuz „riss Jesus die trennende Wand der Feindschaft nieder […]. Durch ihn haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater“ (vgl. Eph 2,14.18). Wir dürfen nicht versäumen, diesen Zugang auch zu nutzen; für die Freude des Herzens Christi und für das Wohl der Welt.

[Aus dem Italienischen übersetzt von Alexander Wagensommer]

*

Fussnoten

[1] Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960.

[2] UR, 1.

[3] Due polmoni, un unico respiro. Oriente e Occidente di fronte ai grandi misteri della fede. Libreria Editrice Vaticana 2015.

[4] Den Text der Erklärung findet man im Enchiridion Vaticanum (EV) 17,744-817.

[5] Ebd, Nr. 40.

[6] J. Monod, Zufall und Notwendigkeit, Paris 1970.

[7] J.-P. SARTRE, Der Teufel und der liebe Gott, X, 4, Gallimard, Paris 1951.

[8] Thomas von Aquino, Summa theologica, II-IIae , q. 1,a.2,ad 2.

[9] Vgl. z.B. G. L. Prestige, God in Patristic Thought, London 1952, Kap. XIII.

[10] Vgl. H.U. von Balthasar, Casta meretrix, in Sponsa Verbi, Johannes Verlag, 2. Aufl. Einsiedeln 1971.

[11] Augustinus, Contra Faustum, 32, 18 (CCL 321, S. 779).

[12] Augustinus, Reden, 269, 3-4 (PL 38, 1236 ff.).

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