Chaos im Orient
Ortskirchen in einem Meer aus Blut und Tränen
Seit zwölf Jahren herrschen Chaos und Gewalt im Irak, seit vier Jahren Krieg und Terror in Syrien. Der Libanon droht im Flüchtlingsstrom zu ertrinken. Und jetzt wurden auch noch Jordanien und Ägypten in einen Krieg hineingezogen, in dem es um die Deutungshoheit über den Islam geht, die Christen aber die ersten Opfer sind.
Vatican Magazin, März 2015, von Stefan Baier
Nein, der Krieg des „Islamischen Staates“ (IS) ist nicht in erster Linie gegen Christen oder Jesiden gerichtet, auch nicht gegen den Westen. Wie andere islamistische Terrorverbände – Al-Kaida, Al-Nusra oder die nigerianische Boko Haram – wendet sich der IS primär gegen jene Mächte und Kräfte in der muslimischen Umma, die er für dekadent, häretisch, verwestlicht oder korrupt hält.
Aber was stimmt: Die Vernichtung der arabischen Christenheit und der Jesiden könnte die unmittelbare Folge dieser mit Massenmord, Terror, Vergewaltigung und Vertreibung ausgetragenen Identitätskrise der islamischen Welt sein. Denn mittlerweile sind all jene arabischen Staaten, in denen die angestammten Christen bis vor wenigen Jahren trotz mancherlei Diskriminierung ihren Glauben halbwegs frei leben und bekennen konnten, vom IS-Terrorismus direkt oder indirekt bedroht.
Der erste Mosaikstein, der zu Fall gebracht wurde, war ab 2003 der Irak. Unbestritten war Saddam Hussein ein grausamer Diktator, jedoch – ähnlich wie Vater und Sohn Assad im benachbarten Syrien – kein religiöser, sondern ein säkularer Tyrann. Die irakische wie die syrische Herrschaft der Baath-Partei fürchtete nichts mehr als ein Erstarken der islamischen Mehrheit. Dem Sunniten Saddam Hussein waren die Schiiten nicht geheuer, dem Alawiten Hafiz al-Assad und dann seinem Sohn Bashar al-Assad die Sunniten. Die Christen und ihre religiöse Entfaltung stellten für diese säkularen Diktaturen keine Gefahr dar. 2003 stürzte US-Präsident George W. Bush das Regime in Bagdad, ohne dem Land Stabilität und Ordnung geben zu können. Hunderttausende Christen – die meisten von ihnen katholische Chaldäer – flohen vor Chaos, täglichem Terror, wachsender Diskriminierung und der neuen schiitischen Willkür ins Ausland oder in die kurdischen Autonomiegebiete im Norden des Landes. Seit dem Anschwellen der IS-Miliz sind sie auch dort nicht mehr sicher, sondern in Lebensgefahr.
Die rund 1,6 Millionen Christen unterschiedlicher Konfessionszugehörigkeit in Syrien konnten – solange sie nicht politisch auffielen – ihren Glauben bis 2011 frei bekennen und leben. Das mit Regierungsunterstützung 2009 gefeierte Paulus-Jahr zeigte ein vitales, selbstbewusstes und mit dem staatlich kontrollierten Islam friedlich koexistierendes Christentum im Reich Assads. Doch im „Arabischen Frühling“ 2011 witterten Washington und Riad die Chance, einen Regimewechsel in Damaskus zu erzwingen. Ihr Ziel war, den „schiitischen Halbmond“ – der sich vom Westen Afghanistans über Iran, Irak und Syrien bis in den Libanon erstreckt – zu durchbrechen, der libanesischen Hisbollah den syrischen Rückhalt zu rauben und dem Iran seinen wichtigsten arabischen Verbündeten zu nehmen. Der schiitische Iran hatte nach 2003 seine Einflusszone auf Teile des im Chaos versinkenden Irak ausweiten können. Nun wollte das wahhabitische Saudi-Arabien seinerseits seine Kontrolle auf Syrien ausweiten.
Es ging den weltpolitischen Spielern wie den konkurrierenden Regionalmächten weder im Irak noch in Syrien um die Christen, sondern um die Macht über den Nahen Osten. In beiden Ländern aber fanden sich die Christen plötzlich ohne Schutz und ohne Verbündete wieder: wehrlos dem Wüten der Entfesselten ausgesetzt. Im Fall Syriens zögerten Amerikaner und Saudis auch nicht, die zwielichtigsten Kräfte als „Opposition“ gegen das verhasste Assad-Regime anzuerkennen und zu unterstützen. Selbst als die Al-Nusra-Brigaden traditionsreiche christliche Orte wie Maalula verwüsteten, Klöster und Kirchen aus apostolischer Zeit stürmten, Christen ermordeten oder zur Konversion zwangen, dämmerte es Washington nicht, dass man daran war – um mit Winston Churchill zu sprechen –, das falsche Schwein zu schlachten. Erst als der IS offen zeigte, dass er sich finanziell, militärisch, ideologisch und sogar propagandistisch längst von seinen geistigen und monetären Ziehvätern in Riad emanzipiert hatte, setzte die Bekämpfung des IS-Terrors durch den „Westen“ und seine arabischen Verbündeten ein. Der Zauberlehrling war zu einer Bedrohung für seinen alten Meister geworden.
Unterdessen ertrinkt jedoch die gesamte Region in einem Meer aus Blut und Tränen. Im Irak ist der IS nicht eine von vielen chaotischen Kräften im schiitischen Machtraum, sondern die sunnitische Speerspitze, die die bisher sichere Kurdenzone im Norden ernsthaft bedroht. Sie hat hunderttausende Christen aus Mossul und der ganzen Ninive-Region verjagt, wo sie seit Urzeiten siedelten und noch vor wenigen Jahren auf eine international garantierte Schutzzone hofften. In Syrien ragt der IS nicht nur ob seiner Brutalität, sondern ob seines militärischen Erfolgs aus hunderten Anti-Assad-Milizen heraus. Millionen Syrer haben bereits die Grenzen überschritten, weil sie in ihrer Heimat keine sichere Zuflucht mehr sehen – geschweige denn eine Zukunft. Mehr als 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge hat der nördliche Nachbar Türkei bereits aufgenommen, und versorgt sie unter hohen Kosten und Mühen mit Essen, Medikamenten, Kleidung, Decken.
Etwa die gleiche Zahl floh in den benachbarten Libanon. So heroisch es von dem kleinen, gemischtkonfessionellen Land am Mittelmeer war, die Flüchtlingsströme aus Syrien aufzunehmen: Angesichts von 1,5 Millionen syrischen und fünfhunderttausend palästinensischen Flüchtlingen steht der Libanon jetzt vor dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kollaps. Das „Land der Zedern“ – beim Zerfall des Osmanischen Reiches von den Franzosen als arabisches Land mit christlicher Mehrheit konzipiert – ist seit Jahrzehnten ein Ziel politischer Flüchtlinge: Palästinenser, Iraker und Syrer drängten in die einstige „Schweiz des Ostens“. Dies und die Massenemigration maronitischer Katholiken führte dazu, dass heute nur mehr 38 Prozent der Einwohner Christen sind.
Die Wunden des Bürgerkriegs und der lange währenden syrischen Dominanz sind noch nicht vernarbt, doch nun haben die syrischen Flüchtlingsmassen die soziale Balance des Libanon gekippt. Der Arbeitsmarkt, die Schulen, die Unterbringung, die medizinische Versorgung – alles ist aus dem Gleichgewicht geraten. Das ohnehin komplizierte Land, dessen verfassungsrechtlich verankertes Proporzsystem Sunniten, Schiiten und Christen in einem Gleichgewicht zu halten und an der Macht zu beteiligen versucht, droht unregierbar zu werden. Dass neunzig Prozent der Syrien-Flüchtlinge Sunniten sind, macht nicht nur die schiitische Hisbollah nervös, die im Libanon nicht nur Miliz, sondern auch Partei ist. In die Schieflage kommt vor allem die fragile Stellung der Christen.
Bis vor wenigen Wochen konnte man hoffen, dass wenigstens Jordanien stabil bleiben würde. Eingeklemmt zwischen schwierigen Nachbarn (Israel, Syrien, Irak und Saudi-Arabien) und mit einer aus Palästinensern, angestammten Arabern sowie Beduinen zusammengesetzten Bevölkerung, mühten sich die haschemitischen Könige seit jeher um ein Gleichgewicht der Interessen im Land. Davon profitierten die arabischen Christen, die etwa fünf Prozent der Einwohner stellen und sich stets auf den Schutz des Königs verlassen konnten. Nun aber gerät das Königshaus, das in direkter männlicher Linie von Mohammed abstammt, in Bedrängnis. Auch in der Aussenpolitik hatte König Abdullah II. auf Gleichgewicht und Harmonie gesetzt, hatte am Frieden mit Israel festgehalten und doch die Rechte der Palästinenser eingefordert, stand zum Bündnis mit Washington ohne Amerikas Nahost-Politik voll zu teilen, kritisierte Bashar al-Assad ohne sich in den Krieg der Regionalmächte um Syrien ganz hineinziehen zu lassen.
Seit der betont brutalen Ermordung eines jordanischen Kampfpiloten aus vornehmer Familie durch die IS-Terroristen hat Jordaniens Herrscher keine Wahl mehr. Abdullah weilte noch in den Vereinigten Staaten, als der Vater des Ermordeten die Armee ultimativ zum Krieg gegen den IS aufforderte – und die Armeeführung diesem einflussreichen Stammesführer Zusagen machte. Die provokative Veröffentlichung eines Videos von der Verbrennung des Piloten durch den IS und die vielfachen Rufe nach Rache liessen dem König keine Alternative: Jetzt befindet sich auch Jordanien mitten im Krieg gegen die islamistischen Terroristen, und damit in einer gesellschaftlichen Zerreissprobe. Auch wenn sich das Königshaus jetzt keinerlei Schwäche anmerken lassen darf, riskiert Amman damit das Übergreifen des Terrors auf Jordanien. Nicht zuletzt, weil sogar in Jordanien Muslimbrüder und andere radikale Gruppen existieren, die heimlich mit dem IS sympathisieren, und denen das auf Harmonie bedachte Königshaus zu westlich, zu pazifistisch, zu Israel-freundlich scheint. Und wieder ist es die schwächste, die am meisten auf Schutz angewiesene Bevölkerungsgruppe, die dadurch in Lebensgefahr gerät: die Christen.
Mit der brutalen Enthauptung ägyptischer Kopten in Libyen scheint der IS eine neue Front eröffnet zu haben. Tatsächlich haben sich islamistische Milizen im libyschen Bürgerkrieg einfach zur aufsteigenden Terrororganisation IS bekannt und mit der Veröffentlichung des Hinrichtungsvideos dessen Methoden imitiert. Dass der Bürgerkrieg in Libyen dadurch eine Internationalisierung erfährt, die Dschihadisten vieler Länder anlocken könnte, ist das eine. Noch gefährlicher aber ist das Signal an Ägypten: Durch die gezielte Ermordung von koptischen Christen versucht der IS via Libyen zum Magneten für jene von Ägyptens Präsident Al-Sisi unterdrückten und in den Untergrund gedrängten Islamisten zu werden, die sich durch das Verbot der Muslimbruderschaft heimatlos und von Sisi nicht repräsentiert fühlen.
Wiederum geht es dem IS nicht primär um die rund zehn Millionen Christen Ägyptens, sondern um die Deutungshoheit über den Islam, um die Radikalisierung der Muslime, um den Kampf gegen das säkulare Regime in Kairo – aber erneut sind die Christen die ersten Opfer. Sollten nach dem Irak, Syrien und zunehmend dem Libanon bald auch Jordanien und Ägypten in Chaos, Gewalt und Anarchie versinken, dann bliebe den arabischen Christen im Orient kein sicherer Hafen mehr – sondern nur mehr die Emigration.
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