Eine letzte Grenze

Deutschland

Echter Beistand ist wichtig für Sterbende. Das “Selbstbestimmungs”-Argument ignoriert diese Dimension.

Am 6. November 2015 werden vier Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidbeihilfe im Deutschen Bundestag in zweiter und dritter Lesung debattiert und dann zur Abstimmung gestellt. Dabei wird der Begriff der Selbstbestimmung eine wichtige Rolle spielen. Auf diese habe der Mensch ein Recht – immer und gerade, wenn es um Leben und Tod gehe. Doch was bedeutet Selbstbestimmung wirklich? Gerade wenn es um die menschliche Würde geht?

Von Josef Bordat

Die Tagespost, 04. November 2015

“Sterbehilfe” bricht ein Tabu: Sie betrachtet die Tötung eines Menschen nicht mehr als eine in sich schlechte Handlung, sondern formuliert Bedingungen, unter denen die Tötung eines Menschen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten ist.

Dem Tötungstabu korrespondiert das Leben als ein Wert an sich. Das daraus folgende Gebot, kein Leben beenden zu dürfen, auch nicht das eigene, ist ein Naturrecht, das jeder Mensch intuitiv als richtig erkennen kann und das sowohl in die religiöse Ethik (in Christentum, im Judentum und im Islam mit Hinweis auf das Gottesgeschenk des Lebens) als auch in die säkulare Ethik (etwa bei Kant, mit Hinweis auf eine moralische Lebenspflicht des empirischen Subjekts aufgrund der Würde des Transzendentalsubjekts) aufgenommen und in den Rechtsordnungen zivilisierter Gesellschaften verstetigt wurde.

Dagegen wird nun die Selbstbestimmung ins Feld geführt. Doch Selbstbestimmung – wie sie diejenigen auffassen, die meinen, je mehr Möglichkeiten für die aktive Gestaltung des Lebensendes erlaubt sind, desto mehr werde man der Würde des Menschen gerecht – gibt es in dieser Form nicht, zumindest nicht in sinnvoller Weise. Es ist ja zunächst offenkundig so, dass das Urteil über den eigenen “Lebensunwert“ des Suizidalen nur mit sehr viel Zynismus als Selbstbestimmung verklärt werden kann – mit Würde hat das nichts zu tun, schon gar nicht mit Empathie und Zuneigung. Wenn es wirklich das Mitgefühl mit dem Suizidalen wäre, das Angehörige leitete, würden sie versuchen, den geliebten Menschen zu einem anderen Urteil über sich kommen zu lassen – durch tröstende Fürsorge im Leid, durch echtes Mit-Leiden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Selbstbestimmung zum Alibi für Angehörige wird, die in erster Linie mit sich selbst Mitleid haben, weil sie das Leid nicht mehr ertragen, geschweige denn, mittragen wollen.

Sodann schliessen sich Freiheit und Suizidalität aus. Denn nirgendwo ist der Mensch unfreier als in dem Moment, wo er sich die Bedingung der Möglichkeit, Freiheit zu erfahren, nehmen will: das Leben. In der Extremsituation, in der sich ein Mensch befindet, der den Suizid erwägt, gibt es keine Klarheit, keine Vernunft und daher keine Freiheit. Der sprichwörtliche “Tunnelblick“, die Fixierung auf die Selbsttötung als einzigen “Ausweg“, ist eine feststehende Wendung in den Erzählungen derer, die mit ihrem Suizidversuch scheiterten. Um das nachvollziehen zu können, muss man sich zuvor von dem Gedanken lösen, Freiheit sei das Resultat eines möglichst breiten Angebots an Optionen. Das ist aber ein Irrtum. Denn Freiheit braucht paradoxerweise immer auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Bindung, um Entscheidungsspielräume auf ein faktisch und ethisch handhabbares Mass einzuengen. Absolute Freiheit – wozu man die Verfügung über Menschenleben, auch über das eigene, zählen darf – ist ein geradezu unmenschlich hoher Anspruch. Für den Menschen gibt es keine absolute Freiheit, zumindest nicht als spürbare Freiheit, denn absolute Freiheit führte in der Praxis zu Entscheidungsunfähigkeit und damit de facto zu Unfreiheit. Echte Freiheit gibt es nur unter Bedingungen. Eine Möglichkeit, ein Mehr an Freiheit zu erlangen, ist daher die freiwillige Selbstbindung. Für den Christen erfolgt diese als Bindung an Gott. Mit Kant ist aber auch an eine Selbstbindung an das absolute Moralgesetz zu denken, aus dem sich eine absolute Lebenspflicht notwendig ergibt.

Jede Selbstbestimmung hat Grenzen – denn Niemand lebt allein. Der Mensch bleibt bis zuletzt ein “ens sociale“ (Gemeinschaftswesen). Er verliert auch im Sterben nicht die Beziehung zu Dritten. Damit ist immer auch Verantwortung verbunden. Es ist eine Illusion zu meinen, der Suizid beträfe nur den Suizidalen selbst. Jede Handlung hat Konsequenzen für Dritte. Von jedem Suizid sind Dritte betroffen. Was für den Suizid gilt, gilt natürlich in besonderer Weise für die Suizidbeihilfe. Hier werden Dritte unmittelbar mit einbezogen. Die Selbstbestimmung untergräbt faktisch die Selbstbestimmung Dritter, indem sie diese mindestens in schwerwiegende Gewissenskonflikte bringt, wenn nicht gar (je nach Ausgestaltung der Rechtslage) mit einer gesetzlichen “Hilfspflicht“ konfrontiert.

Doch selbst dann, wenn der Mensch allein lebte, gäbe es Grenzen seiner Verfügungsmacht über sich und das in ihm wohnende Menschliche (Kant nennt es Sittlichkeit oder moralisches Gesetz). Es gibt also Pflichten gegen unser Menschsein als solches, die wir auch dann nicht verletzen dürfen, wenn sich alle Menschen, die eine Entscheidung äusserlich etwas angeht, einig sind. Es handelt sich um Entscheidungen, die gegen das Wesen und die Würde des Menschen gerichtet sind. Hier ist der Autonomie des Menschen eine letzte Grenze gezogen: eben jene Würde, die heute gerade als Grund für ein schrankenloses Selbstbestimmungsrecht herhalten muss. Doch Würde umfasst mehr als das, was einen einzelnen Menschen angeht, mehr als seinen Körper und seine Seele.

Es geht um die Würde, die in uns wohnt, uns zugleich aber übersteigt und uns letztlich entzogen ist. Auch die schafft man aus der Welt, wenn man sich das Leben nimmt oder nehmen lässt. Selbsttötung und “Sterbehilfe“ gehören also zu diesen gegen das Wesen und die Würde des Menschen gerichteten Entscheidungen. Selbsttötung und “Sterbehilfe“ widersprechen der Menschenwürde. Immer. Weil ich nicht nur meinen Körper zerstöre, der mir gehört, sondern etwas, das mir nicht gehört: die Würde. Wer das Subjekt vernichtet, schafft auch das aus der Welt, was es überhaupt erst zum Subjekt macht – und schadet damit dem Prinzip der Subjektivität an sich. Es ist also ein Missbrauch von Selbstbestimmung, diese so weit zu fassen, dass auch die Vernichtung ihrer Voraussetzung, das Subjektsein des Menschen, darunterfällt.

Eine noch deutlichere Ablehnung von Selbsttötung und “Sterbehilfe“ erwächst aus dem Begriff der Würde, wie ihn das Christentum prägt. Die christliche Theologie verleiht dem Menschen eine unveräusserliche Würde, eine dignitas humana, die direkt aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen erwächst. Als Abbild Gottes ist dem Menschen personale, subjektive Würde verliehen. Ausgangspunkt der christlichen Anthropologie ist die Geschöpflichkeit des Menschen. Gott schuf den Menschen als sein Abbild, so steht es gleich dreimal hintereinander in der Genesis (Gen 1, 26–27). Gottebenbildlichkeit ist demnach eine Gabe Gottes, die sich durch Unverfügbarkeit für den Menschen auszeichnet. Sie ist keine Qualität des Menschen, sie besteht nicht in etwas, das der Mensch ist oder tut, sondern sie besteht, indem der Mensch selber und als solcher besteht, als ein Gottes Geschöpf. Er wäre nicht Mensch, wenn er nicht Gottes Ebenbild wäre. Er ist Gottes Ebenbild, indem er Mensch ist. Damit ist die Würde des Menschen, die aus der Gottebenbildlichkeit erwächst, unveräusserlich, nicht von ihm zu trennen, weil die Gottebenbildlichkeit nicht von ihm zu trennen ist. So ist der Mensch als geschaffenes Ebenbild Gottes von seinem Ursprung, seinem Wesen und seinem Ziel her nicht eigenbestimmt, seine Würde ist eine dignitas aliena, eine “fremde Würde“ (Martin Luther). Der Mensch konstituiert sich also nicht in völliger Autonomie als selbstbestimmtes Subjekt, sondern bleibt dem Objekt in einer heteronom gestalteten Beziehung zugewandt. Gerade dadurch erhält der Mensch nicht nur eine ihm “fremde“, sondern eine ihm entzogene Würde, eine absolute Würde, die nicht Gegenstand konventionaler Überlegungen der Gemeinschaft oder subjektiver Entscheidungen des Menschen sein kann. Ohne die absolute Würde wird der Mensch zum Spielball von Interessen, kann instrumentalisiert werden und verliert den Anspruch auf unbedingte Achtung seines Lebensrechts.

Die Abschaffung der Sklaverei etwa konnte nur gelingen, weil sich Christen vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes für die Freiheit des Menschen einsetzten. Die christliche Stimme ist heute die einzige, die sich noch deutlich vernehmbar für den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens erhebt, eben weil es im Christentum eine absolute, von Gott her bestimmte Würde zu schützen gilt. Die Position der katholischen Kirche fasst die Überlegungen zu Subjektivität, Sittlichkeit und Würde in der Forderung nach “Achtung vor der menschlichen Person“ zusammen.

In der Pastoralkonstitution “Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils heisst es: “Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als blosses Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Masse ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers“ (Nr. 27). Auch Suizid und “Sterbehilfe“ ist daher vor Gott und den (anderen) Menschen nicht zu verantworten. Selbstbestimmung verfängt hier nicht. Mehr noch: Selbstbestimmung im Zusammenhang mit “Sterbehilfe“ führt zu Fremdbestimmung. Am Ende des Weges steht nicht weniger, nein: mehr Bevormundung. Eine völlig neue Art Paternalismus erhält Einzug. Besonders Pflegern und Ärzten kann die Situation einer normativ auferlegten Assistenzpflicht nicht zugemutet werden. Zudem: Wenn man Selbstbestimmung wirklich ernst nähme, dürfte es keine Zusatzbedingungen zum autonomen Willen geben. Dann müsste man konsequenterweise auch einem 17-Jährigen mit Liebeskummer, der aus irgendeinem Grund allein nicht zurechtkommt mit der Selbsttötung, bei dieser assistieren. Dass man zusätzliche Bedingungen macht, ist gerade eine Einschränkung der Selbstbestimmung. Das ist sicher vernünftig, nur zeigt es eben, dass Selbstbestimmung als Argumentationsfigur für sich genommen nicht taugt. Das Gravierendste ist jedoch, dass “Sterbehilfe“ zur Erhöhung des Rechtfertigungsdrucks und zur Entsolidarisierung mit Alten, Kranken, Behinderten und Suizidalen führt. Das müssen wir derzeit in den Niederlanden beobachten, wo die Zahl der Suizide in den letzten sechs Jahren um über ein Drittel anstieg.

Die Angehörigen, aber vor allem auch die betroffenen Menschen selbst geraten durch die Möglichkeit der “Sterbehilfe“ unter einen kaum kalkulierbaren psychischen und sozialen Druck. Mit dem Recht, “Sterbehilfe“ beanspruchen beziehungsweise leisten zu können, korrespondiert nämlich die Pflicht zur Rechtfertigung, warum man diese kostengünstige Möglichkeit dann nicht auch realisiert. Kranke, behinderte und alte Menschen sollen sich aber nicht rechtfertigen müssen, wenn sie leben wollen. Sterben ist Teil des Lebens und gute Palliativmedizin mit optimaler Schmerzmittelversorgung macht “Sterbehilfe“ überflüssig. Wir brauchen Fachpersonal, das als Sterbebegleiter den letzten Weg mitgeht, keine Tötungsgehilfen, die beim Suizid assistieren. Die Hospizbewegung ist daher die menschenwürdige Antwort auf die demographische Entwicklung, nicht die “Sterbehilfe“.

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