Ohne Identität keine Solidarität

Der immer breiter anschwellende Flüchtlingsstrom, der sich einer Völkerwanderung ähnlich Richtung Westeuropa bewegt, erhitzt die Gemüter und ist darum für Politiker ein heisses Eisen

Stephan BaierVon Stephan Baier

Die Tagespost, 21. August 2015

Der immer breiter anschwellende Flüchtlingsstrom, der sich einer Völkerwanderung ähnlich Richtung Westeuropa bewegt, erhitzt die Gemüter und ist darum für Politiker ein heisses Eisen. Wenn die Art der Auseinandersetzung aber weiter eskaliert, werden auf der einen Seite nur mehr die hörbar sein, die Migranten in beliebiger Zahl aufnehmen wollen und jeden Besorgten als Rassisten beschimpfen, und auf der anderen Seite jene, die die Grenzen dicht machen wollen und die anderen als “naive Gutmenschen” verhöhnen. Fieberschübe der Angst im Volk könnten dann xenophobe Parteien an die Macht spülen. Wir waren doch so stolz auf unseren europäischen Rationalismus. Jetzt würde uns ein wenig mehr Vernunft guttun.

Schon kritisiert UN-Flüchtlingskommissar Guterres, “dass die Diskussionen über Migration in Europa eher emotional als rational sind”. Da wird etwa immer lauter nach “europäischer Solidarität” und einem kraftvollen Handeln Europas gerufen, doch als Brüssel eine auf Fakten beruhende Migrationsagenda entwarf und das Solidaritätsprinzip in Zahlen übersetzte, trat eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten rasch auf die Bremse. Noch immer glauben manche, der Flüchtlingsstrom könne gerade an ihnen vorüberziehen (nach Deutschland, Österreich und Schweden). Noch immer hoffen viele, ihr Land abschotten zu können gegen die “Fremden” mit ihren Sorgen, Problemen und Konflikten.

Das ist die Kehrseite der Globalisierung, an der wir bisher ja auch ganz gut verdienten: Kriege und Konflikte, strukturelle Probleme, Elend und Ungerechtigkeiten irgendwo auf der Welt wirken sich zunehmend auf alle aus. Wenn Europa nicht hilft, Armut, Hunger, Unrecht und Gewalt in Afrika und im Orient zu beseitigen, dann schwappt all dies nach Europa herein. Der Aberglaube, dagegen könnten Einreiseverbote und Abschiebungen, Mauern und Zäune alleine helfen, ist aus der Angst geboren. Diese Angst ist durchaus verständlich: Wenn wir Europäer zu schwach sind, Afrika aus dem Elend und dem Orient zu einer friedlichen Ordnung zu verhelfen, wie sollten wir dann stark genug sein, die Migranten bei uns in Europa zu integrieren? Werden sie nun also hier ihre ethnischen, konfessionellen und ideologischen Konflikte austragen? Werden sie unseren Wohlstand, unseren Sozialstaat, unseren Rechtsstaat versenken?

All diese Fragen bedürfen rationaler Antworten, sie offenbaren nämlich eine tiefsitzende Angst der Europäer vor stürmischen Zeiten, denen unsere bereits heute fragil gewordenen Sozial- und Rechtssysteme nicht gewachsen sein könnten. In der irrationalen Angst vor den “Fremden” – mit ihren fremden Identitäten, Konflikten, Gewohnheiten – offenbart sich aber auch die Identitätskrise der Europäer. Da sind viele rationale Fragen: nach der Flüchtlingsaufnahme und ihrer Integration, nach der Solidarität in Europa und Europas mit dem Rest der Welt, nach Koexistenzregeln in sich wandelnden Gesellschaften. Sie alle lassen sich nur beantworten, wenn wir Europäer wissen, wer wir selbst sind, worauf unsere und unserer Rechtsordnung Identität beruht. Nicht die nach Europa strömenden Flüchtlinge bedrohen die Identität Europas. Wir Europäer haben sie seit vielen Jahren verworfen, vergraben, verleugnet, vergessen. Und jetzt wird die Identitätskrise der Europäer zur Solidaritätskrise Europas.

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