Die neue Taktik des Kreml

Russland hat die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine nicht aufgegeben

Die Tagespost, 15. Oktober 2014, Von Juri Durkot

Die Anfang September vereinbarte Waffenruhe bleibt eine Fiktion. Es wird weiter geschossen, Soldaten und Zivilisten sterben. Vergangene Woche meldeten ukrainische Behörden, dass im letzten Monat 64 Soldaten und 33 Zivilisten getötet wurden. Über die Verluste bei Separatisten und russischen Söldnern gibt es traditionell keine verlässlichen Angaben. Auch wenn die ukrainische Armee nach der Invasion der russischen regulären Verbände Ende August wohl nicht mehr in der Lage ist, aktiv gegen die Separatisten vorzugehen, und eher versucht, ihre Positionen zu halten, gehen die Kämpfe in einzelnen Orten weiter.

Hart umkämpft bleibt der Flughafen von Donezk, den die ukrainischen Verbände Ende Mai zurückerobert haben und seitdem halten können. Von dem neuen hochmodernen Terminal aus Glas und Stahl, der zur Fussball-Europameisterschaft 2012 neu errichtet wurde, ist nur noch eine Ruine übrig geblieben. Auch die strategisch wichtige Industriestadt Mariupol am Asowschen Meer kam einige Male unter Beschuss.

Von einer Entspannung kann keine Rede sein. Schon deshalb nicht, weil es bei den Separatisten mehrere Gruppen gibt, die auf die offizielle Führung nicht unbedingt hören und auf eigene Faust in Einzelgefechte verwickelt sind. Das kann aber auch Teil des Spiels sein, in dem die “Volksrepubliken” von Donezk und Luhansk die fehlende Kontrolle vortäuschen. Doch die Spannungen unter den Rebellen sind unübersehbar. Nicht nur kann der militärische Flügel schlecht mit der zivilen Separatisten-Regierung auskommen, auch der Konflikt zwischen Ideologen und Pragmatikern spitzt sich zu. Nur von jenen, die laut für den Anschluss an Russland plädiert haben, ist heute kaum noch etwas zu hören.

Zwar hat Moskau die Unterstützung der Separatisten nicht aufgegeben und beachtliche Mengen an Waffen und Munition geliefert. Und Spezialeinheiten des russischen Militärs bleiben nach wie vor auf ukrainischem Gebiet. Doch die Taktik des Kreml scheint sich zu ändern. Der ursprüngliche Plan ist womöglich nicht aufgegangen, es ist nicht gelungen, im gesamten Südosten der Ukraine Unruhen zu stiften. Mit Ausnahme des Donbas ist die Unterstützung des Separatismus eher marginal, und selbst dort können die Separatisten nur etwa ein Drittel der Region kontrollieren. Unklar bleibt, wie es mit dem Projekt “Neurussland” weitergeht. Manche russische Oppositionelle behaupten, Putin habe sich davon mittlerweile verabschiedet. Eine offene Intervention scheint im Moment unwahrscheinlich. Ob der angekündigte Abzug der russischen Truppen aus der Grenzregion Rostow tatsächlich vollzogen wird, bleibt unklar. Genauso gut könnte es sich wieder um ein taktisches Manöver handeln.

Unverändert bleibt der wirtschaftliche Druck. Immer wieder werden Gruppen von ukrainischen Waren durch russische Behörden mit Importverboten belegt. Zuletzt hat es die Käsereien getroffen. Die Drohung, Schutzzölle gegen ukrainische Exporte einzuführen, zwang dazu, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine auszusetzen. Die stärkste Waffe bleiben die Gaslieferungen. Seit Juni wird kein russisches Gas mehr in die Ukraine geliefert. Auch wenn das Land etwa 20 Milliarden Kubikmeter selber fördern kann, grosse Teile der Industrie im Donbas in Scherben liegen und die Wirtschaftskrise den Verbrauch insgesamt stark nach unten gedrückt hat, kommt man ohne Gasimporte nicht aus.

Den Gesamtbedarf für das kommende Jahr schätzt man auf 35 Milliarden Kubikmeter. Russland besteht auf einem Preis von 485 US-Dollar pro tausend Kubikmeter und wäre allenfalls bereit, einen Nachlass von 100 US-Dollar zu gewähren. Zu den Vorbedingungen gehören die Begleichung der alten Gasschulden sowie die Vorauszahlung bei neuen Gaslieferungen. Kiew besteht darauf, dass der Gaspreis zuletzt politisch motiviert und nicht marktgerecht war, somit wären die Schulden deutlich niedriger. Mittlerweile liegen gegenseitige Klagen am Stockholmer Schiedsgericht vor.

Tatsächlich konnte die Ukraine bislang kleine Mengen von russischem Gas in Europa deutlich günstiger kaufen. Doch die Hoffnungen in Kiew, das russische Gas vollkommen durch Rückimporte aus Europa zu ersetzen, könnten sich als Illusion entpuppen. Gazprom versucht, alle Hebel zu nutzen, um dies zu verhindern. Mehrere europäische Länder haben mittlerweile gemeldet, dass zuletzt teilweise weniger geliefert wurde. Gazprom begründete dies mit technischen Problemen, die Experten sehen darin aber eher ein potentes Druckmittel.

Die Gasverhandlung unter Vermittlung der EU haben noch keinen Durchbruch gebracht. Der Zeitfaktor spielt hier Russland in die Hände: Je kälter es wird, desto höher wird der Druck auf die ukrainische Regierung. Moskau könnte sich auch die Proteststimmungen in der ukrainischen Gesellschaft und die wachsenden sozialen Probleme zunutze machen. Vor dem Treffen zwischen Putin und Poroschenko in Mailand ist man in Kiew jedenfalls sehr zurückhaltend bei den Einschätzungen.

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