Ein Papst, der Türen und Herzen öffnet

Vatikan und Weltkirche vor der Familiensynode in Rom:

Die Hl. Familie mit Gott Vater und dem Heiligen GeistBistum Chur: Gebetsempfehlung

Eine Standortbestimmung im Gespräch mit dem Präsidenten des Einheitsrats, Kardinal Kurt Koch.

Die Tagespost, 26. September 2014

Von Guido Horst

In Rom geht es nun mit schnellen Schritten auf die kommende Bischofssynode über Ehe und Familie zu. Es hat Unruhe gegeben. Auch unter Kardinälen. Offen wurde über Änderungen in der Pastoral diskutiert, zum Beispiel im Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Was sind Ihre Erwartungen an die Synode? Wird es zu Auseinandersetzungen kommen?

Erstens handelt es sich um eine ausserordentliche Bischofssynode, die ordentliche wird erst im kommenden Jahr stattfinden. So wird es dazwischen viel Zeit geben, diese Fragen gründlich zu behandeln. Zweitens sind die Herausforderungen an Ehe und Familie in der heutigen Gesellschaft so gross, dass man nicht die ganze Synode auf einzelne Fragen fokussieren darf. Papst Franziskus hat gewünscht, dass man die grossen Herausforderungen, vor denen Ehe und Familie heute stehen, vor allem unter dem Aspekt der Evangelisierung intensiv diskutiert. Deshalb hoffe ich vor allem, dass es eine faire Diskussion geben wird, die dem Papst helfen wird, Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen.

Was halten Sie von Stimmen, die die kommende Synode unter dem Vorzeichen sehen, dass Papst Franziskus nun endlich einige Dinge der Lehre über Ehe und Familie ändern wird, die von seinen Vorgängern – siehe “Humanae vitae” oder “Familiaris consortio” – formuliert worden sind, aber angeblich nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit der Katholiken übereinstimmen?

Ich sehe im bisherigen Pontifikat von Papst Franziskus überhaupt keine Anzeichen, dass er die Lehre der Kirche ändern will und ändern wird. Er hat einen anderen Zugang zu dieser Lehre und stellt sich die Frage, wie die Lehre der katholischen Kirche im Alltag gelebt werden kann. Und wie die Pastoral aussehen muss, um den Menschen gerecht zu werden. Deshalb halte ich die Gegenüberstellung von Lehre und Pastoral, wie sie heute immer wieder vertreten wird, für nicht hilfreich.

Sie sagten gerade, Franziskus habe einen anderen Zugang zur Lehre… Meinen Sie damit den Lateinamerikaner Bergoglio, der in den Armenvierteln gearbeitet hat?

Wir Europäer kommen gern von der Doktrin, von der Lehre her und blicken dann auf die Situation der Menschen. Bei Papst Franziskus stelle ich fest, dass bei ihm immer von vornherein eine Korrelation zwischen der Lehre und der Situation der Menschen besteht. Dass er gleichsam mit den Augen der Menschen die Lehre liest.

Eine Frage an den Kurienkardinal Koch: Was spüren Sie von der Reform der römischen Kurie, die Franziskus energisch anpackt und für die er einen Rat von acht beziehungsweise neun Kardinälen arbeiten lässt? Wie ist die Stimmung? “Organismen”, die evaluiert werden und reformiert werden sollen, fühlen sich nicht wohl. Welche Änderungen erwarten Sie? Geht es nur um Strukturen, oder auch um Mentalitäten?

Ich denke, es ist viel zu früh, hier Klares zu sagen, in welche Richtung es gehen wird. Man muss diese Neuner-Gruppe von Kardinälen arbeiten lassen. Sie haben eine grosse Aufgabe vor sich. Es gilt, alles zu überprüfen, was man verbessern kann und welche Korrekturen angebracht werden müssen. Dass in einer Organisation bei gewissen Abteilungen, die den Eindruck haben, sie werden begutachtet und es könne vielleicht Änderungen geben, Ängste entstehen können, ist nicht ungewöhnlich. Das ist aber kein Grund, nichts zu tun, sonst könnte man ja überhaupt keine Reformen einführen. Viel wichtiger als die strukturellen Fragen sind für mich die spirituellen Reformen. Das heisst, dass der Geist im Vatikan erneuert werden muss. Es geht darum, dass wir wirklich in dem Bewusstsein handeln, im Dienst der Kirche und des Papstes zu stehen, dass wir nicht die Herren der Kirche sind. Und dass wir vor allem auch im Dienst der Ortskirchen stehen.

Papst Franziskus ergreift besondere ökumenische Initiativen: Er schickt Video-Botschaften an charismatische Pfingstler, besucht eine evangelikale Gemeinschaft in Caserta, richtet eine Botschaft an die Waldenser. Sehen Sie als “Ökumene-Minister” neue Akzentsetzungen im Umgang des lateinamerikanischen Papstes mit Nicht-Katholiken?

Ich glaube schon, dass da eine ganz neue Initiative vorliegt. Es ist aber keineswegs so, dass wir bisher keine Kontakte mit diesen Gruppierungen gehabt haben. Aber es waren doch relativ viele Türen geschlossen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Pentekostalismus, also die pentekostalischen Bewegungen und die Pfingst-Kirchen, zahlenmässig die zweitgrösste Realität in der Christenheit nach der römisch-katholischen Kirche sind. Man muss also von einer Pentekostalisierung des Christentums reden oder vielleicht sogar von einer vierten Form des christlichen Lebens: einer katholischen, einer orthodoxen, einer protestantischen und einer pentekostalischen Form. Dass der Heilige Vater den Kontakt mit diesen Gruppierungen sucht, ist etwas sehr Positives. Diesbezüglich hat er in Argentinien, wo die pfingstlerischen und evangelikalen Strömungen sehr lebendige Wirklichkeiten sind, persönliche Erfahrungen machen können. Ich bin deshalb überzeugt, dass er uns in diese Welt hinein Türen öffnen kann, die bisher verschlossen gewesen sind.

Waren diese Türen von Seiten des Vatikans verschlossen oder von Seiten der anderen Gemeinschaften?

Auch von Seiten der anderen Gemeinschaften, weil nicht wenige dieser Bewegungen anti-katholisch und anti-ökumenisch sind. Da finde ich es sehr positiv, dass der Heilige Vater durch die unmittelbare Begegnung mit diesen Gruppierungen viele Vorurteile, die sie gegenüber der katholischen Kirche und vor allem gegenüber dem Papsttum hegen, überwinden kann.

Wenn Sie einen Drei-Jahres-Plan für sich entwickeln würden… Haben Sie da schon irgendetwas auf der Agenda, eine Begegnung mit Charismatikern oder Evangelikalen? Berührten die schon Ihre Arbeit?

Sie berührt schon unsere Arbeit. Wir sind bereits im Gespräch mit der WEA, der “World Evangelical Alliance”. Wir haben Konsultationen mit den Pentekostalen. Wir können den Dialog aber nur mit solchen führen, die einen Dialog auch wollen, und da verspreche ich mir, dass Papst Franziskus die Herzen verschiedener Menschen in diesen Bewegungen öffnen kann, so dass ein Dialog vermehrt möglich wird.

Sind Sie von der Entscheidung der anglikanischen Kirche von England, Frauen zu Bischöfinnen zu weihen, enttäuscht? Ein weiterer Rückschlag für die Ökumene?

Es war zu erwarten, dass dieser Schritt kommt. Denn wenn eine Kirchengemeinschaft das Priesteramt für die Frau öffnet, dann ist es nicht mehr aufzuhalten, dass dieser Weg auch für das Bischofsamt geöffnet wird. Trotzdem hat es natürlich für uns Katholiken eine neue Qualität, weil im Bischofsamt die Fülle des geweihten Amtes gegeben ist. Insofern ist dies eine neue Erschwernis im ökumenischen Dialog, der das Ziel hat, die Einheit zu finden, und zur Einheit gehört nach katholischer Vorstellung auch die Anerkennung der Ämter. Wenn nun aber die katholische Kirche selbst aus Glaubensgründen die Frauenordination nicht für möglich hält, dann stellt die Entscheidung der anglikanischen Gemeinschaft ein weiteres Hindernis in der gegenseitigen Annäherung zwischen katholischer und anglikanischer Kirche dar. Trotzdem werden wir den Dialog, wie wir ihn bisher gesucht haben, weiterführen.

Der anglikanische Primas, Erzbischof Justin Welby von Canterbury, galt für viele als Hoffnungsträger des ökumenischen Dialogs mit den Anglikanern. Haben Sie sich mit ihm über die Entscheidung für Bischöfinnen ausgetauscht?

Wir haben schon vorher darüber gesprochen, weil diese Entscheidung absehbar war, und haben auch nachher Briefkontakt gehabt. Aber ich denke, man darf jetzt die Beziehungen mit der anglikanischen Kirche nicht allein auf dieser Ebene sehen. Ich persönlich habe von Erzbischof Welby einen sehr positiven Eindruck, den eines sehr spirituellen Menschen, dem der Glaube in seiner gelebten Dimension sehr wichtig ist. Wir haben auch ein grosses Projekt zwischen der anglikanischen und der katholischen Kirche in der Frage des Menschenhandels. Dabei handelt es sich um eine Initiative von Papst Franziskus und Erzbischof Welby, gegen den Menschenhandel konkret etwas zu unternehmen. Diese positiven Linien müssen wir weiterführen.

Sieht es so aus, als würde das lang erwartete panorthodoxe Konzil jetzt endlich kommen?

Ich kann nur hoffen und wünschen, dass es kommen wird. Denn es ist doch sehr wichtig, dass sich die orthodoxen Kirchen, die unter sich ja auch einige Spannungen haben, zusammenfinden und gemeinsam Wege in die Zukunft gehen können. Und so auch ein Zeugnis geben können, was gelebte Synodalität ist. Papst Franziskus hat in seinem Apostolischen Schreiben “Evangelii gaudium” die Synodalität der orthodoxen Kirchen gerühmt. Deshalb möchten wir jetzt auch sehen, wie eine solche Synodalität auf einer panorthodoxen Synode gelebt wird. Ich bin überzeugt, dass eine solche Synode uns helfen wird, den Dialog zwischen den orthodoxen Kirchen und der katholischen Kirche zu vertiefen.

Wird das so ähnlich sein wie das Zweite Vatikanum? Laden die Orthodoxen Beobachter oder Gäste der katholischen Kirche ein?

Die Frage ist noch nicht geklärt. Ich habe sie gestellt, aber noch keine Antwort bekommen. Man muss davon ausgehen, dass orthodoxe Synoden ein wenig anders funktionieren als die katholischen. Bei den katholischen Synoden haben wir intensive Diskussionen und Beratungen während den Synoden. Die Orthodoxen tendieren eher dahin, die Fragen im Vorfeld zu klären, um dann zusammenzukommen und die Entscheidungen feierlich zu proklamieren.

Eminenz, unser letztes Interview haben wir vor über einem Jahr geführt. Damals hatten die katholische Kirche und der Lutherische Weltbund gerade die gemeinsame Erklärung “Vom Konflikt zur Gemeinschaft” veröffentlicht. Wie ist im zurückliegenden Jahr die Vorbereitung des Luther-Jahrs 2017 weitergegangen?

Unsere Begegnungen und Verhandlungen finden auf der universalen Ebene statt. Das heisst unser Gesprächspartner ist der Lutherische Weltbund, mit dem zusammen wir das genannte Dokument erarbeitet haben, das nun darauf angewiesen ist, rezipiert zu werden. Wir haben in der Zwischenzeit auch eine gemischte Arbeitsgruppe eingesetzt, die liturgische Elemente einer gottesdienstlichen Feier für ein gemeinsames Reformationsgedenken zusammentragen wird. Daneben gibt es Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene, bei denen aber die nationalen Bischofskonferenzen die ökumenischen Partner sind. Was Deutschland betrifft, empfinde ich im Blick auf den Grundlagentext der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) “Rechtfertigung und Freiheit” ähnliche Sorgen, wie sie von katholischer Seite bereits ausgesprochen worden sind. Mich erstaunt, wie positiv und optimistisch die EKD die Reformation und die nachfolgende Geschichte sieht. Die Kirchenspaltung und die anschliessenden grausamen Konfessionskriege, vor allem der Dreissigjährige Krieg, werden weithin ausgeblendet. Stattdessen wird etwas euphorisch behauptet, die Reformation habe die Neuzeit ermöglicht und zur Pluralisierung der Kirchen geführt. Dies ist in meinen Augen eine erstaunliche Aussage, denn das Ziel der Ökumene ist nicht eine immer weitergehende Pluralisierung von Kirchen, sondern das Zurückfinden zur einen Kirche Jesu Christi.

Etwas überspitzt formuliert: Die christlichen Konfessionen zanken sich und radikalisierte Kräfte im Islam setzen zum Grossangriff auf das Christentum an… Erschrecken Sie Ereignisse wie im Nord-Irak oder Phänomene wie die Terrormilizen des IS? Was kann man tun? Wie soll die katholische Kirche reagieren? Wie der Papst und der Vatikan?

Natürlich erschrecken mich diese Phänomene. Ich habe vor Jahren ein Buch über die Invasion des Islam im Irak als einem Ur-Gebiet des Christentums in den frühen Jahrhunderten gelesen und habe gedacht, dass solche Phänomene der Geschichte zugehören. Es ist erschreckend, dass heute dasselbe mit denselben Methoden wieder geschieht, dass die Menschen vor die Wahl gestellt werden, entweder zum Islam zu konvertieren, zu fliehen oder den Tod auf sich zu nehmen. Ein solches Vorgehen ist eine gravierende Verletzung der Menschenrechte, vor allem der Religionsfreiheit. Dies sind alarmierende Phänomene. Ebenso alarmierend ist für mich die Resonanz, die der IS in Europa findet. Wenn vierhundert Personen aus Deutschland in den Irak und nach Syrien gegangen sind, um dort die IS zu unterstützen, muss man davon ausgehen, dass es hierzulande noch viel mehr Sympathisanten des IS und damit Terroristen gibt. Hinzu kommt das grosse Problem des Salafismus, das unter uns gegenwärtig ist. Ich denke schon, dass die katholische Kirche ein deutliches Wort gegen die Christenverfolgung in der heutigen Welt sagen muss. Denn achtzig Prozent der Menschen, die heute aus Glaubensgründen verfolgt werden, sind Christen.

Hand aufs Herz: Leben wir in apokalyptischen Zeiten?

Ja, man kann das durchaus so nennen, wenn man alle Krisenherde in der heutigen Welt einmal zusammen sieht. Hinzu kommt die grosse Krise in der Ukraine, die leider auch zu ökumenischen Problemen geführt hat. Im Blick auf alle diese Konflikte muss man sich schon fragen, wo wir heute stehen. Ich sehe in der heutigen Situation auch eine Herausforderung an uns Menschen im Westen. Denn viele radikale Verhaltensweisen müssen auch als Reaktionen auf eine weit verbreitete Orientierungslosigkeit bei uns verstanden werden.

Eine abschliessende Frage: Hin und wieder müssen Berichterstatter oder auch Sprecher des Vatikans gewisse Äusserungen oder Wendungen des lateinamerikanischen Papstes erklären. Man denke nur an die beiden Scalfari-Interviews. Vermissen Sie manchmal die – zugegebenermassen europäische und professorale – gedankliche Klarheit in den Aussagen von Benedikt XVI.?

Da muss man wohl zweierlei sehen. Da ist erstens die Art und Weise, wie Papst Benedikt und Franziskus reden. Papst Benedikt ist ein differenzierter Systematiker; Papst Franziskus gebraucht sehr viele Bilder, und Bilder sind vieldeutiger und in vieler Weise interpretierbarer als klare Aussagen. Darin besteht freilich auch der Grund dafür, dass Papst Franziskus bei den Menschen ankommt. Zweitens bin ich erstaunt, dass vieles, was Papst Benedikt XVI. gesagt hat, negativ aufgenommen worden ist, und vieles, was Papst Franziskus sagt, ein positives Echo findet, auch wenn beide Päpste dasselbe sagen. Welcher Sturm der Entrüstung ist beispielsweise nach der Freiburger Rede von Papst Benedikt über die Entweltlichung ausgebrochen; als dann aber Papst Franziskus dasselbe noch viel schärfer sagte, fanden dies selbst die heftigen Kritiker von Papst Benedikt auf einmal gut. Wie Aussagen aufgenommen werden, hängt offensichtlich nicht nur vom Sender, sondern weitgehend auch vom Empfänger ab.

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