“Ich habe mein Bistum an ISIS verloren”

“Wir sind in einer existenzbedrohenden Lage”

Oliver MaksanOpendoors
Hilfe für verfolgte und bedrohte Christen
Kirche in Not

Erzbischof Amel Nona ist seit 2010 chaldäischer Oberhirte von Mossul – “Wir sind in einer existenzbedrohenden Lage”.

Die Tagespost, 30. Juni 2014, Von Oliver Maksan

Ich habe mein Bistum an ISIS verloren

Exzellenz, Sie mussten mit fast allen Ihren Gläubigen aus Mossul fliehen. Im Westen war man völlig überrascht vom Vorstoss der Dschihadisten. Gab es keine Anzeichen für die Offensive von ISIS am 9. Juni?

Doch. Die gab es. In den vergangenen Monaten war es in Mossul sehr gefährlich geworden. Ständig gab es Anschläge und Autobomben. Die Lage wurde zunehmend instabiler. Anfang des Monats dann wurden verschiedene Viertel im Westen der Stadt von dschihadistischen Gruppen besetzt. Danach gab es Zusammenstösse zwischen Armee und Dschihadisten. Wenige Tage später aber, am Pfingstsonntag Abend, verliessen Armee und Polizei fluchtartig die Stadt. Das sprach sich schnell herum. Damit setzte eine Panik in der Bevölkerung ein, dass jetzt die ganze Stadt an ISIS fallen würde. So kam es ja dann auch.

Wieviele Menschen sind geflohen?

Über 450 000 Menschen sollen geflohen sein, darunter fast alle Christen. Wir waren zuletzt etwa 5 000. Sie haben in Kurdistan und verschiedenen Städten der Niniveh-Ebene Zuflucht gefunden. Als Mitte vergangener Woche dann noch Karakosch, die grösste christliche, vor allem syrisch-katholische Stadt des Irak, und umliegende Orte bei Auseinandersetzungen zwischen ISIS und kurdischen Kämpfern unter Beschuss kam, flohen etwa weitere 450 00 Christen. Aber damit hat der zweite Akt der Tragödie begonnen. Wovon sollen diese Menschen jetzt leben?

Wo sind sie untergebracht?

Überwiegend in Einrichtungen der Kirche wie Schulen und Gemeindesälen. Manche auch bei Verwandten und Freunden. In den grossen Lagern, die die kurdische Regierung errichtet hat, sind sie nicht. Insgesamt ist es eine schwierige Situation. Sie haben ja nichts mitnehmen können. Wir als Kirche versuchen unser möglichstes. Aber die Zahlen sind vor allem seit der Flucht aus Karakosch zu gross. Manche Christen aus Mossul haben sich nach Karakosch geflüchtet und mussten jetzt innerhalb von zwei Wochen erneut flüchten.

Wissen Sie, ob die Dschihadisten Kirchen in Mossul zerstört haben?

Meinen Informationen nach sind unsere Kirchen intakt. Bislang wurde unser Eigentum nicht angetastet. Das höre ich von Menschen, die in der Stadt geblieben oder wieder zurückgekehrt sind. Von einem marianischen Heiligtum wurde die Madonnenfigur auf dem Dach entfernt. Das werte ich aber nicht als spezifisch anti-christlichen Akt. Denn die Dschihadisten haben auch Statuen von Politikern und historischen Persönlichkeiten auf öffentlichen Plätzen abgebaut, weil es ihrer Meinung nach gegen das islamische Abbildungsverbot verstösst.

Nach dem Fall Mossuls und der christlichen Fluchtwelle: Wie ist die Stimmung unter den Christen Iraks? Wollen alle nur noch weg?

Die Stimmung ist sehr, sehr schlecht. Manche Christen haben das Land schon verlassen. Wir erleben ja nicht zum ersten Mal solche Probleme: Denken Sie an den Krieg 2003, als die Amerikaner einmarschierten, und die Wirren danach. Aber diesmal ist es schlimmer. Wir sind in einer existenzbedrohenden Lage. Denn zuvor sind nicht ganze Städte unter die Kontrolle der Dschihadisten gefallen. Sicher, es gab Anschläge gegen Christen, nicht zuletzt in Mossul. Aber das jetzt ist eine neue Situation. Das hat auch Auswirkungen auf die Christen, die nicht direkt betroffen sind. Sie fragen sich in diesen Tagen, welche Zukunft sie überhaupt noch in diesem Land haben können, das selbst offenbar keine Zukunft mehr hat. Der Irak zerfällt.

Wie geht es Ihnen als Bischof, der seine Bischofsstadt verloren hat?

Ich war seit 2010 Bischof einer Stadt, die von allen Bistümern im Irak sicher die meisten Probleme gehabt hat. Nach 2003 gab es hier ständig Auseinandersetzungen und Anschläge. Mein Vorgänger wurde 2008 ja auch von Fanatikern ermordet. Tausende unserer Gläubigen sind gegangen. Es war also nie leicht. Aber jetzt gibt es meine Diözese praktisch nicht mehr. Ich habe sie an ISIS verloren. Ich hoffe zurückkehren zu können. Aber das wird sehr schwierig sein. Mein Gebet gilt vor allem dem Frieden des Irak und der Sicherheit meiner Gläubigen. Von meinen einst 10 000 Diözesanen sind derzeit etwa drei Viertel auf der Flucht.

Sind Sie im Kontakt mit dem Vatikan?

Nicht direkt. Wir sind aber quasi täglich in Kontakt mit dem Apostolischen Nuntius. Ausserdem hat der Heilige Vater ja während des Angelus kürzlich den Irak erwähnt und die Politiker des Landes zur Einheit aufgerufen.

Gibt es noch irgendeine Hoffnung, dass dieser Appell ankommt?

Schwer zu sagen. Wenn alle Seiten den Willen aufbrächten, wäre eine Lösung durch eine Regierung der nationalen Einheit sicher noch möglich.

Was erwarten Sie von Christen im Westen?

Das Wichtigste ist momentan sicher die Nothilfe für die Flüchtlinge. Das überfordert uns, weil die Zahlen einfach zu gross sind. Langfristig aber muss man überlegen, wo sich diese Menschen ansiedeln können. Denn derzeit sieht es nicht so aus, als ob sie zurückkehren könnten. Dafür werden wir Hilfe brauchen. In Kurdistan ist die Lage stabil. Hier könnten sie eine neue Heimat finden.

Gibt es angesichts der aktuellen Situation auch Zusammenarbeit mit anderen Kirchen im Irak?

Ja, sowohl mit katholischen als auch nicht-katholischen. Ich bin Vorsitzender eines Hilfskomitees, dem auch ein syrisch-katholischer und ein syrisch-orthodoxer Bischof angehören. Es sind ja nicht nur Katholiken oder nur Orthodoxe bedroht. Nein, alle Christen sind bedroht. Deshalb arbeiten wir eng zusammen.

Hintergrund: Die chaldäische Kirche ist aus der Apostolischen Kirche des Ostens hervorgegangen, die ausserhalb des Oströmischen Reiches entstanden ist. Sie gilt als die grösste christliche Einzelgemeinschaft im Irak. Die Chaldäer stehen, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, seit dem 16. Jahrhundert in voller Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl in Rom. Erste Kontakte und Kirchengemeinschaft gehen schon auf das 13. Jahrhundert zurück. Zur Abspaltung von der Apostolischen Kirche des Ostens kam es aufgrund von Streitigkeiten über die Bestellung des Patriarchen. Dieses Amt war im Laufe der Zeit erblich geworden und ging vom Inhaber auf einen seiner Neffen über. Kritiker dieser Praxis wählten deshalb im 16. Jahrhundert einen Gegenpatriarchen und liessen ihn vom Papst bestätigen. Die chaldäische Kirche folgt dem ostsyrischen Ritus. Ihre Liturgiesprache ist syrisch und arabisch, ihr Kalender gregorianisch. Die Beziehungen zu ihrer Schwesterkirche galten als ausgezeichnet. 2001 wurde sogar der wechselseitige Sakramentenempfang in Notfällen vereinbart. Derzeit ist das ökumenische Verhältnis aber wegen der Aufnahme eines von seiner Kirche exkommunizierten Bischofs in die chaldäische Kirche schwer belastet. Wie ihre Schwesterkirche war die chaldäische Kirche im Laufe der Zeit schwersten Prüfungen ausgesetzt. Besonders schlimm war die Verfolgung assyrischer Christen während und nach dem Ersten Weltkrieg: Türken und Kurden verdächtigten sie, Kollaborateure der Briten zu sein. Über 70 000 Chaldäer sollen bei den Pogromen ermordet worden sein. Die Kirche litt auch unter der amerikanisch-britischen Invasion 2003: Infolge der Wirren flohen nach Angaben des gegenwärtigen Patriarchen von Babylon, Louis Raphael I., etwa zwei Drittel der vor 2003 etwa 1,2 Millionen Christen ins benachbarte oder westliche Ausland. Über 1 000 kamen bei Anschlägen ums Leben. Heute leben viele chaldäische Christen in der Diaspora. Ein Ende des Exodus aus dem irakischen Stammland ist nicht absehbar. DT/om

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