Ehevorbereitung ist das Gebot der Stunde

Überlegungen im Kontext der Diskussion um neue Ansätze für die kirchliche Ehe- und Sexualmoral

Die Tagespost, 04.04.2014

Von Bischof Rudolf Voderholzer

Bischof Rudolf Voderholzer lässt keinen Zweifel aufkommen: Die Kirche soll der Welt nicht nach dem Mund reden, sondern vom Glauben her Lebenshilfen anbieten.

In kaum einem anderen Lebensbereich tut sich die kirchliche Verkündigung heute schwerer, einigermassen unvoreingenommen wahr- und erst recht ernst genommen zu werden, als in Fragen der Gestaltung menschlicher Sexualität.

Die Sexualmoral der Kirche erscheint einem Grossteil der Menschen – treue und gläubige Katholiken nicht ausgenommen – wohlwollend ausgedrückt als zu idealistisch und hochgesteckt in ihren Grundsätzen und Erwartungen; weniger wohlwollend gesehen, halten kritische Zeitgenossen die kirchliche Sexuallehre für schlichtweg realitätsfern, rigoristisch und alles andere als lebensdienlich – kurz gesagt: für eine lustfeindliche “Verbotsmoral”

Massgaben des christlichen Menschenbildes

Zwar kann ein selbstkritischer Blick auf die lange Geschichte der kirchlichen Verkündigung im Bereich des “Sechsten Gebotes“ nicht übersehen, dass tatsächlich Fehlformen einer engstirnigen und engherzigen Sexualmoral oft nur strikte Verbote kannten, wo gerade auch die Freude an der guten Schöpfungswirklichkeit Gottes zum Ausdruck hätte kommen müssen. Doch wird eine um Gerechtigkeit bemühte Sicht der Dinge auch anerkennen können, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl lehramtliche Stellungnahmen als auch kirchliche Verkündigung beziehungsweise Pastoral weit davon entfernt haben, einer rigiden Verbotsmoral das Wort zu reden. Ausdrücklich geht es darum, Orientierungshilfen zu geben, die geeignet sind, den modernen Menschen nicht zuletzt vor den negativen Auswirkungen einer zweifellos vorhandenen Hypersexualisierung unserer Gesellschaft zu bewahren.

Denn während früher das Thema Sexualität mit einem Tabu behaftet war, ist es heute eher zu einem Tabu geworden, offen über die verheerenden Folgen der sexuellen Freizügigkeit zu sprechen. Eine eindeutige Wortmeldung, die mit diesem neuen Tabu bricht und erschütternd offen aus den Erfahrungen der Jugendarbeit die Situation ungeschminkt darstellt, ist das 2008 von B. Siggelkow und W. Büscher veröffentlichte Buch “Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist”. Im Vorwort zu diesem Buch heisst es: “Die verheissene sexuelle Befreiung ist längst völlig aus dem Ruder gelaufen. Der versprochene Spass wird täglich beworben, über diejenigen, die die Zeche bezahlen, spricht man kaum; seien es Zwangsprostituierte, Sexsüchtige oder Kinder, die durch Frühsexualisierung die Fähigkeit verlieren, noch irgendwelche stabilen Beziehungen jenseits vom Sex aufzubauen – mit allen Folgen, die das hat.“

Hier wird deutlich, dass in der Frage nach einer wirklich humanen Gestalt menschlicher Sexualität das Wohl und Wehe der ganzen Person auf dem Spiel steht. Insofern geht es der kirchlichen Sexualmoral zunächst auch nicht um möglichst detaillierte Einzelvorschriften im Bereich der Genitalität, sondern weit mehr um eine Kultur der Verantwortung vor dem Schöpfer und seinen Geboten, um Respekt vor der Würde des Anderen und der eigenen Person, um Beziehungsfähigkeit und Liebesfähigkeit – und zwar als Voraussetzung für ein umfassend gelingendes menschliches Leben.

Die entscheidende Grundlage für sämtliche Einzelaussagen der Kirche zu den verschiedenen Fragen menschlicher Sexualität, Ehe und Familie bildet die Vorstellung von dem, was der Mensch ist beziehungsweise wie er seine Existenz im Licht der biblischen Offenbarung deuten kann. Gerät diese Basis aus dem Blick oder unterschätzt man die Tragweite der jeweiligen anthropologischen Einsichten und Vorgaben, welche tatsächlich beim Einzelnen oder in grossen Teilen der Gesellschaft oft zu ganz unterschiedlichen, ja gegensätzlichen moralischen Überzeugungen führen, dann erscheinen konkrete Normen – nicht zuletzt auf dem Gebiet der Sexualmoral – schnell willkürlich und unverständlich.

Interessanterweise ist gerade die vielfach als “Pillenenzyklika“ geschmähte Enzyklika “Humanae vitae“ (1968) von Papst Paul VI. genau von dieser Überlegung ausgegangen und hat sich ausdrücklich darum bemüht, das christliche Menschenbild in seiner Bedeutung und in seinen Konsequenzen für die Gestaltung menschlicher Sexualität und Partnerschaft in der Ehe herauszustellen. Darin hat “Humanae vitae“ noch vor jeder materialethischen Norm bleibend Gültiges und Unverzichtbares gesagt: Der Mensch – so führt es die Enzyklika vor Augen – wird in seinem Wesen weder als hoch entwickeltes Tier mit ausgeprägter Gehirnspezialisierung noch als mehr oder weniger geglückte Kombination von Leib und Seele richtig erfasst. Von biblischen Zeiten her erscheint er in der christlichen Anthropologie als Ebenbild Gottes. Und dem entsprechend wird auch die menschliche Liebe gedeutet: nämlich von Gott her, der selbst Liebe ist.

In jeder menschlichen Liebe spiegelt sich ein Teil der göttlichen Liebe wider. Der Mensch – so sieht es die lange theologische Tradition, die dahintersteht – soll in seinem Handeln ein Bild und Zeugnis der freien Selbsthingabe Gottes sein. Diese Auffassung hat ganz massiv die kirchliche Lehre von Sexualität und ehelicher Liebe beeinflusst. Es geht um ein Streben nach wahrhaft personaler Gemeinschaft zwischen zwei Menschen und um die Teilhabe an der schöpferischen Tätigkeit Gottes, der selbst der Lebendige ist und Leben schenkt. “Vollmenschliche Liebe“ – so die Enzyklika – „(…) entspringt darum nicht nur Trieb und Leidenschaft, sondern auch und vor allem einem Entscheid des freien Willens, der darauf hindrängt, in Freud und Leid des Alltags durchzuhalten, ja dadurch stärker zu werden.“ (HV 9).

Auf der Basis des christlichen Menschenbildes ist es unumgänglich, sämtlichen Formen der Reduktion von Menschen auf blosse Funktionalität oder Zweckerfüllung eine entschiedene Absage zu erteilen und immer wieder zu betonen, dass der Mensch keine Maschine ist, die nach Belieben ein- oder ausgeschaltet werden kann. Der andere muss als freies, personales Gegenüber, nicht als Sache gesehen werden, über die, in welcher Weise auch immer, verfügt werden könnte. Insofern hat dann auch gerade die Sexualität, in der sich der Mensch selbst mitteilt, einen Stellenwert, der den ganzen Menschen angeht, also “ganzheitlich“ zu verstehen ist und nicht auf einzelne physiologische Vorgänge reduziert werden kann. Das wiederum hat seine Konsequenzen für die kirchliche Lehre über die Ehe. Eine entsprechende Gemeinschaft zwischen Mann und Frau existiert in der personalen Begegnung zweier selbstständiger Menschen, deren gegenseitige freie Hingabe sich in Zeichen und Gesten der Liebe und der Freundschaft ausdrückt.

Zugegebenermassen ist dies auch eine sehr ideale Sicht der Verhältnisse und niemand kann ernsthaft leugnen, dass sich menschliche Sexualität und Beziehung im banalen Alltag mehr als oft vor dem Hintergrund sehr handfester Erwartungen, Interessen und konkreter Auseinandersetzungen gestaltet. Eine ganz und gar “paradiesische“ Wirklichkeit von menschlicher Sexualität und Beziehung gibt es in dieser Welt nicht. Das gehört im Sinne eines gesunden Realismus ebenso zur biblisch-christlichen Anthropologie, die sich – wie es in der Erzählung vom Sündenfall vor Augen kommt – der Entfremdung des Menschen von Gott, vom Mitmenschen und von sich selbst durchaus bewusst ist. Aber verliert deshalb die ideale Zielgestalt ihre Gültigkeit und Anziehungskraft? Muss es nicht gerade mit Blick auf die “harten Realitäten“ darum gehen, in der kirchlichen Verkündigung trotz allem an das Grosse zu erinnern, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (vgl. 1 Kor 2, 9), um dann daraufhin orientiert immer wieder neuen Mut zu einer echten Humanisierung von Sexualität und Beziehung zu machen?

In diesem Sinn wird man wohl auch Papst Franziskus verstehen dürfen, wenn er vor wenigen Tagen in einem Interview mit der italienischen Zeitung “Corriere della Sera“ zur Bedeutung und zum Anliegen der Enzyklika “Humanae vitae“ folgendes gesagt hat: “Alles hängt davon ab, wie man “Humanae vitae“ interpretiert. Paul VI. selbst riet am Schluss den Beichtvätern, viel Erbarmen und Aufmerksamkeit für die konkreten Lebenslagen walten zu lassen. Aber seine Genialität war prophetisch, er hatte den Mut, sich gegen die Mehrheit zu stellen, die moralische Disziplin zu verteidigen, eine kulturelle Bremse zu ziehen (…) Die Frage ist nicht, ob man die Lehre ändert, sondern, ob man in die Tiefe geht und dafür sorgt, dass die Pastoral die einzelnen Lebenslagen und das, wozu die Menschen jeweils imstande sind, berücksichtigt.“ (de.radiovaticana.va/news/2014/03/05)

Verantwortete Elternschaft und Empfängnisregelung

Mit dem Hinweis auf die Enzyklika “Humanae vitae“ ist zweifelsohne ein neuralgischer Punkt der kirchlichen Sexualmoral angesprochen, der – wie die Zusammenfassung der Antworten aus den deutschen (Erz-)Diözesen auf die Fragen des Vorbereitungsdokumentes für die III. Ausserordentliche Vollversammlung der Bischofssynode 2014 nahelegt – nach wie vor eine besondere Herausforderung für die Verkündigung darstellt.

Oft wird das Leitbild einer “verantworteten Elternschaft“ in erster Linie auf die Frage der individuellen Verantwortung für die Zahl der Kinder reduziert; aber darin erschöpft sich freilich der moralische Anspruch nicht. Denn “verantwortete Elternschaft“ meint ja zunächst ganz grundlegend, dass Eltern ihre Kinder weder als reine Projektionsfläche eigener Ängste oder Träume, noch als blosse Adressaten einer überbordenden Zuneigung betrachten. Stattdessen geht es darum, dass Eltern ihre Kinder als eigenständige Subjekte erkennen und anerkennen, denen sie “aktive Liebe“ schulden, das heisst Fürsorge in einem Balanceakt zwischen Schutz (Bindung an die Eltern) und Selbstentfaltung (Ablösung von den Eltern).

Inmitten einer Gesellschaft, die seit Jahren besorgniserregend niedrige Geburtenraten aufweist und in der viele mit “Kinderreichtum“ regelmässig den Aspekt “Armutsrisiko“ in Verbindung bringen, kommt es theologisch-ethisch gesehen zunächst darauf an, die Sinnhaftigkeit der Weitergabe des Lebens aufzuzeigen, das heisst konkret: überhaupt den Wert und die Bedeutung von Kindern herauszustellen. Kinder sind bedeutsam für die Gesellschaft, für deren Atmosphäre und Lebendigkeit; sie sind bedeutsam für den Einzelnen, der dadurch zu weiterer personaler Reifung gelangt, indem er hineinwächst in die Aufgaben und Möglichkeiten eines Vaters oder einer Mutter. Vor allem aber sind Kinder bedeutsam durch sich selber. Das Menschsein als solches ist schon als Wert zu sehen; es ist besser zu sein, als nicht zu sein. Darüber hinaus ist im Glauben ein Kind als Gedanke und Geschöpf Gottes zu begreifen: von ihm gewollt, gehalten, erlöst und geliebt.

Nicht zuletzt von daher muss und kann es als eine der höchsten Möglichkeiten des Menschen gelten, durch sein Verhalten die Bedingungen zu setzen, dass eine neue menschliche Person ins Dasein tritt, ein Wesen von gleicher Würde und in gleichem direkten Bezug zu Gott, wie es einem selber gewährt ist.

Obwohl das Problem der Methoden der Empfängnisregelung seit einigen Jahrzehnten in der katholischen Kirche zu den besonders umstrittenen Fragen gehört, wird man es zunächst als nachgeordnet ansehen müssen. Denn die grundlegende Problematik in diesem ganzen Themenfeld ist die Frage, wie es um die Verpflichtung beziehungsweise Bereitschaft, Kindern das Leben zu schenken, überhaupt bestellt ist. Erst als Folge der auf diese ganz grundsätzliche Frage gegebenen Antwort stellt sich dann die Frage nach den Mitteln und Methoden, die zur Begrenzung der Kinderzahl gewählt werden dürfen oder nicht.

Sofern das kirchliche Lehramt hier den begründeten Standpunkt vertritt, dass alle künstlichen Mittel und Methoden moralisch unzulässig sind und allein die Methode der sogenannten Natürlichen Familienplanung gewählt werden kann, bedeutet dies keinen plumpen Naturalismus. Der eigentliche Grund für diese ethische Position liegt im Respekt vor dem Wesen und Sinn der sexuellen Vereinigung von Mann und Frau und in der Ehrfurcht vor dem Geheimnis des menschlichen Lebens. Papst Paul VI. ging es in “Humanae vitae“ – das wird oft viel zu wenig gesehen – massgeblich darum, dass die Quelle des Lebens, der Zeugungsakt, durch den eine neue menschliche Person ins Dasein tritt, frei bleibt von jeglicher Manipulation. Zugleich hat er aber auch sehr hellsichtig auf ernste Gefahren in der modernen Gesellschaft hingewiesen, unter anderem auf die Gefahr zunehmender Sexualisierung in der Gesellschaft und – damit verbunden – die Gefahr einer Verselbstständigung egoistischer Interessen.

Einmal ganz abgesehen von der Beobachtung, dass Natur und Natürlichkeit in vielen anderen Bereichen des modernen menschlichen Lebens derzeit Hochkonjunktur haben und nicht zuletzt die Wirkungen hormoneller Eingriffe in die biologische Fruchtbarkeit von Frauen zunehmend kritisch reflektiert werden, sind es in besonderer Weise die besseren Voraussetzungen für eine Entwicklung personaler Werte wie Rücksicht, gegenseitige Achtung, gemeinsame Verantwortung, Selbstbeherrschung und Treue, welche den Vorzug eines “natürlichen“ Weges der Empfängnisregelung gegenüber “künstlichen“ Mitteln und Methoden durchaus plausibel und wichtig erscheinen lassen.

Die Hochschätzung der Ehe als “Sakrament des Alltags“

Schliesslich wird man gewiss – wenn auch rhetorisch – fragen dürfen, ob die künstlichen Mittel der Empfängnisverhütung die Zuneigung der Eheleute wirklich gefördert und vertieft haben, ob die Liebe durch die “Pille“ in den Ehen gewachsen ist und Beziehungen dadurch stabiler geworden sind.

Zur Legitimierung sexueller Beziehungen wird die Ehe in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Einschätzung nicht mehr benötigt, weil sich einerseits die Einstellung zur Sexualität erheblich verändert hat und weil andererseits bei den heute gegebenen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung sexuelle Beziehungen folgenlos bleiben können.

Bei all diesen Entwicklungen darf jedoch nicht übersehen werden, dass die hohen Scheidungsraten oder die wachsende Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften nur die eine Seite darstellen, denn wenn heute über ein Drittel aller Ehen wieder geschieden wird, so heisst das auf der anderen Seite doch auch, dass zwei Drittel der Ehen von dauerhaftem Bestand sind. Gewiss kann man diese dauerhaften Ehen bei weitem nicht alle als durchweg glücklich und erfüllend betrachten. Aber soviel wird man doch sagen dürfen: Trotz einer gestiegenen Instabilität können Ehen auch heute dauerhaft gelingen und es gibt viele sehr gute Familien, die ihr Bestes tun, um den christlichen Glauben zu leben und in der modernen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Schwierigkeiten und Herausforderungen eindrucksvoll zu bezeugen.

Allerdings verbinden sich mit der Ehe häufig so hohe Erwartungen, dass das eben manche zögern oder zurückschrecken lässt und sie fragen sich, ob sie selbst und ihr Partner diesen Erwartungen tatsächlich gerecht zu werden vermögen. Denn das Glück, das eine gelungene Ehe verspricht, ist für viele Menschen die einzige Möglichkeit, wo sie sich selbst zu finden hoffen, wo ihre Sehnsucht nach einem gelungenen und erfüllten Leben noch einen konkreten Ort hat. Nachdem die Moderne alle anderen persönlichen Sinnverheissungen nach und nach ausgetrocknet hat, nachdem eine religiöse Sinndeutung für viele Menschen heute nicht mehr erreichbar ist, bleibt oft nur noch die Partnerschafts- und Liebesbeziehung, die ein persönliches Glücks- und Sinnversprechen bereithält. Und wo dieses Bedürfnis nicht mehr durch Religion befriedigt wird, da sucht es sich eben andere Wege der Befriedigung. Was bedeutet das dann aber im Sinne einer Herausforderung und Chance für die Lehre der Kirche über die Ehe?

Zunächst tut die Kirche in jedem Fall gut daran – und das war zentrales Anliegen auch des Fragebogens im Vorfeld der nächsten Bischofssynode –, wenn sie den Blick richtet auf das, was sich zwischen den Geschlechtern heute ereignet und möglichst differenziert wahrnimmt, was sich hier an Fragen, Sehnsüchten oder auch an Aporien des menschlichen Lebens artikuliert. Doch das bedeutet freilich nicht, dass sich die kirchliche Lehre einfach der Macht des Faktischen unterwirft, ihr gewissermassen nach dem Mund redet und über alles schnell den Segen spricht. Vielmehr geht es darum, die menschliche Lebenswirklichkeit im Licht des Glaubens zu deuten und vom Glauben her Lebenshilfen anzubieten. Nur so kann es gelingen, das, was vom christlichen Glauben her zur Wirklichkeit der Ehe zu sagen ist, auch den Menschen in der Moderne wieder als heilsam und verheissungsvoll verständlich zu machen.

Als Ansatzpunkt einer solchen Theologie der Ehe kann im Grunde nur das dienen, was Menschen heute an Erwartungen und Versprechungen mit einer Partnerschaft beziehungsweise Ehe verbinden. Im Hinblick darauf haben U. Beck und E. Beck-Gernsheim in ihrem Buch “Das ganz normale Chaos der Liebe” bereits 1990 von der Liebe als einer “Rest- und Neureligion“ beziehungsweise auch “Nachreligion“ gesprochen, womit ausgedrückt werden soll, dass in den Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen heute oftmals das gesucht wird, was früher in der Religion gesucht wurde, nämlich Sinnstiftung, die Verheissung von Glück und Heil, ein umfassend gelungenes Leben.

Die theologische Sicht der Ehe als Sakrament kann hier in einer doppelten Perspektive Wichtiges nahebringen: Zum einen betont sie tatsächlich die hohe Qualität der partnerschaftlich gelebten Beziehung, die einen “Vorgeschmack des Paradieses“ und eine Vorstellung der treuen Liebe Gottes zu den Menschen vermitteln kann; zum anderen entlastet die Sicht der Ehe als Sakrament aber auch von übermenschlichen Erwartungen an die Heilsmöglichkeiten durch den jeweiligen anderen Partner in der Ehe. Denn kein Mensch, auch wenn er noch so liebt und geliebt wird, kann die letzte und tiefste Erfüllung der Sehnsucht nach Leben und Liebe für einen anderen Menschen sein. Das kann nur Gott allein.

Wenn von der Ehe als Sakrament gesprochen wird, geht es deshalb nicht in erster Linie um einen ethischen Imperativ, der den Menschen beansprucht, sondern vorgängig dazu um einen theologischen Indikativ, das heisst um eine Gabe und eine Kraft, die dem Menschen geschenkt werden und die ihm helfen, das gemeinsame Leben mit dem Ehepartner in unauflöslicher Gemeinschaft und Treue zu bestehen.

Die besondere Hochschätzung der Ehe als “Sakrament des Alltags“ steht vor der Herausforderung, wieder besser verstehbar und erfahrbar zu machen, dass eine sakramentale Ehe den Menschen letztlich nicht überfordert, sondern ihm eine zentrale Dimension seines Menschseins erschliessen kann und ihn so gerade zu einer grösseren Menschlichkeit befreit. Eben darin liegt ja die Bedeutung, die dem Ehesakrament heute zugesprochen werden kann: dass es nämlich in der kleinen, oft so mühseligen und schwierigen, alles andere als idealen Welt des Alltags mit der Botschaft des Evangeliums ganz konkret und real konfrontiert, aber auch dessen heilsame und rettende Kraft sichtbar und erfahrbar machen kann.

Plädoyer für eine Intensivierung der Ehespiritualität

Die entscheidende Frage lautet wohl: Lässt sich das sakramentale Eheverständnis unserer katholischen Tradition so erschliessen, dass es im Zusammenhang modernisierter Lebens- und Partnerschaftsverhältnisse heute wieder neu als hilfreich und lebensfördernd zu begreifen ist? Das kann nur gelingen, wenn der Sinnhorizont wieder deutlich wird, den das kirchliche Eheverständnis zugleich voraussetzt und eröffnet. Denn ohne diesen Sinnhorizont hängt alles, was sich hinsichtlich einer Ehemoral sagen lässt, letztlich in der Luft.

Bedenklich und kontraproduktiv für das Anliegen kirchlicher Verkündigung und Pastoral ist es daher, wenn Brautpaare in der Vorbereitung auf die Trauung kaum mehr mit dem Wesen und dem Sinngehalt des Ehesakramentes wirklich inhaltlich konfrontiert werden, sondern lediglich durch ein weitgehend formales Verfahren geschleust werden. Da wird ihnen genau das vorenthalten, was ihnen das Sakrament der Ehe gerade heute an Lebenshilfe, Halt und Orientierung vermitteln könnte. Mit anderen Worten: Es geht heute darum, den Sinngehalt und damit auch das lebenserhellende und lebensfördernde Potenzial des Ehesakramentes unter den fundamental gewandelten Bedingungen der Moderne neu beziehungsweise wieder zur Geltung zu bringen.

In diesem Kontext erscheint die Entwicklung und Vermittlung einer realitätsnahen und erfahrungsbezogenen Ehespiritualität heute dringender als je zuvor. Denn wenn eine christliche, sakramentale Ehe in modernen Lebenszusammenhängen gelingen soll, dann ist das nur möglich auf der Basis einer entsprechenden und festen geistlichen Grundlage. Und eine solche lässt sich heute immer seltener als selbstverständlich gegeben voraussetzen und muss deshalb eigens entwickelt und vermittelt werden. Es gibt – mit Recht – viel Sorge und Mühe um die Spiritualität von Priestern oder Ordensleuten; für Eheleute hingegen ist trotz gewachsenen Problembewusstseins eine entsprechend intensive geistliche Sorge für das “Sakrament des Alltags“ noch immer nicht zu erkennen. Engagierte Christen aber wollen durchaus von ihrer Kirche wissen, wie die Ehe als Sakrament, als ganz persönliche Berufung im Kontext einer säkularisierten, zerfliessenden und profillosen Gesellschaft gelebt werden kann.

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