Dogmatik und Pastoral sind nicht antipodisch zueinander

Ein Gastkommentar von Michael Gurtner

Die Heiligste DreifaltigkeitQuelle
Heiligste Dreifaltigkeit

Es ist eine reichlich seltsame Argumentationsfigur, wenn Geistliche als qualitätsvoll bewertet werden, weil sie “nicht vom Dogma ausgehen und nicht am Kirchenrecht festklammern, sondern vom Menschen ausgehen”.

Salzburg, kath.net, 7. april 2014

In letzter Zeit beobachtet man in Beiträgen und Interviews von Theologen und Geistlichen aller Ränge gehäuft eine reichlich seltsame Argumentationsfigur, welche uns in deren inneren Grundstruktur eigentlich schon aus so manchen Slogans der Kirchenrevolten der 60er Jahre, und in deren Verlängerung auch aus denen der verschiedenen Reformgruppen (“Wir sind Kirche”, Pfarrerinitiative, usw.) bekannt ist.

Gemeint ist die platte Antipodisierung von der guten Pastoral einerseits und der bösen, dunklen Dogmatik andererseits (dasselbe gilt auch für das Kirchenrecht und zumindest zum Teil für die Liturgiewissenschaft). Konkret finden wir dies, wenn Geistliche dann als besonders qualitätsvoll bewertet werden, weil sie “nicht vom Dogma ausgehen und nicht am Kirchenrecht festklammern, sondern vom Menschen ausgehen”. Dieselbe Forderung wird auch dann immer erhoben, wenn es um eine gewünschte Änderung der kirchlichen Lehre oder Praxis geht, wobei man implizit die Attribute “gut“ und “barmherzig“ den “pastoral orientierten“ zuordnet, welche im Gegensatz dazu nicht “böse“ und “hartherzig“ am Dogma festhalten. Dieser Gegensatz ist künstlich konstruiert, um bestimmte unbeliebte Lehren der Kirche in einem negativen Licht darzustellen. Es ist der Versuch der Befreiung von bestimmten Glaubensinhalten.

A) Bereits beim zweiten Vatikanum manipulativ instrumentalisiert

Dieser künstlich geschaffene Gegensatz, der völlig fehlerhaft ist, scheint seinen Anfang in einer manipulativen Interpretation des Begriffes “Pastoralkonzil” zu haben. Der Fehler ist dabei nicht darin gelegen, dass man formal ein “pastorales Konzil” von einem “dogmatischen Konzil” unterscheidet. Diese Unterscheidung ist vollkommen richtig und berechtigt, wird jedoch falsch, wenn man diese beiden Arten von Konzilien als einander gegensätzlich darstellt, so wie es oft geschehen ist und noch geschieht.

Es ist richtig, dass das Zweite Vatikanum sich selbst nicht als ein dogmatisches Konzil definierte, sondern als ein Pastoralkonzil, was auch einen betont niedrigeren – aber deshalb nicht per se unverbindlichen – Rang bedeutet. Diese Unterscheidung ist notwendig und hat auch auf die Lesart und die Interpretation der Konzilsaussagen Auswirkungen.

Was “Pastoralkonzil“ jedoch heisst und wie dieses zu verstehen ist, hat Papst Johannes XXIII selbst vorgelegt, und in dieser Vorgabe ist ein verbindlicher Interpretationsschlüssel zu sehen. Diesen finden wir in dessen Ansprache zur Eröffnung der Kirchenversammlung, in welcher er eindeutig zwei Dinge festhält:

a) das Konzil ist ein Konzil vornehmlich pastoralen Charakters, nicht dogmatischen Charakters, weil
b) die dogmatischen Fragen bereits in den vorangegangenen Konzilien, besonders den letzten beiden (Trient und Vaticanum I) diskutiert worden sind und vorausgesetzt werden.

Es sollen nicht deshalb keine Glaubensfragen diskutiert werden, weil diese zweitrangig wären, sondern weil diese bereit diskutiert worden sind, und man sich daher nun, da das Eigentliche soweit als geklärt galt, an das “zweitrangige” machen kann, nämlich an die Frage, wie man den Glauben besser für die Gläubigen zugänglich machen kann. Die rechte und fruchtbare Pastoral setzt das Dogma gerade voraus, und ohne dieses gäbe es letztlich gar keine Pastoral. Die Pastoral kann vom Dogma nicht losgelöst oder gar diesem entgegenstehend sein, sondern die Dogmatik geht der Pastoral voran, weil das Dogma vorgibt was die Pastoral zu tun und umzusetzen hat.

Die Pastoral, so wie sie vom Zweiten Vaticanum verstanden wird und in dessen Sinne ist, nimmt die Lehre der Kirche, wie sie sich seit Jahrhunderten herauskristallisiert hat, unverändert auf und gibt sie unverkürzt weiter, ohne diese dabei zu ändern oder an einen ominösen “Zeitgeist”, ein “Lebensgefühl” oder ein “Verständnis des Menschen der heutigen Zeit” anzupassen.

Das Zweite Vaticanum unterscheidet die Dogmatik von der Pastoral, aber es trennt die beiden nicht voneinander, sondern ganz im Gegenteil, es verbindet die beiden und setzt das Dogma für die Pastoral voraus und hält die Unveränderlichkeit und Unverbindlichkeit der katholischen Glaubenslehre gegenüber der Pastoral fest. In diesem und nur in diesem Sinne versteht es sich als ein “Pastoralkonzil“. Nicht weil es dem Dogma etwas anderes entgegensetzt, sondern weil es gerade vom Dogma ausgeht und auf den Menschen abzielt, dem sie die Glaubenslehre bekanntmachen und ihn zum Glaubensakt animieren möchte.

Für das Konzil gibt es keine Pastoral, der nicht das unverkürzte Dogma vorausgeht. Und in genau diesem Sinne können wir auch sagen, dass das Pastoralkonzil gegenüber den dogmatischen Konzilien einen niedrigeren Rang einnimmt, eben weil es nicht etwas anderes ist, sondern an diesem hängt und deren “Verlängerung“ ist, welche über die rechte Umsetzung nachdenkt. Die dogmatischen Konzilien behandeln sozusagen den “Kern“, das Zentrale, während ein pastorales Konzil sich überlegt, wie man diesen so wertvollen und wichtigen Kern gleichsam “verpackt“ und zu den Menschen bringt.

Die Art der Vermittlung (Pastoral) in der Gewichtung mit dem zu Vermittelnden (Dogma) – Christus und der göttliche Wille – gleichzusetzen würde bedeuten, die Wertigkeit umzudrehen und Gott seine absolute Primatsstellung streitig machen zu wollen. Umgekehrt aber gewinnt bei aller Nachordnung und ranglichen Abstufung auch ein blosses Pastoralkonzil gerade daraus seinen Wert und seinen Verbindlichkeitsgrad, dass und insofern es Glaubenswahrheit in sich trägt und behandelt. Gerade angesichts der heute herrschenden manipulativen Verdrehung und Verfälschung des innigen Verhältnisses von Dogmatik und Pastoral, welche sich oft genug auf das Zweite Vaticanum beruft, sei hier jene Stelle im Wortlaut wiedergegeben, in welcher der Konzilspapst Johannes XXIII beschreibt, wie die rechte Pastoral aus der Dogmatik entwachsen muss, speziell was das Konzil anbelangte:

“… Es ist auch nicht unsere Sache, gleichsam in erster Linie einige Hauptpunkte der kirchlichen Lehre zu behandeln und die Lehre der Väter wie der alten und neueren Theologen weitläufig zu wiederholen, denn Wir glauben, dass Ihr diese Lehren kennt und sie Eurem Geiste wohl vertraut sind. Denn für solche Disputation musste man kein ökumenisches Konzil einberufen. Heute ist es wahrhaftig nötig, dass die gesamte christliche Lehre ohne Abstrich in der heutigen Zeit von allen durch ein neues Bemühen angenommen werde. Heiter und ruhigen Gewissens müssen die überlieferten Aussagen, die aus den Akten des Tridentinums und des I. Vatikanums hervorgehen, daraufhin genau geprüft und interpretiert werden. Es muss, was alle ernsthaften Bekenner des christlichen, katholischen und apostolischen Glaubens leidenschaftlich erwarten, diese Lehre in ihrer ganzen Fülle und Tiefe erkannt werden, um die Herzen vollkommener zu entflammen und zu durchdringen. Ja, diese sichere und beständige Lehre, der gläubig zu gehorchen ist, muss so erforscht und ausgelegt werden, wie unsere Zeit es verlangt. Denn etwas anderes ist das Depositum Fidei oder die Wahrheiten, die in der zu verehrenden Lehre enthalten sind, und etwas anderes ist die Art und Weise, wie sie verkündet werden, freilich im gleichen Sinn und derselben Bedeutung. Hierauf ist viel Aufmerksamkeit zu verwenden; und, wenn es nottut, muss geduldig daran gearbeitet werden, das heisst, alle Gründe müssen erwogen werden, um die Fragen zu klären, wie es einem Lehramt entspricht, dessen Wesen vorwiegend pastoral ist.“

B) Überraschender theologischer und anthropologischer Pessimismus

Dass dabei gerade diejenigen “Menschenorientiertheit“ gegen “Dogmenorientiertheit“ stellen, welche ansonsten gerne die Rede von “Befreiung“, einem “menschenfreundlichen Gott“ und der Forderung nach einem “frohmachendem Glauben“ auf den Lippen führen, kann nur erstaunen. Denn gerade in dieser künstlich herbeigeführten denkerischen Trennung und Entgegensetzung von Dogma einerseits und dem Menschen andererseits ist ein schauderhafter Pessimismus gelegen, welcher der theologischen Realität nicht im Geringsten entsprechend ist. Dabei sei, um Missverständnissen vorzubeugen, darauf hingewiesen, dass es nicht deswegen nicht der Realität entspricht weil es pessimistisch wäre – die Frage ist nämlich nie ob eine Sicht optimistisch oder pessimistisch ist, sondern es kommt immer auf den Realismus an. Doch in diesem Falle ist diese pessimistische Sichtweise einfach nicht der Realität entsprechend.

Eine Sichtweise, in welcher “Mensch“ und “Dogma“ gegeneinander gestellt werden, ist nämlich deshalb pessimistisch und düster, weil sie entweder letztlich von einem finsteren Gott ausgeht der an seinem Krongeschöpf Mensch vorbeischafft und ihn letztlich nicht auf sich hin erschaffen hat, weil die Wahrheit Gottes mit der Natur des Menschen besten Falls nichts zu tun hat und schlimmsten Falls dieser inkompatibel ist, oder, als zweite denkerische Möglichkeit, der Mensch des Dogmas und damit der Wahrheit Gottes nicht fähig wäre, was zumindest in Teilen wiederum die erste Möglichkeit impliziert: Gott hat den Menschen an der von ihm gesetzten und geschaffenen Wirklichkeit vorbeigeschaffen. Ist im ersten Fall der Mensch zwar vielleicht prinzipiell dogmenfähig, aber so hat das Dogma nichts mit ihm zu tun, so ist der Mensch im zweiten Fall nicht zu dem fähig, was ihn eigentlich zutiefst anbelangt. In beiden Fällen bleiben sich Mensch und Wahrheit, und damit Gott letztlich entsetzlich fremd.

Lobt man einen Geistlichen, weil er “nicht vom Dogma, sondern vom Menschen” ausgeht, so impliziert dies, dass das Dogma etwas sei, das gegen den Menschen gestellt ist, diesen bedroht oder doch zumindest an etwas behindert. Sich von der Wirklichkeit, welche Gott selbst gesetzt hat, absetzen und allein durch den Menschen ersetzen zu wollen, der ohne diese abgelehnte Wahrheit seine Bestimmung nie erreichen kann und hinter seiner eigenen Natur zurückbleibt, zeugt von einem doch sehr negativen Gottesbild das von einem Pessimismus gezeichnet ist, der Gott im Grunde genommen nichts zutraut.

In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall: Gott hat den Menschen gross geschaffen und traut ihm deshalb Grosses zu. Letztlich traut Gott sich selbst dem Menschen zu. Weil der Mensch in Gottes Ab- und Ebenbild erschaffen wurde, ist er auch gottfähig und deshalb hat er Einblick erhalten in die tiefsten Geheimnisse Gottes. Deren Gegenstände sind es letztlich, welche man in deren systematischen Erfassung und Erforschung “Dogmatik” nennt. Sie führen uns zu unserem Schöpfer und erzählen und von ihm und seinem Werk, seinem Willen und seinen Gedanken. Einen besseren Ansatzpunkt für die Pastoral können wir uns nicht vorstellen als gleichsam jenen “Faden” den Gott ausgeworfen hat, um uns zu ihm zu führen, wenn wir nur diese Spur zurückverfolgen. Dies durch anderes austauschen zu wollen zeugt letztlich von einem bedrückendem Misstrauen gegenüber Gott.

C) Eine gute Pastoral setzt notwendig beim Dogma Gottes an

Entgegen zahlreichen anderslautenden Meinungen müssten wir doch wieder zu einer Pastoral zurückkehren, die genau bei der Gottesfrage ansetzt. Er ist der Anfang und das Ziel: um zu ihm zu gelangen, muss man zuerst die Frage nach ihm stellen, nach seinem Willen und der Wahrheit die er gesetzt.

Die Dogmatik ist keine Gehirnakrobatik, sie ist keine anspruchsvollere Alternative zu Kreuzworträtseln als Zeitvertreib. Selbstverständlich steht das Himmelreich nicht nur den theologischen Akademikern offen, der Himmel ist kein Theologenverband, und nicht alle Gläubigen müssen alles wissen.

Aber es bedarf umgekehrt doch der Theologen und deren Studien, damit sie in der pastoralen Umsetzung den Menschen dann das Rechte erschliessen, denn auch wenn nicht alle über alles Bescheid wissen müssen, so ist umgekehrt doch der rechte Glaube gefordert, was auch dessen Grundkenntnis erfordert.

Gerade in Zeiten, in denen viele Anfragen und Vorbehalte an praktizierende Katholiken herangetragen werden, ist es sowohl nach aussen, aber auch nach innen für den eigenen Glauben notwendig, diesen gut begründen und in dessen Zusammenhängen sehen zu können. Andere Momente müssen freilich noch unbedingt hinzutreten, keine Frage, doch als Hirte ist es die Aufgabe, die Schafe in den Stall Christi zu führen – und der Weg dorthin führt über Christus selbst, dessen Wahrheit der Hirt jedoch zuerst gut kennen muss, um den Schafen dann diesen Weg weisen zu können. Darum wächst die Pastoral aus der Dogmatik, wie Papst Johannes XXIII festhielt.

Mag. theol. Michael Gurtner ist katholischer Theologe aus der Erzdiözese Salzburg

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