Musste es zum Ersten Weltkrieg kommen?

Gibt es so etwas wie natürliche Lebenskurven und Ablaufdaten von Staaten und Kulturen?

Ist die Schuldfrage bei ihrem Untergang darum nicht angemessen? Zu Beginn der neuen “Tagespost”-Serie eine philosophische Betrachtung über Zufall und Notwendigkeit in der Geschichte. Von Stephan Baier

Die Tagespost, 7. Februar 2014

In der Geschichte mancher Menschen wie mancher Reiche gibt es Tragödien und Verhängnisse, die im Nachhinein betrachtet die Aura des Unausweichlichen und Unabwendbaren tragen. Wir sprechen dann gerne von Schicksal und meinen zu fühlen, dass es nur so und nicht anders kommen konnte. Gleich als habe sich im Niedergang oder Untergang die Logik eines Lebens erfüllt.

Die Sage von Ödipus, der dem vorausgesagten Orakelspruch nicht entrinnen kann, sondern wider alles menschliche Streben am Ende sein vorgezeichnetes Schicksal erfüllt, gilt als antikes Beispiel solcher Unentrinnbarkeit. Spinnen tatsächlich die Moiren, die Schicksalsgöttinnen der griechischen Mythologie, unseren Schicksalsfaden? Gibt es irgendwo jene Parzen, die – wie die römische Mythologie meinte – unser von Göttern diktiertes Schicksal niederschreiben, wie ein Drehbuch unseres Lebens?

Existiert im Leben des Einzelnen wie der Völker und Staaten das, was Heraklit mit “schicksalshafter Notwendigkeit” meinte? Machen wir die Frage nicht zu klein: Es geht nicht bloss darum, ob sich das Leben unserem Willen ganz und gar wehrlos ergibt, ob der Willensstarke sein Schicksal formen kann wie der Schmied das Eisen, ob sich vielleicht gar die Weltgeschichte der stärkeren Nation hingibt, während sie die schwächere unter ihren Wogen begräbt. Es bedarf keiner grossen Erkenntnis, das alles zu verneinen. Zu dicht sind unsere persönlichen wie unsere geschichtlichen Erfahrungen, um solchen Thesen noch auf den Leim zu gehen. Hier aber geht es um die Frage, ob das, was da auf der Bühne eines Lebens – des Lebens von Menschen, Völkern und Staaten – aufgeführt wird, nicht doch nur ein Puppenspiel an unsichtbaren Fäden ist. Aristoteles verwarf solchen Fatalismus und argumentierte mit der Willensfreiheit. Cicero wandte sich gegen den Fatalismus der Stoiker, der heilige Augustinus gegen den der Gnostiker, das Konzil von Trient gegen jenen des Schweizer Reformators Jean Calvin.

Es gibt, so spüren wir bereits im eigenen Leben, durchaus die Schwerkraft, die uns daran hindert zu fliegen. Es gibt den Sog, gegen den wir nicht anzuschwimmen vermögen. Es gibt die Entwicklungen, die wir nicht wenden oder aufhalten, selbst wenn wir uns ihnen mit aller Kraft entgegenstemmen. Und doch sind es nicht anonyme Schicksalsmächte, deren Launen unser Leben ausgeliefert wäre – allenfalls sichtbare und unsichtbare Mächte und Gewalten. Nur der Naive oder der Unerfahrene kann glauben, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Das Tragische im Leben von Einzelnen wie ganzer Staaten und Nationen ist sicher nicht zu leugnen, aber es ist nicht einfach “fatum”, sondern erklärbar aus einem Gewirr vieler Kausalitäten und Zufälle, aus Emotionalem und Rationalem, aus Widrigkeiten, die sich mitunter nicht in der Gegenwart, meist aber im Rückblick späterer Zeiten erklären lassen.

So war auch der Erste Weltkrieg – dieser Krieg, in den viele mit Begeisterung zogen, und den doch keiner gewollt hatte – nicht “fatum” und von unsichtbaren Parzen geschriebenes Schicksal Europas, sondern die Folge von Taten und Unterlassungen, von Irrwegen und Irrlehren, von Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen. Die Frage, ob Europa vor einem Jahrhundert notwendigerweise in einen grossen Krieg schlitterte, wird nicht grundlos gestellt, denn es gab für diesen Krieg keinen Plan, keinen erkennbaren Willen, keine konkrete Entscheidung. Keiner der Akteure, und keiner seiner Lobsänger ahnte oder konnte ahnen, dass sich aus einem lokal gedachten Waffengang ein Weltkrieg entwickeln würde – und dass das alte Europa darin untergehen würde.

Waren die Akteure doch nur Marionetten in der Hand eines unsichtbaren Puppenspielers? Nein, sie waren Entscheidungsträger mit Stärken und Schwächen, mit schuldhafter und mit entschuldbarer Kurzsichtigkeit. Auch wenn keiner einen Weltkrieg wollte, so waren doch viele nicht bereit, für den Frieden zu kämpfen. Allzu viele suchten in einem regional begrenzten Krieg die Lösung eines persönlichen oder politischen Problems. Ob ihre Motive dabei edel oder niedrig waren, ist die eine, unvermeidbare Frage. Die andere aber lautet, ob jene verantwortlich handelten, die die Folgen ihrer Handlungen nicht absehen konnten. Gerade weil wir die Fragen, ob der grosse Krieg 1914 Europas unausweichliches Schicksal und die Akteure nur Marionetten im Welttheater seien, mit einem Nein beantworten, stellt sich umso härter die Frage nach der Schuld.

Wer trägt die Schuld an jener Explosion, die bis dahin nichts Vergleichbares kannte? Jene, die die Pulverfässer bereitstellten und bis zum Rand mit Pulver füllten? Jene, die die Lunte legten? Oder jene, die am Ende das Streichholz zündeten? Die Schüsse des jungen – je nach Standpunkt fanatischen oder idealistischen – serbischen Nationalisten Gavrilo Princip auf den Thronfolger von Österreich-Ungarn am 28. Juni 1914 und das darauf folgende Ultimatum Wiens an Serbien waren die Auslöser eines Krieges, der noch nicht das Zeug zum Weltkrieg hatte. Die kleine Flamme war nicht als brennende Lunte sichtbar. Beides hatte seine Vorgeschichte und seine oft zu wenig ausgeleuchteten Hintergründe: das Attentat, das keineswegs bloss die Wahnsinnstat eines Einzelnen war, sondern Krönung eines verschwörerischen Komplotts; und das Ultimatum, das keine allein aus Trauer und Staatsraison geborene Kurzschlusshandlung war, sondern Ausfluss einer Haltung, Ordnung zu schaffen, wo Chaos offensichtlich war. Dennoch greifen wir zu kurz, wenn wir – je nach Position – dem Attentat oder dem Ultimatum die Schuld an dem geben, was ihnen nun in raschem Laufe folgte.

In seinem Bestseller “Die Schlafwandler”, der wohl meistbeachteten Neuerscheinung über den Ersten Weltkrieg, schreibt der Historiker Christopher Clark: “Die Entscheidungsträger (…) bewegten sich mit behutsamen, wohlberechneten Schritten auf die Gefahr zu.” Wenn sie aber behutsam waren, und ihre Schritte wohl berechnet, warum bewegten sie sich nicht von der Gefahr weg, sondern auf sie zu? Weil sie Argumente und Gründe für den nächsten und übernächsten Schritt hatten, nicht aber freie Sicht auf das, was jenseits dieser Schritte lag.

Für uns Nachgeborene ist es leicht, sich darüber zu empören und an die Pflicht zum sicheren Weg zu erinnern: Wenn es im Gebüsch raschelt und der Jäger im Zweifel ist, ob sich da ein Wildschwein oder ein Liebespaar tummelt, darf er eben nicht schiessen! Die Tatsache, dass 1914 doch geschossen wurde, hat aber gerade damit zu tun, dass die Entscheidungsträger die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht beurteilen konnten: In Wien wie in Belgrad hatte man – mit unterschiedlichen Zielen – einen dritten Balkankrieg vor Augen, keinen europaweiten Krieg. In Paris hoffte man auf die Rückholung von Elsass-Lothringen, in Russland auf die Eroberung von Galizien, in Italien auf die Besetzung von Triest, Istrien und Dalmatien. Jeder sah seine Anliegen, seine Interessen, seine Ziele – aber nicht das Ganze, das unweigerlich erst ins Wanken, dann ins Fallen geriet.

Niemand dachte im Sommer 1914 daran, einen europaweiten Krieg zu beginnen, zu führen, zu gewinnen. Doch lange bevor das Streichholz gezündet und an die Lunte gelegt wurde, waren allzu viele Pulverfässer bereitgestellt worden. Es waren die verschiedenen Nationalismen, die nach einer Selbstverwirklichung und geografischen Entfaltung strebten, welche mit der Selbstverwirklichung und geografischen Entfaltung der benachbarten Nationen keinesfalls kompatibel waren. Die ideologische Mode des Nationalismus brachte Nachbarn gegeneinander in Stellung: Frankreich gegen Deutschland, Italien gegen Österreich, Serbien gegen Bulgarien, im Orient Araber gegen Türken, und innerhalb der Habsburger-Monarchie die Ungarn gegen Kroaten, Slowaken und Rumänen.

Vieles spricht für die These, dass es einen anderen Anlass und Auslöser des grossen Krieges gegeben hätte, wenn das Attentat in Sarajevo misslungen wäre oder Wien darauf anders reagiert hätte. Zu viele Pulverfässer standen in Europa herum, zu viele Lunten waren gelegt, zu viele Staatsmänner und Generäle spielten mit dem Feuer.

Musste es also so kommen? War der Weltkrieg unvermeidlich? Christopher Clark spricht von “einzelnen Puzzleteilchen der Kausalität”. Nicht “fatum” und von Parzen geschriebenes Schicksal, aber doch eine der grossen Tragödien des 20. Jahrhunderts spielte sich am 28. Juni 1914 in Sarajevo ab: Die Schüsse des – je nach Standpunkt Freiheitskämpfers oder Terroristen – Gavrilo Princip töteten den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, aber sie waren zugleich ein Anschlag auf die Integrität und Zukunftsfähigkeit des Habsburger-Reiches. Franz Ferdinand war entschiedener Gegner von soldatischen Planspielen, auf dem Balkan militärisch für Ordnung zu sorgen. Er hatte Willen und Weitsicht, das Vielvölkerreich zu reformieren, den im österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 unterprivilegierten slawischen Nationen endlich zu ihrem Recht zu verhelfen. Franz Ferdinand war entschlossen, zu tun, was der greise Kaiser Franz Joseph nicht mehr zu tun imstande war: Nach dem Tod des alten Kaisers wollte er die ungarische Hegemonie in der östlichen, der transleithanischen Reichshälfte brechen und aus der Doppelmonarchie eine Art Vereinigte Staaten von Österreich formen.

Wieder stellt sich die Frage nach Zufall und Notwendigkeit in der Weltgeschichte. Geburt, Kindheit, Erwachsenenzeit, Altern und Sterben gehören zum Schicksal des Menschen. Gehören sie auch zum Schicksal von Staaten und Kulturen? Gibt es so etwas wie das Altern, das Vergreisen und den natürlichen Tod von Staaten? Vor dem grossen Völkermorden, das 1914 begann, sahen sich die beiden Vielvölkerstaaten jener Zeit – Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich – einem Spott der Nationalstaaten ausgesetzt, der auf solchen Thesen ruhte. Serbische Zeitungen nannten das Habsburger-Reich den “zweiten kranken Mann Europas”, denn das Vielvölkerreich des Sultan galt als “kranker Mann am Bosporus”. In Frankreich und Grossbritannien wurde Österreich-Ungarn offen als Anachronismus bezeichnet. Und auch wenn der geschichtsphilosophische Determinismus und die Kulturzyklentheorien des 20. Jahrhunderts (erfreulicherweise) aus der Mode gekommen sind, halten sich doch bis heute ihre Ressentiments. Die im 19. Jahrhundert gegründeten Nationalstaaten scheinen vielen auch heute noch natürlicher, vitaler, lebensfähiger als die stets um inneren Ausgleich ringenden Vielvölkerstaaten.

Solche Sichtweisen bekommen mitunter eine nationalistische Schlagseite, die an die Stimmung zu Beginn des Ersten Weltkriegs erinnert. Dann nämlich, wenn über die Nation gesprochen wird, als sei sie ein Mensch: mit einem Volkskörper, mit natürlichen Rechten, Wünschen, Sehnsüchten. Doch selbst wenn diese Personifizierung der Nation oder des mit ihr identifizierten Nationalstaats fehlt, handelt es sich um einen Mythos. Die wirklich langlebigen Reiche waren in Europa nicht monolithische Nationalstaaten, sondern in ihrer geografischen Ausdehnung wie in ihrer kulturellen Identität flexible Mosaike. Drei tatsächlich “tausendjährige Reiche” kennt die Geschichte Europas: das Imperium Romanum, das byzantinisch-oströmische Reich und das Heilige Römische Reich. Nicht, warum sie untergingen, sondern warum sie so lange leben und dominieren konnten, ist bei diesen Reichen (wie bei den Dinosauriern) die wirklich spannende Frage. Die beiden multireligiösen, multikonfessionellen und multiethnischen Reiche, die in der nationalistischen Stimmung des Jahres 1914 als Anachronismen empfunden wurden, sahen sich als Erben dieser drei römischen Reiche: Österreich-Ungarn empfand sich als Erbe des Heiligen Römischen Reiches, während das Osmanische Reich in seinem Sitz, in seiner Ausdehnung und in Teilen seines Selbstverständnisses das Erbe der byzantinischen Kaiser angetreten hatte.

Zweifellos waren beide Reiche höchst reformbedürftig, wenn auch nicht im Sinn der sie umgebenden Nationalstaaten. Die nationale und die soziale Frage waren in ganz Europa nur unzureichend beantwortet. Österreich-Ungarn war wirtschaftlich und sozial keineswegs zurückgeblieben, sondern verzeichnete in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg ein starkes Wirtschaftswachstum, verbunden mit grossem technischen Fortschritt und einer kulturellen Blüte. Gerade an den Rändern des Reiches, von Galizien bis Bosnien, galt die österreichische Verwaltung als integer und funktionsfähig, das Schul- und Gesundheitswesen als fortschrittlich. Mit seiner geplanten Reichsreform wollte der Thronfolger dem wachsenden Nationalismus der slawischen Nationalitäten die Spitze nehmen. Die Schüsse von Sarajevo waren deshalb auch ein Attentat auf die Erneuerung des mitteleuropäischen Vielvölkerstaates. Heute, da sich die Nebelschwaden der nationalistischen Ideologien in Europa langsam legen, lässt sich mit freiem Auge erkennen: Österreich-Ungarn hatte viele Reformen bereits vollzogen und wäre zu weiteren imstande gewesen. Es hätte sich erneuern können und musste nicht untergehen. Das ändert nichts daran, dass es tatsächlich untergegangen ist. Die Weltgeschichte ist irreversibel, und sie ist allergisch gegen Konjunktive.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel