Die überreizte Gesellschaft

E-Mails im Büro, Werbung in der U-Bahn und zuhause das Smartphone

Die Tagespost, 27.01.2014, von Burkhardt Gorissen

E-Mails im Büro, Werbung in der U-Bahn und zuhause lässt einen das Smartphone nicht in Frieden: Das Leben im digitalen Zeitalter bietet nicht nur Erleichterungen, sondern auch Stressfaktoren. Für Katholiken kein Grund zur Verzweiflung. Wer sich an Jesus orientiert, kann zum Avantgardisten der Stille werden.

Täglich prasselt eine Flut an Reizen auf uns ein. Im Beruf, im Alltag, im Privatleben. Rund um die Uhr werden wir mit Informationen und Eindrücken vollgedröhnt. Internet, Radio, Fernsehen, Smartphones – um nur die Speerspitzen der bisherigen technologischen Entwicklung zu nennen. Was soll man dagegen tun?

Fest steht: Wer sich der Informationsüberflutung konsequent verweigert, entscheidet sich praktisch für ein autistisches Leben auf einem anderen Stern, ist “draussen”, landet im gesellschaftlichen Off. Nicht jeder besitzt dafür die nötige innere und finanzielle Freiheit. So wird die Illusion permanenter Erreichbarkeit die oberste Pflichtsache für jedermann. Vollkommen entfliehen kann man der permanenten Info-Versorgung, wenn man nicht gerade als Selbstversorger auf dem Land lebt, sowieso nur schwer.

In Supermärkten, Kaufhäusern und Kneipen flimmern pausenlos die Bildschirme. Selbst öffentliche Plätze sind voll davon. Wem dieses “Public-Viewing” zuviel wird, braucht aber nicht zur Flucht in die Unterwelt der grossen Städte hinabsteigen: An jedem U-Bahn-Halt laufen die neuesten Animationsfilme, Nachrichten und Werbespots. Auch dort gilt: Reklame und schleichende Manipulation sind unsere täglichen Begleiter. Wie selbstverständlich auch, wenn wir das Internet als reines Lese-Medium nutzen möchten. Die Lektüre etlicher Online-Angebote wird begleitet von der anstrengenden Suche nach dem Text zwischen den Anzeigenformaten. Dazu buhlen permanent optische Reize um Aufmerksamkeit: Da blinkt, zittert und wabert etwas, dort legt sich ein Banner dreist über die Seite, die wir lesen wollen. Die Fokussierung auf die gesuchte Information wird von überall auf den Seiten flimmernden Animationen regelrecht behindert. Überall Versuchungen, Verlockungen, scheinbare Attraktionen. Effektiv ist Werbung eben nur dann, wenn sie unsere Sinne anspricht – in welcher Form auch immer.

Doch was sind die Folgen? Die Sinne sind überfordert. Reizbarkeit, Zwangsgedanken und depressive Verstimmungen stellen sich ein. Die chronische Reizüberflutung wirkt sich negativ auf unsere Gesundheit aus. Längst gehören Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit, Hyperaktivität, Kopfschmerzen, Aggressivität, Erschöpfung bis hin zum “Burnout” zu den physischen und psychischen Begleiterscheinungen des digitalen Alltags vieler Europäer. Frei nach einem Oldie der Neuen-Deutschen-Welle-Band “Fehlfarben”: Keine Atempause, Fortschritt wird gemacht. Doch allein um den Fortschritt geht es natürlich nicht in der überreizten und überdrehten Gesellschaft von heute. Es geht um die vernetzungsoptimierte Abschöpfung von Gewinnen. Nicht Menschlichkeit steht im Vordergrund, sondern das sogenannte “Humankapital”, die optimierte Generierung von Arbeitskraft, deren mentale Leistungsfähigkeit sich in Profit und Kaufkraftmaximierung zu entäussern hat, was zwar die Leistungsgesellschaft aufrecht erhält, aber menschliche Werte stranguliert.

Im Bann dieses Optimierungsstrebens entwickelt sich die Informationstechnologie in Mega-Schritten weiter. Die Datenbrille ist längst keine Zukunftsvision mehr, sondern der potenzielle Megaseller der kommenden Jahre. Gesteuert wird sie durch Sprachkommandos, durch die Informationen abgerufen werden – natürlich auch zahlreiche Werbebotschaften. Der Mensch, separiert von Natur und Welt, mutiert zum virtuellen Wesen. Doch was sieht der “robo sapiens”, wenn das Akku ausfällt? Die Grenzen zwischen Sein und Nicht-Sein sind fliessend. Die alte Hamlet-Frage klingt in der schönen neuen Welt der digitalen Bilder und Botschaften wie ein Abklatsch des absurden Theaters. Ist es nicht so? Manchmal sieht man die Wirklichkeit vor lauter Wirklichkeitsverlust schon nicht mehr. Mitunter lässt sich kaum noch unterscheiden, ob im Supermarkt ein Produkt in natura im Regal steht, oder ob es sich um ein virtuelles Abbild handelt, dass als Werbebotschaft auf die Regeloberfläche projiziert wurde.

Die am stärksten wirkenden Kräfte im Leben des postmodernen Menschen scheinen in der Tat Ablenkung und Irreführung zu sein. Diabolos, der grosse Durcheinanderwerfer, leistet also im neuen Outfit ganze Arbeit. Wobei schon lange vor Instant-Messaging und Videokonferenzen der anglo-amerikanische Dichter und Denker T.S. Eliot mit Blick auf den modernen Menschen besorgt feststellte, dieser werde “abgelenkt von der Ablenkung durch Ablenkung”. Eine Gesellschaft, die sich nicht an festen Grundsätzen orientiere, laufe – aus der Sicht von Eliot – Gefahr, sich aufzulösen. Nichts anderes spielt sich heutzutage wohl ab. Ein gesellschaftlicher Auflösungsprozess, eine gesamtgesellschaftliche Erkrankung durch Reizüberflutung. Dabei hat bereits der emeritierte Papst Benedikt XVI. vor einer Reizüberflutung durch die modernen Medien gewarnt und zu einer grösseren Wertschätzung der Stille und des Schweigens aufgerufen. Besonders im Internet, so formulierte er es vor wenigen Jahren, werde der Mensch mit “Antworten auf Fragen bombardiert, die er sich nie gestellt” habe, und auf Bedürfnisse, die er “nicht empfindet”. Worauf das Magazin “Cicero” durchaus hellsichtig Benedikt XVI. einen “Avantgardisten der Stille” nannte.

Tatsächlich erfahren wir gegenwärtig ein solch furioses Gedankenbombardement, gegen das vermutlich nur das kontemplative Gebet die nötige Abwehrkraft bietet. Der Wert des kontemplativen Gebetes lässt sich schon bei den mittelalterlichen Mystikern wie Johannes vom Kreuz oder Teresa von Avila entdecken. Immer ist dieses Gebet geprägt von der Ausrichtung auf Jesus Christus und begleitet von Hingabe und Liebe in der persönlichen Beziehung zwischen Beter und Gott. Christliche Kontemplation geht von Christus aus und führt zu ihm hin. Gebet und Sammlung befreien nicht nur aus Alltagsstress und Reizüberflutung, sondern helfen, das Herz in die Gegenwart Gottes zurückzubringen. Kontemplation in der strengsten Form ist schliesslich ein wortloses, bildloses und begriffloses Beten. Absolute Stille. Die Erfahrung einer befriedenden Stille machen wir alle, wenn wir in der Gegenwart Gottes schweigen und auch innerlich still werden. Erst wenn wir Gedanken und Gefühle loslassen, das Herz immer wieder zurückbringen zu Gott, stirbt das falsche, manipulierte Ich.

Auch Benedikts Nachfolger kennt die Gefahren der Reizüberflutung. In seiner Botschaft zum 48. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel schreibt Papst Franziskus in einer scharfsinnigen Analyse: “Wir leben heute in einer Welt, die immer ‘kleiner’ wird und in der es folglich leicht sein müsste, dass die Menschen einander zum Nächsten werden.” Doch obwohl die Welt ein globales Dorf geworden sei, gebe es “bisweilen ausgeprägte Spaltungen innerhalb der Menschheitsfamilie. Auf globaler Ebene sehen wir den skandalösen Abstand zwischen dem Luxus der Reichsten und dem Elend der Ärmsten.” Dabei liege doch in jedem Menschen eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Heimat, nach Gemeinschaft. Es gebe eine tiefe Sehnsucht nach Beziehung, betont Papst Franziskus: “Die Mauern, die uns trennen, können nur dann überwunden werden, wenn wir bereit sind, uns gegenseitig zuzuhören und voneinander zu lernen. Wir müssen die Differenzen beilegen durch Formen des Dialogs, die es uns erlauben, an Verständnis und Respekt zu wachsen”, denn es genüge nicht, einfach vernetzt zu sein: “Die Verbindung durch das Netz muss begleitet sein von einer wirklichen Begegnung.”

Dazu müssten wir uns, so der Papst, darum bemühen, dass wir “einen gewissen Sinn für Langsamkeit und Ruhe wiedergewinnen. Das verlangt die Zeit und die Fähigkeit, Stille zu schaffen, um zuzuhören”, ist Franziskus überzeugt. Eine Botschaft, die man gar nicht deutlich genug in Erinnerung rufen kann, gerade in der heutigen Zeit, wo die Medien leider auch religiöse Autoritäten nur nach spektakulären Auffälligkeiten und Kuriositäten abklopfen oder ihnen solche in den Mund legen. Während die wesentlichen Aussagen gern an den Rand gedrängt werden. Doch für Katholiken ist dies kein Grund zur Verunsicherung. Wer Klarheit für sein Leben anstrebt, sucht oft schon instinktiv nach Orten der Stille. Auch Jesus ging immer wieder in die Stille. Er suchte die Wüste auf, den Gipfel eines Berges, einen Garten, einen Platz am See oder das Gotteshaus.

Nun könnte man einwenden: Damals gingen die Uhren eben noch anders. Schön, dass der ohne Handy und Smartphone wandelnde Jesus noch soviel Zeit für kontemplative Phasen hatte, doch für uns Heutige steht dieser Weg leider nicht offen. Stimmt das? Ganz sicher nicht! Wer einmal die wunderbare Wirkung der Stille erfahren hat, weiss es. Beispielsweise findet man in Kurzexerzitien Hilfen, um aus der egomanischen Beschäftigung mit sich selbst zu einer wortlos-schweigenden Ausrichtung auf Gott zu finden. Wer einmal diese Wahrnehmung an sich erfahren hat, bleibt auf Gott ausgerichtet, der allein die tiefste Mitte und der letzte Seelengrund unseres Ich ist. Dieser Weg der Wahrheit und des Lebens eröffnet sich denjenigen, die sich für den Glauben öffnen und – wie Jesus – ganz bewusst für die Zeit der Stille entscheiden, trotz vieler Dienste und Pflichten, die sich naturgemäss immer gerade dann vor einem aufdrängen, wenn die Stille winkt. Der Heilige Josefmaria Escriva, Gründer des Opus Dei, erinnerte daran, dass die universale Berufung zur Fülle der Gemeinschaft mit Christus zugleich dazu führt, in allem menschlichen Tun Gott begegnen zu können. Als Meister des inneren Lebens erreichte er den Gipfel der Kontemplation durch beständiges Gebet, demütigen Verzicht und beharrliche Arbeit. Für Heilige wie ihn war die Welt schon immer ein globales Dorf, wenn auch aus anderem Blickwinkel: “Die Welt ist klein, wenn die Liebe gross ist.” Um diese Welt mit dem Licht Christi zu erhellen, liess er die heilende und erlösende Kraft des Glaubens zu den Menschen strömen. Schliesslich bedarf es gerade im Kontext einer Kommunikationsgesellschaft einer Kirche, der es gelingt, Wärme zu vermitteln und die Herzen zu entzünden. Papst Franziskus unterstreicht dies: “Christliches Zeugnis gibt man nicht dadurch, dass man die Menschen mit religiösen Botschaften bombardiert, sondern durch den Willen, sich selbst den anderen zu schenken.” Und ist es nicht so, dass erst das sanfte, aber hartnäckige Bemühen, unser Herz zurückzuholen in die Gegenwart Gottes, uns ermutigt, einen echten, unverfälschten Dialog zu suchen, dem immer auch ein Stück Selbstaufgabe anhaftet? So, wie Papst Franziskus sagt: “Jesus kehrt die Perspektive um: Es geht nicht darum, den anderen als meinesgleichen anzuerkennen, sondern um meine Fähigkeit, mich dem anderen gleich zu machen. Kommunizieren bedeutet also, sich bewusst machen, dass wir Mitmenschen sind, Kinder Gottes.” Wenn wir Gedanken und Gefühle in die Gegenwart Gottes hineinströmen lassen, und uns dabei loslassen, durchweht der Heilige Geist unser Leben. Auch wenn wir uns äusserlich vielleicht gerade wie ein Hamster im digitalen Laufrad der Arbeit befinden oder wie umzingelt scheinen von den schier endlos wirkenden Manipulationsketten der Neuen Medien und der Werbung. Haben wir Mut, ebenfalls Avantgardisten der Stille zu sein.

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