Die ganze Wahrheit im Paket

Die Vorherrschaft der Dogmen des Nihilismus bröckelt

Hochschule Heiligenkreuz

Auch Naturwissenschaftler öffnen sich für die Transzendenz. Es spricht viel dafür, dass gläubige Katholiken den spirituellen und philosophischen Standpunkt der Kirche mit etwas mehr Selbstwertgefühl kultivieren.

Die Tagespost, 20.01.2014, von Wolfgang Buchmüller OCist

Man befindet sich in Paris im “Institut de France”, der intellektuellen Hochburg des europäischen Laizismus. Der Mathematiker Alain Connes berichtet den Berufskollegen von der atemberaubenden Entdeckung einer zweiten Form von Unendlichkeit, die sich im Kontext der Erforschung der Quantenphysik ergeben habe. Es fallen die aufsehenerregenden Worte: Es scheint, als gäbe es keine Barriere mehr zwischen science et transcendence, zwischen Wissenschaft und Transzendenz.

Niemand lacht, niemand hüstelt. Heisst dies, dass man nun im Jahre 2014 auch in einem hochintellektuellen Milieu mit einem göttlichen Urgrund des Seins rechnet? Während der französische Präsident noch im Juli des vergangenen Jahres die letzten Religionsvertreter aus der nationalen Ethikkommission entfernt hat, flüstert man hinter vorgehaltener Hand bei den Philosophen von der Rückkehr der Metaphysik, die in den letzten 40 Jahren aus der Welt der Universitäten verbannt und ausgegrenzt war.

Ist es vielleicht doch so, dass sich das überall medial präsente atheistisch-szientistisch-humanistische Weltbild nur aufgrund zahlreicher Denkverbote halten kann? Bei einem Kongress der Wittgenstein-Gesellschaft konnte man beispielsweise von dem englischen Wissenschaftler Julian Barbour hören, dass er als Physiker über die Frage, was denn vor einem Urknall gewesen sei, nicht sprechen könne, weil man sich damit ausserhalb unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bewege. Die Physik müsse sich auf neue Weise dem Phänomen Zeit und deren Verhältnis zur Zeitlosigkeit stellen. Trotzdem möchte man hier anfügen, dass gerade diese Fragestellung nach dem Urgrund des Seins von wahrhaft universalem Interesse wäre.

Wie steht es mit den sogenannten Errungenschaften der Moderne? Hat ihr Fortschrittsdenken tatsächlich die Frage nach der Religion obsolet werden lassen oder ist sie nicht vielmehr in ihren zahlreichen Ideologismen gefangen, die sie daran hindern, die Frage nach der ganzen Wahrheit zu stellen? Ist ihre Vergottung des systematischen Zweifels nicht vielmehr eine bequeme Art, unangenehmen Fragestellungen aus dem Weg zu gehen? Bereits der mit einer guten Prise Sarkasmus ausgestattete antike Rhetoriklehrer Gorgias von Leontinoi hat im 5. Jahrhundert v. Chr. das Dogma des Nihilismus aufgestellt:

1. Es gibt nichts.
2. Selbst, wenn es etwas gäbe, dann könnte es nicht erfasst werden.
3. Selbst dann könnte man es nicht mitteilen. An diesem Dogma halten viele bis heute fest. Nicht herumgesprochen zu haben scheint sich hingegen, dass bereits Zenon von Elea, der Vater der Dialektik, dieses sich selbst ins Absurde führende Axiom durch den Satz vom Nichtwiderspruchsprinzip widerlegt hat: Ein Sachverhalt ist oder er ist nicht. Daraus folgt: Jede Erscheinung hat eine Ursache. Gewiss, wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Aber hat nicht vielleicht auch für unsere Zeitepoche der Ausspruch Blaise Pascals (1623–1662) – einem der Vorväter des heutigen Computers – eine gewisse Berechtigung, nach dem die Menschen fürchten, dass die Religion wahr sei und sie deshalb bekämpfen würden? Die Aufgabe des katholischen Intellektuellen wäre es nach Pascal, den Menschen die Grundsätze der Religion als so positiv und ansprechend darzustellen, dass sie den Wunsch verspüren, sich ihrer Wahrheit gegenüber zu öffnen.

Katholisch gemäss dem Konzept von Pascal bedeutet keine Verkürzung der Intellektualität, sondern gewissermassen die ganze Wahrheit im Paket, all inclusive, die Megapackung aller geistigen, intellektuellen, religiösen und spirituellen Möglichkeiten. Der Begriff “katholisch” leitet sich ja etymologisch von griechisch “kath-holon” (auf die Ganzheit bezogen) ab. Von daher stellt die “katholische” Weite per definitionem geradezu das Gegenteil zu Fundamentalismus und ideologischer Verengung dar, ja sie ist sozusagen die geborene Ideologiekritik. Die befreiende Wirkung des Katholisch-Seins wäre in diesem Sinne die Wiedergewinnung der Ganzheitlichkeit des Menschen, was die Weite seiner geistigen Dimension miteinschliesst. Denn: Der Mensch ist eine geistige Wirklichkeit, er ist Person, er hat ein Gewissen, das ihn zum absoluten Sein und zum tieferen Sinn seines Lebens hinlenkt. Der Mensch ist jenseits aller kognitiven Kompetenz zu geistiger und intuitiver Erkenntnis fähig, die alle fragmentierten, rationellen und intellektuellen Fähigkeiten in sich integriert und ein Erfassen der Ganzheit des Seins ermöglicht.

Der Mensch ist von Natur aus ein unheilbar religiöses Wesen und bleibt daher frustriert, wenn er sich mit den Derivaten der Ersatzreligionen begnügen muss und zu keiner existenziellen Gotteserfahrung kommen kann. Karl Rahner hat einstens hierzu bemerkt, dass Krankheit oft ein Anzeichen dafür sei, dass in der Geistseele Unordnung herrsche und der Mensch somit von seiner Mitte, von Gott, abgekommen sei. Daraus könne man folgern, dass der Mensch seine Gesundheit wiedererlange, wenn er den verlorenen Sinn, die Mitte der Persönlichkeit, im tieferen Sinn Gott wiederfinde.

Die heilende Wirksamkeit des Glaubens könnte man mit Viktor Frankl als ein Herausfinden aus der Zerstreuung in die innere Sammlung beschreiben, durch die alle gebrochenen und ausgelaugten Energien neu vereinigt werden durch die Perspektive, das Ziel des Weges erkannt zu haben. Die Strukturen des Sinns zu erfassen könnte dabei bedeuten, dass der Mensch sich in seinem Sein von der Wahrheit berühren lässt, dass er selbst von Gott geschaffen ist und dass ihm der Auftrag mitgegeben wurde, zu leben. Demnach sind jeder und jedem spezifische Talente und persönliche Energiereserven zugeteilt, sodass er die individuelle Aufgabe bewältigen und positiv erfüllen und auf diese Weise sein Ziel erreichen kann. Ohne Ideale ist der Mensch innerlich tot. Der Glaube lässt den Menschen hingegen das Projekt seines Lebens erahnen und treibt ihn dazu an, ungeahnte Energien zu entfalten und sich allseitig kreativ zu entwickeln. Gerade in den Evangelien und den Mysterien der Kirche erweist sich der Glaube als das beste Heilmittel für die mit seelischen Wunden belastete Geistseele des Menschen.

Keine Religionsgemeinschaft der Welt bietet eine so massive Nähe Gottes wie die katholische Kirche. Der menschgewordene Gott und Offenbarer des Vaters ist hier nicht nur das Wort Gottes, sondern in einer beinahe beängstigenden Weise durch seine Mysterien präsent. Dass die kirchlichen Gemeinschaften der Reformation bei der Eucharistie und bei den anderen Heilsmysterien einen Schritt zurück vollzogen haben, ist eine allen bekannte Tatsache: Stichwort Realpräsenz. Ganz abgesehen davon ist vielen Menschen ein möglichst ferner Gott entschieden lieber, am besten reduziert auf ein kosmisch-universelles Prinzip.

Dennoch stellt sich die Frage, ob man aus einem spezifischen Unterscheidungsmerkmal nicht doch einen branchenübergreifenden Wettbewerbsvorteil machen könnte. Statt seine konfessionelle Identität schamhaft hinter einer mit allem Eifer betriebenen Entmythologisierung zu verbergen, könnte man vermehrt das Heilsangebot einer ganz persönlich erlebbaren Nähe Gottes herausstellen, die für alle Höhen und Tiefen des Lebens gilt. Die zugegebenermassen manchmal Ärgernis erregende ostentative Nähe der christlichen Erlösungsreligion, die sich nicht nur in der Lehre vom Heiligen Geist und seinen Geistesgaben, sondern auch im Glauben an Engel und Heilige und andere Wegbegleiter äussert und sich an allen Schnittstellen des Lebens – angefangen von Geburt über pubertäre Reifungsprozesse bis hin zu Hochzeit, Kindertaufe und Tod – manifestiert, enthält manches Potenzial für eine Kultur schaffende Vitalität.

Gemeint sind damit nicht so sehr die (zumindest in der Vergangenheit) zahlreichen Äusserungen christlicher Kunst, sondern vielmehr die historisch gewachsene Verbindung von christlicher Doktrin mit einem philosophisch fundamentierten Humanismus. Gerade die von manchen (insbesondere Karl Barth) für typisch “katholisch” erklärte “Analogia entis” (Verhältnismässigkeit des Seienden), die die Transparenz der Welt und all ihrer Schönheit auf das göttliche Mysterium zum Inhalt hat, böte in dieser Richtung zahlreiche Möglichkeiten: Nicht nur Musik, Kunst, Kultur, Architektur und alle Gattungen der Literatur, sondern einfach alle Kultur schaffenden und Identität stiftenden Bereiche der Geisteswelt würden somit einen Ruf in sich tragen, etwas von der Nähe des christlichen Heilsmysteriums sichtbar werden zu lassen. Man kann dies Schönheit, Wertbezogenheit oder einfach einen christlichen Humanismus nennen. Wichtig ist dabei, dass deutlich wird, dass die Suche des Menschen nach Wahrheit und Sinn kein aussichtsloses Unterfangen darstellt. Bei seinem apostolischen Besuch in dem österreichischen Wienerwald-Kloster Heiligenkreuz hat Benedikt XVI. 2007 die Zisterziensermönche an ihre Berufung erinnert, zu bezeugen, dass die urmenschliche Sehnsucht nicht ins Leere geht:

“In ihm ist Gott mit seiner ganzen ‘Fülle’ in unsere Welt eingebrochen, in ihm hat alle Wahrheit, nach der wir uns sehnen, ihren Ursprung und ihren Gipfelpunkt. Unser Licht, unsere Wahrheit, unser Ziel, unsere Erfüllung, unser Leben – all das ist keine religiöse Lehre, sondern eine Person: Jesus Christus. Noch viel mehr als wir Menschen Gott je suchen und ersehnen können, sind wir schon zuvor von ihm gesucht und ersehnt, ja gefunden und erlöst! Der Blick der Menschen aller Zeiten und Völker, aller Philosophien, Religionen und Kulturen trifft zuletzt auf die weit geöffneten Augen des gekreuzigten und auferstandenen Sohnes Gottes …”.

Augustinus von Hippo bringt einmal das Bild von den zwei Trompeten des Engels der Verkündigung ins Wort: eine Posaune, die für das Wahre und Schöne in der griechischen Philosophie vorgesehen ist, eine zweite für die Heilige Schrift. Die Melodien beider Posaunen kommen von demselben Geist, beide werden mit unterschiedlichen Noten bespielt, aber so, dass die Ganzheit von Wahrheit und Schönheit zum Erklingen kommt. In diesem Sinne hat die Welt einen nicht zu unterschätzenden Bedarf an Menschen, die das eine oder andere Instrument des Geistes anstimmen können; Menschen, die mit einem wachen Intellekt ausgestattet sind und die aus einem unstillbaren Durst nach Erkenntnis und einer umfassenden Bildung anderen Mitmenschen Orientierung geben können: katholische Intellektuelle. Dies aber sollten sie als Suchende tun, die andere ein Stück weit geleiten wollen.

Da die katholische Kirche weiterhin die grösste Religionsgemeinschaft des Planeten Erde darstellt und mittlerweile nicht nur im Bergland von Uganda, sondern auch in der pulsierenden Metropole New York die Mehrheitsreligion stellt, sollten sich vielleicht auch die Intellektuellen, die sich geistig dieser Kirche zugehörig fühlen, von einem gewissen Selbstwertgefühl erfüllen lassen.

Der Autor ist Mönch im Stift Heiligenkreuz und Professor für Spirituelle Theologie und Ordensgeschichte, sowie Vorstand des Instituts für Spirituelle Theologie und Religionswissenschaft an der Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz.

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