Geistlich leben lernen

Gebet, praktische Unterweisung, Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit

Gebet für die SchweizGebet für die Schweiz
Johann Michael Sailer
Pastores dabo vobis
 
– Eine Einführung in den geistlichen Lebensstil. Von Andreas Schmidt

Die Tagespost, 5. Juli 2913

Geistlich leben lernen heisst eigentlich: leben lernen. Denn das geistliche Leben ist ja nicht etwas Zusätzliches oder nur ein Teilbereich des Lebens. Das ganze Leben soll geistlich werden, das heisst vom Geist Gottes durchdrungen und geführt. Daran entscheidet sich, ob ein geistliches Leben authentisch ist: Es muss “inkarniert” sein, das heisst tatsächlich alle Bereiche des tatsächlichen konkreten Menschseins berühren und prägen und darf nicht nur im Raum frommer Ideen oder einzelner geistlicher Übungen verbleiben.Daher handeln alle grossen Einführungen ins geistliche Leben immer von der ganzen Bandbreite der Lebens. Der Praktikos des Evagrius Pontikos beispielsweise, eine Unterweisung für Mönche aus dem 4. Jahrhundert, spricht nicht nur vom Gebet, sondern in schonungsloser Offenheit von allem, was es in der Seele des Menschen an Gedanken, Regungen und Leidenschaften gibt, und wie damit geistlich umzugehen ist. Ein deutscher Franziskaner, David von Augsburg, verfasste im 13. Jahrhundert eine Einführung in das Ordensleben mit dem Titel “Über die Formung des äusseren und inneren Menschen”. Jahrhundertelang war es ein viel benutztes Handbuch für Novizen aus verschiedensten Orden und auch für Laien. Es handelt natürlich von unterschiedlichen Formen des Gebets, aber es setzt an bei den alltäglichen Lebensvollzügen: dem Rhythmus von Arbeit, Erholung und Schlaf, der rechten Form des Redens und der Beziehungsgestaltung, dem Umgang mit den eigenen menschlichen Schwächen und denen der anderen. Ähnlich die Introduction a la vie dévote des Hl. Franz von Sales, die sich ab dem 17. Jahrhundert in ganz Europa als Leitfaden für das geistliche Leben verbreitete. Nach Weisungen zum Gebet und zum sakramentalen Leben geht es darin um Fragen wie Freundschaft, Gestaltung der Freizeit und seelische Gestimmtheiten.

Dies alles gehört also zur Einführung in einen geistlichen Lebensstil – auch in der Ausbildung in einem Priesterseminar. Die deutsche Rahmenordnung für die Priesterbildung (2003) stellt fest: “Geistliches Leben und menschliche Reifung als Aufgabe eines ganzen Lebens sind untrennbar verbunden” (Nr. 12). In der Grundordnung für die Ausbildung der Priester heisst es im selben Sinn, der künftige Priester solle “zu jener harmonischen Verbindung der menschlichen und übernatürlichen Fähigkeit gelangen, die für ein echtes Zeugnis christlichen Lebens in der heutigen Gesellschaft notwendig ist” (Nr. 51). Schon das II. Vatikanische Konzil hatte in seinem Dekret zur Ausbildung der Priester Optatam totius diese Ganzheitlichkeit betont: “Unter Anleitung vor allem des Spirituals sollen die Alumnen lernen, … [Christus] wie Freunde in enger Gemeinschaft des ganzen Lebens verbunden zu sein” (OT 8). Wie können junge Männer in eine solche “Gemeinschaft des ganzen Lebens” mit Christus hineinwachsen? Folgende Elemente gehören dazu:

An erster Stelle natürlich eine Einführung in das Gebet, sowohl in das liturgische wie auch in das persönlichen Beten. Beide Formen sind notwendig und ergänzen einander. Ohne das persönliche Gebet bliebe das liturgische formal und oberflächlich, die Liturgie hingegen formt das persönliche Beten und führt es über das bloss Subjektive hinaus in die kirchliche Weite. Heute besteht eine besondere Herausforderung darin, die Seminaristen zu einer regelmässigen Praxis des persönlichen Gebets anzuleiten. Denn während die “Betrachtung”, das heisst die persönliche Schriftmeditation, in früheren Zeiten täglich verpflichtend für alle auf dem Seminarprogramm stand und gemeinsam gehalten wurde, ist es heute meist der Eigeninitiative der Seminaristen überlassen, Zeit für das persönliche Gebet zu finden. Das erfordert angesichts der Fülle der Verpflichtungen in Universität und Seminargemeinschaft ein hohes Mass an Entschiedenheit. Es ist gewiss sinnvoll, solche Eigeninitiative einzuüben, denn auch im späteren Leben wird es dem Priester aufgegeben sein, sich trotz der Vielzahl der Anforderungen Zeit für das persönliche Gebet zu nehmen. In der Weiheliturgie werden die Kandidaten gefragt: “Seid ihr bereit, aus dem Geist der Innerlichkeit zu leben, Männer des Gebetes zu werden und in diesem Geist das Stundengebet als euren Dienst zusammen mit dem Volk Gottes und für dieses Volk, ja für die ganze Welt treu zu verrichten?” Bei dieser Frage geht es nicht nur um die Verpflichtung zum Stundengebet – dies steht erst an dritter Stelle. Es geht vielmehr zuerst darum, “aus dem Geist der Innerlichkeit zu leben” und “Männer des Gebets zu werden“. Dazu passt, was Johann Michael Sailer in seiner Schrift Priester des Herrn vermerkt: “Der wahre Geistliche kennt, übt und liebt ein dreifaches Gebet. Das geheime Gebet des Geistes, das er nie unterbricht und stets erneuert, das den Menschen in Einigung mit Gott bringt und in Einigung mit Gott hält; das öffentliche, das Gebet am Altar …; und das Breviergebet, dadurch er zu verschiedenen Zeiten des Tages auf dem Herd jenes geheimen Gebetes neues Reisig hinlegt, um die sinkende Flamme zu beleben und zu erhalten.” Auf dieses “geheime Gebet des Geistes” oder – biblisch gesprochen – auf das “Gebet ohne Unterlass” zielt letztlich alle Bildung im Gebetsleben. Um zu einer solchen dauernden inneren Verbundenheit mit Christus zu finden, ist die regelmässige Praxis des persönlichen Gebets unumgänglich. Wie könnte eine Freundschaft mit Jesus wachsen ohne lange Zeiten des freundschaftlichen Gesprächs und Zusammenseins mit ihm im persönlichen Gebet? Aber es braucht auch eine theoretische Unterweisung. Denn erfahrungsgemäss folgen auf Phasen der Neuentdeckung und tiefen Erfahrungen im Gebet auch Zeiten der Trockenheit und der Versuchungen. Davon sprechen viele Lehrer des Gebets. Wenn man um diese Gesetzmässigkeiten nicht weiss, besteht die Gefahr, der Entmutigung zu erliegen, anstatt zu erkennen, dass solche Zeiten Chancen zum Wachstum sind und gerade deshalb von Gott gegeben werden. Höhepunkte der Einübung in das persönliche Beten sind die jährlichen Exerzitien. Egal, ob sie mehr im Stil der “Lectio divina” mit ihren vier Schritten von Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation gehalten werden oder sich an den ignatianischen Exerzitien orientieren: Immer geht es darum, sowohl in die Tiefe der christlichen Gebetserfahrung hineinzuwachsen als auch zu lernen, mit Schwankungen von Gestimmtheiten umzugehen und die inneren Regungen zu unterscheiden.

Zur geistlichen Ausbildung gehört weiterhin eine “praktische Unterweisung” in allen Bereichen, die das konkrete alltägliche Leben prägen, klassisch ausgedrückt: eine Einführung in die christliche Tugend- und Lasterlehre. Die Art und Weise zu studieren und das tägliche Arbeitspensum zu bewältigen, hängt davon ab, ob ein Seminarist Disziplin und Fleiss aufbringt oder sich von der Trägheit (acedia) bestimmen lässt. Die Keuschheit betrifft nicht nur das sexuelle Leben, sondern die menschliche Fähigkeit, sich uneigennützig einem anderen Menschen um seiner selbst willen zuzuwenden. Die Lehre von den sieben Hauptsünden ist in der geistlichen Tradition weit mehr als nur ein Katalog von Sünden, die man besser meiden sollte. In der Schrift De quinque septenis zeigt Hugo von St. Viktor, dass es bei der Überwindung dieser Sünden um einen Prozess der Reifung und inneren Heilung des Menschen geht: “Verstehe, dass diese Laster gleichsam Krankheiten der Seele sind, dass der Mensch ein Kranker ist und Gott der Arzt, dass die Gaben des Heiligen Geistes das Heilmittel sind und die Tugenden die Gesundheit.”

Die geistliche Ausbildung im Priesterseminar muss natürlich aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen unserer Zeit in den Blick nehmen. Der Umgang mit dem Internet ist auch eine Frage des geistlichen Lebens: Was nützt wirklich und wo verschwende ich Zeit oder setze mich schädlichen Einflüssen aus? Die neuen Medien sind verbunden mit der Frage der “Neuen Evangelisierung”. Hier kann und soll das Priesterseminar ein “Laboratorium” sein, um – auch gemeinsam mit anderen Berufsgruppen und Laien – neue Formen auszuprobieren und einzuüben, mit den Menschen unserer Zeit in den Dialog zu treten und den Glauben zu verkünden. Die Authentizität des geistlichen Lebens wird sich gerade darin zeigen, ob die Kandidaten “wachsen im Eifer, alle Menschen für Christus zu gewinnen” (OT 8).

Da geistliches Leben und menschliche Reifung so eng miteinander verbunden sind, gehört auch die Psychologie in die Seminarausbildung mit hinein. Sie soll helfen, dass die Kandidaten “zu einem grösseren Wissen um ihre eigene Person, der eigenen Potenziale und Verletzlichkeit kommen” (Leitlinien für die Anwendung der Psychologie (2008), Nr. 15). Es geht darum, dass sie fähig werden zu einer “so weit wie möglich ‘inkarnierten‘ pastoralen Tätigkeit”, so das nachsynodale Schreiben Pastores dabo vobis (Nr. 52) von Johannes Paul II. (1994). Es gab in den letzten Jahrzehnten sehr unterschiedliche Bewertungen, auch emotionale Auseinandersetzungen, welcher Stellenwert der Psychologie in der Priesterausbildung zukommen soll. Die Bandbreite ging von einer Überschätzung als Allheilmittel bis hin zur pauschalen Ablehnung als “ungeistliche Kategorie”. Mittlerweile setzt sich glücklicherweise – auch durch Entwicklungen in der Psychologie selbst – eine nüchternere Sichtweise durch. Die Psychologie kann Theologie und Spiritualität nicht ersetzen, aber da bekanntlich die Gnade auf der Natur aufbaut, kann sie helfen, das eigene Menschsein auch wirklich ernst zu nehmen und sich ehrlich mit den Prägungen der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen.

Ein wesentliches Element der Einführung in das geistliche Leben ist schliesslich die geistliche Begleitung. Dazu treffen sich die Seminaristen etwa monatlich zu einem Gespräch mit einem im geistlichen Leben erfahrenen Begleiter. In ihr sollen die unterschiedlichen Impulse aus wissenschaftlicher Lehre, geistlicher Unterweisung und konkreter Lebenserfahrung zusammenlaufen. Durch sie soll sichergestellt werden, dass die empfangene Lehre nicht bloss im Bereich des Theoretischen bleibt, sondern in ehrlicher Weise mit der eigenen Lebenswirklichkeit in Verbindung gebracht und so wirklich “Fleisch wird”. Die geistliche Begleitung ist die Chance, in einem geschützten Raum das eigene Leben im Licht Gottes zu betrachten und Erfahrungen, Fragen und Schwierigkeiten offen anzusprechen. Dabei kommt es darauf an, nicht bloss über Ideale und Ziele zu reden, sondern die Dinge so zur Sprache zu bringen, wie sie wirklich sind. Solche Wahrhaftigkeit ist der Weg, um Selbsttäuschungen zu vermeiden und das eigene Leben und die persönliche Berufung klarer in den Blick zu bekommen. Die Zeit im Priesterseminar ist geprägt vom Studium der Theologie und der Einübung in das geistliche Leben. Für den Mönchsvater Evagrios sind das freilich nicht zwei verschiedene Dinge. “Bist du Theologe, wirst du wahrhaft beten, und betest du wahrhaft, bist du Theologe” (De oratione tractatus 61). Zu solcher Einheit sollte die geistliche Ausbildung im Priesterseminar helfen.

Der Autor ist Spiritual am Priesterseminar München.

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