Reflexion über Geheimnis und Leben der Kirche
…”weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast”, Mt 11,25
Von Kardinal Georges Cottier OP
Papst Benedikt XVI. hat in letzter Zeit mit einigen Äusserungen interessante und originelle Denkanstösse hinsichtlich einer von der traditionellen Lehre der Kirche vollkommen anerkannten Wirklichkeit gegeben: des sensus fidei des Volkes Gottes. Insbesondere hat mich der Hinweis angesprochen, der in der am 7. Juli gehaltenen Katechese über den seligen Johannes Duns Scotus enthalten ist. Bei jener Gelegenheit sagte der Papst, als er über die Unbefleckte Empfängnis Mariens sprach, ganz klar, dass jener Glaube “im Gottesvolk bereits vorhanden [war], während die Theologie noch nicht den Schlüssel gefunden hatte, um ihn im Rahmen der gesamten Glaubenslehre zu interpretieren.
Das Gottesvolk geht also den Theologen voraus, und zwar dank jenes übernatürlichen ‘sensus fidei’, jener vom Heiligen Geist eingegossenen Fähigkeit, die in die Lage versetzt, die Wirklichkeit des Glaubens mit demütigem Herzen und Verstand anzunehmen. In diesem Sinne ist das Gottesvolk ‘vorausgehendes Lehramt’, das dann von der Theologie vertieft und intellektuell angenommen werden muss.”
Das Bild des ‘vorausgehenden Lehramtes‘ in Bezug auf den ‘sensus fidei‘ des Gottesvolkes scheint mir ein wirksames Kriterium zu bieten, um deutlich die Beziehung zu klären, die es zum kirchlichren Lehramt und zur Theologie hat.
Die Konzilskonstitution Lumen gentium definiert den sensus fidei in Abschnitt 12 folgendermassen: “Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2, 20 und 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes dann kund, wenn sie ‘von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äussert.”
Der Glaube als solcher irrt nicht. Er ist eine theologale Tugend, das heisst eine übernatürliche Gabe Gottes, und wer sie empfängt, hat seinerseits Teil an der prophetischen Gabe Christi. Die Quelle dieser Unfehlbarkeit ist der Heilige Geist, der die intuitive Annäherung des Gottesvolkes an die offenbarte Wahrheit inspiriert und lenkt sowie das Wahre vom Falschen zu unterscheiden weiss. Diese Dynamik hat Kardinal Charles Journet in seinem Werk Le message révélé 1963 mit eindrücklichen Worten beschrieben, wobei er von einem Zitat des heiligen Thomas ausgeht: “‘Das Licht des Glaubens‘, so sagt der hl. Thomas, ‘führt zum Sehen des Geglaubten…; denn der habitus des Glaubens macht den Geist des Menschen geneigt, den Dingen des wahren Glaubens zuzustimmen, nicht den anderen‘. Es gibt eine Entsprechung, eine verborgene Anpassung, eine Konnaturalität zwischen der Tugend des Glaubens, die in der Seele des Christen lebendig ist, und den zu glaubenden Wahrheiten, die ihm von der Offenbarung vorgelegt werden: denn im einen wie im anderen Fall ist es derselbe Heilige Geist, der am Werk ist: hier durch das prophetische Licht, dort durch das heiligende Licht. Von dort her kommt die spontane Neigung des Gläubigen, der offenbarten Wahrheit zuzustimmen. Diese Neigung verstärkt sich, wenn der Glaube von Liebe erfüllt ist, wenn er dank der Gaben des Heiligen Geistes durchdringend und intuitiv und gleichsam hellsehend wird. Dann dringt er bis in die Tiefen vor, nimmt er etwas vorweg, suggeriert mit sicherem Instinkt das, was noch implizit und verborgen bereit ist, hervorzubrechen und sich zu offenbaren.”
Offensichtlich ist der sensus fidei nicht mit der allgemeinen Mehrheitsmeinung gleichzusetzen; er darf nicht auf der Grundlage von Umfragestatistiken definiert werden. In der Kirchengeschichte kam es vor, dass der sensus fidei unter bestimmten Umständen von Einzelpersonen, einzelnen Heiligen, bezeugt wurde, während die allgemeine Meinung Lehren anhing, die mit dem apostolischen Glauben unvereinbar waren. Wie damals, als man unter dem Einfluss des Jansenismus die Strenge des göttlichen Gerichtes überbetonte, auf Kosten seiner Barmherzigkeit.
In demselben Aufsatz beschreibt Journet auch die Beziehung, die zwischen dem sensus fidei und dem Lehramt der Kirche besteht. Beide Wirklichkeiten – so erklärt Journet – müssen voneinander unterschieden werden: bei Ersterer handelt es sich “weder um eine Lehre noch um das Lehramt, sondern nur um die auf eine Erfahrung gegründete Überzeugung von einer Wahrheit“. Und wenn auf der einen Seite der Glaube, insofern er Gabe des Heiligen Geistes ist, nicht irren kann, kann doch “der Gläubige, auch wenn er im Stand der Gnade und sehr fromm ist, irren und seinen Glauben mit fremden Gedanken oder Empfindungen vermischen. Ausser wenn er so erleuchtet ist, wie es die Apostel waren, braucht er immer die Hilfe, die Leitung, das Urteil des vom göttlichen Beistand unterstützten Lehramtes.“
In dieser Hinsicht hat das Lehramt der um den Nachfolger Petri vereinten Bischöfe die Aufgabe, das, was der sensus fidei erahnt, worauf er hinweist und was er vorwegnimmt, zu beurteilen und zu bekräftigen. Wenn der Papst und die Bischöfe diese Funktion ausüben, bestätigen sie lediglich, dass eine vom sensus fidelium erkannte und angenommene Wahrheit in der Tat als Entwicklung von etwas anerkannt und angenommen wird, das im depositum fidei, dem Glaubensgut, bereits enthalten ist. Wie Benedikt XVI. in seiner Katechese über Duns Scotus angedeutet hat, fand diese Dynamik beispielhaften Ausdruck in der Definition der marianischen Dogmen der Unbefleckten Empfängnis und der Aufnahme Mariens in den Himmel. Diese Artikel des apostolischen Glaubens sind vorrangig auf der Grundlage des sensus fidelium definiert worden. Die Verehrung der Unbefleckten Empfängnis Mariens in der Volksfrömmigkeit erkannte die Apostolizität dieser Lehre lange bevor sie als Dogma definiert wurde. Mit derartigen dogmatischen Erklärungen beabsichtigten die Päpste sicher nicht, irgendeine neue theologische Theorie zu erfinden oder hinzuzufügen, sondern nur das anzuerkennen, was im Herzen der Kirche bereits vorhanden war.
In dieser Hinsicht enthält der berühmte Artikel, den der selige John Henry Newman in der Zeitschrift The Rambler im Juli 1859 veröffentlicht hat, immer noch viele Anregungen. Der Artikel handelte von der Konsultation der Gläubigen in Fragen der Lehre.
Newman verfasste diesen Artikel als Antwort auf die Angriffe “einiger ehrlicher Seelen“, die empört waren über einen vorher in derselben Zeitschrift erschienenen Artikel, in dem auf die Tatsache angespielt wurde, dass bei der Vorbereitung der dogmatischen Definition der Unbefleckten Empfängnis die Gläubigen zu Rate gezogen worden waren. Die von Newman bei jenem Anlass vorgebrachte Argumentation stellt auch heute noch ein äusserst aktuelles Konzentrat von historischen und lehrmässigen Argumenten dar, die darauf abzielen, das Wesen des sensus fidelium als instrumentum traditionis darzulegen.
Laut Newman ist “die Überlieferung der Kirche per modum unius der gesamten Kirche in ihren verschiedenen Gliedern und Funktionen anvertraut, die sich zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedener Weise manifestiert: manchmal durch das Wort des Episkopats, andere Male durch die Kirchenlehrer, ein andermal durch das Volk, die Liturgien, die Riten, die Zeremonien, die Streitgespräche und alle jene Ereignisse, die unter dem Begriff ‘Geschichte‘ zusammengefasst werden. Daraus folgt, dass keiner dieser Kanäle der Tradition verachtet werden darf, wenn auch zugleich ohne Einschränkung gesagt werden muss, dass die Gabe der Unterscheidung, des Urteils, der Definierung und Promulgierung einer Überlieferung allein der Ecclesia docens zusteht.“
Als Beweis für die entscheidende Rolle des sensus fidelium im Leben und in der Geschichte der Kirche nimmt er den emblematischen Fall der arianischen Krise: “Es ist nicht ohne Bedeutung, dass auch historisch gesehen das 4. Jahrhundert die Zeit der grossen Kirchenlehrer war, die Zeit der heiligen Athanasius, Hilarius, der beiden Gregor, Basilius, Chrysostomus, Ambrosius, Augustinus. Hinzu kommt noch, dass alle ausser einem, auch Bischöfe waren.
Dennoch wurde gerade in jener Zeit die der unfehlbaren Kirche anvertraute göttliche Überlieferung sehr viel mehr vom Volk Gottes verkündet und verteidigt als von den Bischöfen. […]. In jener Zeit der grossen theologischen Verwirrung wurde das Dogma der Gottheit unseres Herrn mit grösserer Kraft von der Ecclesia discens verkündet, verteidigt und bewahrt als von der Ecclesia docens; das Bischofskollegium war seiner Sendung nicht gewachsen, wohingegen die Mehrheit der Laien der eigenen Taufe treu blieb. […]. Gerade das Volk Gottes war es, dass dank göttlicher Vorsehung Athanasius, Hilarius, Eusebius von Vercelli und andere grosse und einsame Bekenner des Glaubens unterstützte, die ohne es verloren gewesen wären.“ Der Fall des Arianismus ist für Newman ein “offenkundiges Beispiel für die Situation der Kirche in einem historischen Augenblick, in dem es, um die apostolische Tradition zu erkennen, notwendig war, auf das Gottesvolk zurückzugreifen“, und er schliesst daraus, dass es möglich ist, dass sich die Stimme der Tradition in bestimmten Fällen nicht durch Konzilien, Kirchenväter und Bischöfe manifestiert, sondern durch den communis fidelium sensus.
Selbstverständlich betrifft dies alles auch die Theologie. Wenn die theologische Forschung sich innerhalb der Kirche entwickeln will, zum Nutzen der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen, ist der sensus fidei ihr unumgänglicher Bezugspunkt, der sich in herausragender Weise in der Heiligkeit manifestiert. Von daher hat es mich sehr beeindruckt, dass der Papst in seiner letzten Ansprache an die Mitglieder der Internationalen Päpstlichen Theologenkommission an die “Kleinen“ erinnert hat und dabei Bernadette und Therese von Lisieux namentlich nannte als diejenigen, die das “Mysterium erkannt haben“ und “in das Herz der Heiligen Schrift“ vorgedrungen sind, während einer Theologie, die doch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, das Wesentliche bisweilen verborgen bleibt.
Bereits früher hatte der damalige Kardinal Ratzinger das vom heiligen Thomas von Aquin dargelegte Kriterium aufgegriffen, nach dem die Grundlage der echten Theologie das “Wissen der Heiligen“ ist. Für den heiligen Thomas, so erklärte Ratzinger in seinem Buch Auf Christus schauen, ist die Theologie scientia subalterna, weil sie “nicht selbst ihre letzten Gründe ‘sieht‘ und ‘beweist‘. Sie ist sozusagen aufgehängt am ‘Wissen der Heiligen‘, an ihrer Schau […]. Die Arbeit des Theologen ist in diesem Sinn immer ‘sekundär‘, relativ auf die reale Erfahrung der Heiligen hin. Sie verliert ohne diesen Bezugspunkt, ohne die innerste Verankerung in solcher Erfahrung ihren Realitätscharakter. Das ist die Demut, die den Theologen auferlegt ist … Theologie wird zum leeren intellektuellen Spiel und verliert auch ihren Wissenschaftscharakter ohne den Realismus der Heiligen, ohne ihre Berührung der Wirklichkeit, um die es dabei geht.”
Manchmal wird ganz klar deutlich, dass es im Leben und Werk einiger Heiliger so etwas gibt wie eine prophetische Vorwegnahme, einen vorweggenommenen Hinweis auf etwas, das die Kirche im Laufe der Zeit braucht, damit sie im Glauben der Apostel bewahrt wird. Die Heiligen leben, solange sie noch auf der Erde sind, nicht in der beseligenden Schau, sondern im Glauben; aber die grossen, von der Liebe und den Gaben des Heiligen Geistes bewirkten Glaubensintuitionen, führen sie dahin, dass sie dunkel die grossen Wahrheiten erahnen, die wir im Himmel klar sehen werden. Für den heiligen Thomas sind die Heiligen vor allem die Seligen. Ich denke zum Beispiel an einige Heilige der Neuzeit oder der Moderne wie die heilige Margherita Maria Alacoque, die heilige Therese vom Kinde Jesus, die heilige Schwester Faustyna oder Mutter Teresa: mit ihrem Erahnen der unendlichen Barmherzigkeit Gottes weisen sie auf das hin, worauf man den Blick richten muss in dieser auch für die Kirche dramatischen Zeit.
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