“Vor allen anderen vom Herrn erwählt”

Theologie und geistliches Leben nährten seine grosse Liebe zum Volk Israel

Die Tagespost, 13.02.2013

In seinem Verhältnis zum Judentum war Papst Benedikt XVI. ganz er selbst: Paulus und Psalmen, Theologie und geistliches Leben nährten seine grosse Liebe zum Volk Israel.  Von Oliver Maksan

Es ist dem Grünen-Politiker Volker Beck vorbehalten geblieben, hierzulande den moralischen Tiefpunkt in den Nachrufen auf den Pontifikat Benedikts XVI. auszuloten. Qua Facebook warf der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Deutschen Bundestag dem scheidenden Papst nebst anderem Unrat noch Folgenden hinterher: “Unter ihm ist die katholische Kirche teilweise wieder hinter Erneuerungen durch das zweite vatikanische Konzil zurückgefallen, beispielsweise durch die Aufhebung der Exkommunikation der antisemitisch ausgerichteten Piusbruderschaft.” Der Papst ein geschichtsvergessener Revisionist und Wegbereiter eines theologischen Anti-Semitismus?

Führende Vertreter des Judentums sehen das anders.

So zum Beispiel Rabbi David Rosen, Beauftragter des “American Jewish Committee” wie des Israelischen Oberrabbinats für interreligiöse Beziehungen. In diesen Funktionen ist er Papst Benedikt viele Male persönlich begegnet. Gegenüber dieser Zeitung meinte er deshalb am Dienstag in Jerusalem: “Die Abdankung Papst Benedikts XVI. ist ein Verlust für die katholisch-jüdischen Beziehungen, denen er zutiefst verpflichtet war. Er ging hier den Weg seines Vorgängers weiter.” Tatsächlich hatte Benedikt bereits einige Wochen nach seiner Wahl Vertreter des “Internationalen Jüdischen Komitees für interreligiöse Konsultationen” im Vatikan empfangen – als erste nicht-christliche Delegation. Ihnen sagte der Papst damals, im Juni 2005: “In den Jahren nach dem Konzil haben meine Vorgänger, Papst Paul VI. und insbesondere Papst Johannes Paul II., bedeutende Schritte unternommen, um das Verhältnis zum jüdischen Volk zu verbessern. Meine Absicht ist es, auf diesem Weg weiterzugehen.” Und er ist diesen Weg weitergegangen. Keine jüdische Organisation auf Weltebene, die der Papst in den ersten beiden Jahren seines Pontifikates nicht empfangen hätte: Vertreter des World Jewish Congress (WJC), die Anti-Defamation League (ADL), das American Jewish Committee (AJC), der B’nai B’rith International (BBI), das Simon-Wiesenthal-Center.

Gewiss, dem auf dem Land aufgewachsenen Bayern Ratzinger fehlte der biografische Bezug seines Vorgängers zum Judentum. Der junge Karol Woytila musste erleben, wie Freunde seiner Jugend aus Wadowice deportiert wurden. Dem jungen Joseph Ratzinger blieben solche Erfahrungen glücklicherweise erspart. Sein Verhältnis zum Judentum indes war geprägt durch die Theologie und das geistliche Leben, Paulus und die Psalmen. Rabbi Rosen: “Der Papst sagte mir ausdrücklich, dass das jüdische Volk die Wurzel der katholischen Kirche sei. Sie habe eine einzigartige Beziehung zu ihm, dem kein anderes interreligiöses Verhältnis gleichkomme. Nicht nur, so sagte mir der Papst weiter, könne ein Christ ohne Judentum seinen Glauben nicht verstehen. Er bleibe ohne Fundament zurück.”

Begegnungen mit dem Judentum blieben eine Konstante im Pontifikat Benedikts. Während seines ersten Deutschland-Besuchs anlässlich des Weltjugendtags 2005 besuchte er die Kölner Synagoge. In dem Gotteshaus, das eine Gemeinde beherbergt, deren Wurzeln bis in das Köln der Römerzeit zurückreichen, sagte Benedikt: “Sowohl die Juden als auch die Christen erkennen in Abraham ihren Vater im Glauben und berufen sich auf die Lehren Moses’ und der Propheten. Die Spiritualität der Juden wird wie die der Christen aus den Psalmen gespeist. Mit dem Apostel Paulus sind wir Christen überzeugt, dass ‘Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind’.”

Sein für Zeugen unvergesslicher Besuch im Vernichtungslager Auschwitz im Mai 2006 führte diesen Gedanken an der Stelle fort, an der das jüdische Volk die grösste Tragödie seiner Geschichte erfuhr. Sichtlich bewegt von dem Schrecken, der von diesem Ort bis heute ausgeht, sagte Benedikt: “Die Machthaber des Dritten Reiches wollten das jüdische Volk als Ganzes zertreten, es von der Landkarte der Menschheit tilgen. Im Tiefsten wollten jene Gewalttäter mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Masse des Menschseins aufgerichtet hat. Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören – ihnen selber, die sich für die Starken hielten, die es verstanden hatten, die Welt an sich zu reissen. Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah, sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht und endgültig durch den neuen, selbstgemachten Glauben an die Herrschaft des Menschen, des Starken, ersetzt werden.”

Trotz aller Anteilnahme, Irritationen im jüdisch-katholischen Verhältnis blieben nicht aus. So sorgte die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte für die Juden im Februar 2008 für ernsthafte Verstimmungen auf jüdischer Seite. Nachdem der Papst im Juli 2007 die alte Liturgie wieder zugelassen hatte, war aus seiner Sicht eine Überarbeitung notwendig geworden. In dem bereits unter Johannes XXIII. reformierten Text des Missale von 1962 war noch immer von der Verblendung der Juden die Rede, die ihrer Finsternis entrissen werden müssten. Was von Benedikt als versöhnliche Geste gedacht war, geriet jedoch zum Aufreger. Der neue Fürbitttext in der alten Liturgie pro conversione judaeorum lautete fortan: “Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen. Allmächtiger ewiger Gott, Du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Gewähre gnädig, dass beim Eintritt der Fülle aller Völker in Deine Kirche ganz Israel gerettet wird. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.” Rabbi Rosen bekannte bereits im vergangenen Jahr im Gespräch mit dieser Zeitung, dass die jüdische Seite davon geschockt gewesen sei. “Wir hätten uns die Übernahme des Gebets für die Juden aus dem neuen Messbuch gewünscht. Der Papst, aber auch Kardinal Kasper als unser Ansprechpartner, haben uns dann klar gemacht, dass es sich um eine eschatologische, endzeitliche Perspektive handelt, die das Gebet einnimmt. Es orientiert sich an Paulus im Römerbrief. Der Apostel meditiert dort über das Paradox, dass der Bund unkündbar ist, die Juden aber gleichzeitig am Ende der Zeiten zur Erkenntnis Christi gelangen. Genau das will das Gebet nach der uns von Kardinal Kasper und vom Papst gegebenen Interpretation ausdrücken. Das hätte man aber auch vor oder mit der Veröffentlichung des Textes mitteilen können, dann wäre manche Irritation vermieden worden.”

Doch der grosse Knall sollte mit der Aufhebung der Exkommunikation der vier von Erzbischof Marcel Lefebvre geweihten Bischöfe der Piusbruderschaft im Januar 2009 erst noch folgen. Als kurz darauf bekannt wurde, dass einer der Bischöfe, Richard Williamson, ausweislich eines Fernseh-Interviews die Zahl der im Holocaust getöteten Juden bezweifelte, brach eine Welle der internationalen Empörung über den Heiligen Vater herein. Michel Friedman vom Zentralrat der Juden beschimpfte den Papst deswegen gar als Lügner und Heuchler. Man könne nicht Dialog betreiben und gleichzeitig einen Holocaust-Leugner rehabilitieren. Wie er dachten viele. In einem nie da gewesenen Schritt der Demut wandte sich der Papst deshalb im März 2009 an die Bischöfe, um Versäumnisse seitens des Heiligen Stuhles zuzugeben. Man hätte sich im Vorfeld besser informieren müssen. Wörtlich schrieb er dem Weltepiskopat: “Eine für mich nicht vorhersehbare Panne bestand darin, dass die Aufhebung der Exkommunikation überlagert wurde von dem Fall Williamson. Der leise Gestus der Barmherzigkeit gegenüber vier gültig, aber nicht rechtmässig geweihten Bischöfen erschien plötzlich als etwas ganz anderes: als Absage an die christlich-jüdische Versöhnung, als Rücknahme dessen, was das Konzil in dieser Sache zum Weg der Kirche erklärt hat.” Und weiter: “Betrübt hat mich, dass auch Katholiken, die es eigentlich besser wissen konnten, mit sprungbereiter Feindseligkeit auf mich einschlagen zu müssen glaubten. Umso mehr danke ich den jüdischen Freunden, die geholfen haben, das Missverständnis schnell aus der Welt zu schaffen und die Atmosphäre der Freundschaft und des Vertrauens wieder herzustellen, die – wie zur Zeit von Papst Johannes Paul II. – während der ganzen Zeit meines Pontifikats bestanden hatte und gottlob weiter besteht.” Rabbi Rosen gibt ihm in dieser Einschätzung recht: “Eine faire Bewertung dieser Episode ist, dass trotz des Wunsches des Papstes um eine Wiederversöhnung mit der Piusbruderschaft er zu keinen Kompromissen bereit war, was die Annahme des II. Vatikanums und der Erklärung Nostra aetate betraf. Ausserdem verurteilte er die Leugnung des Holocaust und Anti-Semitismus auf das Deutlichste.

Leider bekommen Klarstellungen nie die Aufmerksamkeit wie sensationsheischende Missinterpretationen.”

Sein Besuch im Heiligen Land im Mai 2009 stand deshalb im Schatten der Ereignisse um die Piusbruderschaft. Ohne sich die Reise und ihre Schwerpunkte von den internationalen Medien diktieren zu lassen, fand der Papst dennoch deutliche Worte. Anlässlich seines Besuches in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sagte er: “Mögen die Namen dieser Opfer niemals vergehen! Möge ihr Leid nie geleugnet, herabgesetzt oder vergessen werden!” Und weiter: “Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus bekräftige ich – wie meine Vorgänger –, dass die Kirche verpflichtet ist, unablässig zu beten und zu arbeiten, um zu gewährleisten, dass der Hass nie wieder in den Herzen der Menschen herrsche.”

Den Begegnungen mit Vertretern des Judentums in Israel folgten noch viele andere. Am bedeutendsten vielleicht war der Besuch, den der Heilige Vater im Januar 2010 der römischen Synagoge abstattete. 24 Jahre nachdem mit Johannes Paul II. erstmals ein Papst seit Petrus eine Synagoge betrat, sagte er: “Unsere geistliche Nähe und Brüderlichkeit finden in der Heiligen Schrift ihr solides, ewiges Fundament, aufgrund dessen wir uns beständig vor unsere gemeinsamen Wurzeln, vor unsere gemeinsame Geschichte und das reiche geistliche Erbe gestellt sehen. Die Kirche, Gottesvolk des Neuen Bundes, entdeckt, wenn sie ihr eigenes Mysterium betrachtet, ihren tiefen Zusammenhang mit den Juden, die vor allen anderen vom Herrn auserwählt sind, sein Wort anzunehmen.”

Den dichtesten Ausdruck dieses theologischen Ansatzes stellt wahrscheinlich die von Papst Benedikt während seines Pontifikates verfasste Jesus-Trilogie dar. Jesus wird hier ganz von seinem Judentum her gedacht, um seine messianische Rolle als souveräner Erfüller der Verheissungen und des Gesetzes überhaupt erst verständlich machen zu können. Inspiriert wurde der Papst dabei von dem in Amerika lehrenden Rabbiner Jacob Neusner. Dessen Buch “Ein Rabbi spricht mit Jesus” verdankt er nach eigenem Bekunden wichtige Anregungen. Rabbi Neusner selbst sieht allerdings auch das Judentum durch den historisch-theologischen Ansatz des Papstes bereichert. Dieser Zeitung sagte er am Dienstag: “Der Zugang Joseph Ratzingers zu Jesus von Nazareth bringt uns Einsichten in die Geschichte im Kontext des Glaubens. Das Judentum findet in ihm ein Vorbild, wie historische Forschung zu betreiben ist. Das ist seine unvergessliche Errungenschaft.”

Auch Rabbi Rosen lässt in seiner Würdigung des zu Ende gehenden Pontifikats keinen Zweifel an dessen Bedeutung für die Beziehungen von Juden und Katholiken. “Man hätte die Taten Johannes Pauls II. – sein Besuch in der römischen Synagoge und im Heiligen Land, seine Solidarität mit jüdischem Leiden – als Eigenart eines Papstes mit einer besonderen persönlichen Geschichte ansehen können, die ihm einen einzigartigen Sinn der Identifikation mit dem jüdischen Volk gab. Indem Benedikt XVI. diese mächtigen sichtbaren Gesten wiederholte machte er sie zu etwas, das mehr ist als die Taten einer einzigen Person: Sie wurden zu Taten der Kirche und zu einer Vorlage für künftige Päpste.”

Er hat den jüdisch-katholischen Dialog fest in der Kirche verankert

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