Ein Leben für die Liebe

Wer war Pater Werenfried van Straaten?

Ein Porträt zum 100. Geburtstag des “Speckvaters”. 

Die Tagespost, 16. Januar 2013, von Jürgen Liminski

Er war ein Kind. All die 90 Jahre seines Lebens dachte, fühlte, sprach und handelte er wie ein Kind. Pater Werenfried van Straaten, am 17. Januar 1913 in Mijdrecht bei Amsterdam geboren, war nicht nur ein Mann Gottes, er war ein Kind Gottes. Er lebte im Bewusstsein, dass sein Vater die “Sache schaukeln” würde. Die Sache, das war das “Werk”, wie er sein Lebenswerk, die Hilfsorganisation “Kirche in Not/Ostpriesterhilfe” nannte. Wie ein Kind setzte er sich aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüt, mit all seinen Kräften dafür ein. Es war sein Gestalt gewordenes Mandatum Novum. Er schonte weder sich noch andere und auch das entsprach seinem kindlichen Herzen.

Später, nach der Schlacht, wenn er seinen Willen gegen die anderen durchgesetzt hatte, tat es ihm leid und dann bat er um Verzeihung – wieder wie ein Kind – bei Gott, seinem Vater und bei den Menschen. Er lebte wie ein Kind, er kämpfte, bettelte, sammelte, gab alles hin wie ein Kind. Für wenige gilt das Wort Christi wie für ihn: “Lasset sie zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich”.

Werenfried – vor seinem Eintritt ins Kloster der Prämonstratenser mit 21 Jahren hiess er Philippus van Straaten – wird 1940, mitten im Krieg, 27-jährig zum Priester geweiht. Seine beiden Brüder sind es schon. Sieben Jahre später beginnt er seine Arbeit für die Armen. Wie immer mit einem Wort aus dem Herzen. Er schreibt in der Ordenszeitschrift einen Artikel über die deutschen Flüchtlinge: “Kein Platz in der Herberge”. Es war, ohne dass er es wusste, der Anfang des späteren Hilfswerks. Ab da galt alles, was er tat und dachte, diesem grossen Anliegen: Seelen retten, Menschen zum Vater führen, das Reich der Liebe ausweiten bis in die letzten Winkel der Erde. Nur so kann Frieden sein. Werenfried – Kämpfer für den Frieden – sein Name war Programm. Er kämpfte gern und immer, gegen Widerstände, gegen Krankheit und Müdigkeit, gegen sich selbst.

Werenfried kannte seine Stärken, noch besser kannte er seine Schwächen. Seinen Wohltätern – nie hat man ihn von Spendern reden hören – bekannte er: “Gott hat mir eine schwere Aufgabe gegeben und dabei vor meinen Schwächen und Sünden die Augen zugedrückt. Öfters hat Er mich vor unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt und sie dann selbst gelöst. Er hat mir ein massloses Vertrauen ins Herz gelegt, und Er hat es niemals enttäuscht. Er hat mir viel genommen und noch mehr gegeben, und jedes Mal, wenn ich unklug oder aufsässig, wehrlos oder machtlos war, hat Er bewiesen, dass Er selbst unser Werk leitet.” So dachte er, so liebte er, so half er zahllosen Brüdern und Schwestern der verfolgten Kirche. Er fand sie überall. Und überall machte er sich zu ihrem Fürsprecher vor Gott. Über den Favelas von Rio, vor der grossen Christus-Statue über der Stadt des Zuckerhuts, sprach er zu Ihm: “Herr Jesus Christus, ich bin von weither gekommen, um im Namen der Armen mit Dir zu sprechen. Unterwegs habe ich mit Entsetzen die Not der Millionen in mein Herz geschlossen. Erlaube mir, Dir zu sagen, dass das, was ich in diesem Erdteil gesehen habe, ein Skandal ist. Du siehst doch auch die furchtbaren Favelas, die Elendsquartiere der Armen, die überall, wo sich der Berg nicht für moderne Architektur eignet, hinaufkriechen. Hier haben die Architekten des Elends ihre Chance und nehmen die Abhänge brutal in Besitz. Achthunderttausend Arme leben hier. Vom Hunger gejagt, sind sie aus dem Innern des Landes zur goldenen Stadt geflüchtet, aber sie sind in der Hölle gelandet.”

Werenfried rang oft mit Gott. Wie der alttestamentarische Jakob hielt er den Engel Gottes umschlungen. “Ich lasse Dich nicht, es sei denn Du segnest mich.” Werenfried ging sogar noch weiter. Nicht für sich verlangte er den Segen Gottes, sondern für die zahllosen Armen, die er sah und die ihn um Hilfe baten, und für die Wohltäter, die er für seinen ständigen Kampf wie eine Armee um sich scharte, um die Not der Kirche zu lindern. Mit ihnen im Herzen ging er zu Bankern, Unternehmern, Politikern – und bettelte. An die drei Milliarden Euro hat er mit seinem Werk in einem guten halben Jahrhundert zusammengebettelt. “Seit Beginn des Werkes”, erklärte der Ordensmann mit dem Ruf eines Haudegens und dem Blick eines Kindes, “versuchen wir, die Liebe Christi zu seiner Kirche Gestalt werden zu lassen, indem wir uns all jener Christen annehmen, die schweigend leiden. Wir wissen, dass die Nächstenliebe einzig durch die Gottesliebe lebendig bleibt.” Konkrete Taten vollbringen, in Not zu Hilfe kommen, “eine Nächstenliebe mit Henkel, zum Anfassen” – so definierte er die Aufgabe des Hilfswerks. Er sammelte Körbe voll Geld, lud Lastwagen voll Speck, zog mit Kapellenwagen durch Deutschland, predigte in ganz Europa, mobilisierte junge Leute in einem Bauorden. Das waren die Werke in den ersten Jahrzehnten.

Als der Eiserne Vorhang undurchlässig wurde, wuchs die Not der Christen in den kommunistischen Diktaturen. Werenfried fand Wege, die Trennung zu überwinden. Er besuchte die Zeugen des Martyriums in Ungarn und Polen oder brachte sie in den Westen, denn dort glaubten Politik und Medien nur selten, was im Osten geschah. Ähnlich verhält es sich übrigens heute mit dem Schicksal der Christen in islamischen Ländern. Nicht selten wurde er wegen seiner Kompromisslosigkeit gegenüber den Kommunisten von Medien und Politikern als “kalter Krieger” oder “weltfremder Narr” geschmäht. Es tat ihm weh, aber seinem Werk keinen Abbruch. Die Menschen verstanden ihn. Er bettelte und sein Millionenhut füllte sich immer.

Aber Geld war nicht das Ziel, es war und ist nur ein Mittel. Er wollte die Not der Märtyrerkirche lindern. Auch nach dem Fall der Mauer war die Arbeit nicht beendet. Im Gegenteil, die Kirche im Osten, auch die orthodoxe in Russland, brauchte die Hilfe mehr denn je. Johannes Paul II., mit dem ihn eine herzliche Freundschaft verband, bat Werenfried um Hilfe. Werenfried ging nach Russland, traf den Patriarchen Alexej und begann den Bau einer “Flottille für Gott”. Kapellenboote, schwimmende Kirchen, bringen seit einigen Jahren Gott zu den Menschen an den Ufern von Wolga und Don, in geistliche Wüsten, wo jahrzehntelang kein Priester war – wieder eine Versöhnung mit Taten, weil hinter ihm eine Armee der Nächstenliebe stand, die er selbst rekrutiert hatte.

Eine Armee für die Armen. Nicht selten waren die Wohltäter selber Menschen in Not. Ihr Herz war und ist von Werenfrieds Gottesnähe entfacht. Wie das der Witwe aus England, die ihm schrieb: “Täglich bitte ich Gott, Er möge Ihre wunderbare Arbeit segnen. Bitte nehmen Sie die 15-Pfund-Spende einer armen Witwe an und beten Sie auch für mich. Mein Bein musste jetzt amputiert werden – Krebs – und ich brauche viel Kraft für den Rest meines Weges.” Oder wie jene Schülerin aus Kalifornien, die hundert Dollar in Münzen schickte mit den Worten: “Geld ist knapp heutzutage, auch für mich. Aber ich gebe, was ich kann. Meine Eltern meinen, ich sollte jetzt für meine Kleidung selber sorgen. Ich gebe Euch die Geldstücke, die ich beim Einkauf zurückbekomme. Ich bin erst vierzehn Jahre alt und bessere mein Taschengeld mit Babysitting auf. Bleibt auf dem guten Weg.”

Vier Jahre vor seinem Tod am 31. Januar 2003, gezeichnet von den Folgen eines Schlaganfalls und eines Herzinfarkts, wandte er sich dieser Armee Gottes zu wie ein Heerführer, der in die letzte Schlacht zieht, oft geschlagen aber ungebrochen. Es waren Worte, die nicht nur wie ein Tagesbefehl klangen, es war eine Devise für die Ewigkeit: “Vor dreiundsechzig Jahren habe ich das Gelübde der Armut abgelegt und das Wenige, das ich hatte, den Armen geschenkt. Ich behielt nur meine Stimme, die überall um Hilfe gerufen hat, und die Feder, mit der ich Bettelbriefe schreibe. Ich habe nichts auf die hohe Kante gelegt für unerwartete Nöte. Ich habe kein anderes Kapital als Eure guten Herzen. Herzen von Heiligen und Herzen von Sündern. Für alle gilt das Gesetz der Liebe. Nach diesem Gesetz dürft Ihr Euer Herz nicht vor Euren Brüdern in Not verschliessen. Werdet Ihr von Neuem meine leeren Hände füllen und mich verschenken lassen, was ich versprochen habe?”

Viele Antworten auf solche Appelle auf dem Schlachtfeld der Liebe waren heldenhaft. Aus Frankreich schrieb ihm eine Wohltäterin: “Von ganzem Herzen schicke ich Ihnen meine Gabe. Es ist nicht viel, aber mehr kann ich im Moment nicht tun. Meine Tochter hat fünf Kinder und der Mann hat sie verlassen, mein Sohn lebt von Sozialhilfe, eine andere Tochter ist behindert, beim zweiten Sohn leidet die Frau seit Monaten an starken Depressionen und ich selbst bin seit 36 Jahren verwitwet. Gott hat mir immer geholfen, deshalb will ich auch weiter helfen, selbst wenn es nur wenig ist. Beten Sie für mich.”

Die Verlassenen, die Kranken, die Notleidenden, die Kleinen und Demütigen – das war, das ist die Armee des Pater Werenfried van Straaten. Natürlich hat sie auch andere, weniger Notleidende in ihren Reihen. Was zählt, ist das Echo der Liebe, die Bereitschaft zu helfen, zu kämpfen in den Reihen dieser virtuellen Armee. Werenfried hat sie alle rekrutiert, gut 600 000 weltweit. Ihre Waffen sind die Liebe für die Armen und der Sinn für Gerechtigkeit. Werenfried war mit diesen Waffen geboren. Der Generalabt seines Ordens berichtet von einer Begebenheit, als Werenfried noch in der Abtei von Tongerlo Theologie studierte. Die Ergebnisse eines Zwischenexamens waren mager und der Professor gab Werenfried zu erkennen, dass er beim nächsten Mal erheblich mehr Punkte haben müsste. Wieviel, wollte Werenfried wissen. “Zwanzig von zwanzig möglichen”, antwortete der Professor. Bei der nächsten Prüfung hatte Werenfried zwanzig Punkte und unter die Arbeit den Satz geschrieben: “Zehn genügen, der Rest ist für die Armen”.

Am Ende seines irdischen Weges wird er womöglich wieder eine Prüfung abgelegt haben. Man kann es sich vorstellen, wie das bettelnde Kind zu seinem Vater sagt: “Der Tod für Dich, das Leben für die Armen”. Und auch diesmal wird Gott ihm die Bitte nicht abgeschlagen haben. Denn es war ein Leben für die Liebe.

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