“Das Finanzsystem ist im freien Fall”

Wolfgang Ockenfels, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Trier

Die Tagespost, 28.10.2011, von Markus Reder 

Wolfgang Ockenfels über das Ende des Kapitalismus, den drohenden Kollaps, die Sünde der Schuldenmacherei und die Herausforderung der Christen. 

Wolfgang Ockenfels ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Trier. Im St. Ulrich Verlag erschien jüngst sein neues Buch “Was kommt nach dem Kapitalismus?”.

“Die Tagespost” sprach mit dem Dominikanerpater über die Finanzkrise, die fatalen Folgen der Wachstumsideologie und die Notwendigkeit, vergessene Prinzipien wiederzuentdecken.

“Was kommt nach dem Kapitalismus?” lautet der Titel Ihres aktuellen Buches. Ist das nicht voreilig? Ist der Kapitalismus tatsächlich am Ende? Zeigt nicht gerade die derzeitige Krise die ungezügelte Macht der Märkte, die die Politik weiter vor sich hertreiben. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass sich der Kapitalismus überlebt hat?

Man wird ja noch fragen dürfen. Gegenwärtig sind wir Zeugen eines gewaltigen Zusammenbruchs. Der sogenannte Kapitalismus ist dabei, sich vor lauter Gier selber aufzufressen. Das globale Finanzsystem ist im freien Fall – und schickt sich an, ganze Staaten und Kontinente mit in den Abgrund zu reissen. Das geschieht nicht mit einem Knall, mit einem ganz grossen Crash, sondern in Etappen. Was kommt danach? Das ist doch eine legitime, wenn auch etwas bange Frage, die auf den Übergang zu einer neuen, besseren Ordnung zielt. Der Kapitalismus ist keine Ordnung, sondern das Fehlen einer Ordnung. Zu dieser Anarchie haben die Staaten durch “Deregulierung” wesentlich beigetragen. Die ordnungspolitische Dominanz des Politischen hat dadurch erheblichen Schaden gelitten.

Was ist schlecht am Kapitalismus? Jahrzehnte galt er als das dem Sozialismus überlegene System. War das ein grundsätzlicher Irrtum?

Als der Realsozialismus 1989 überall den Bankrott erklären musste, glaubte man an den globalen Siegeszug des Kapitalismus, als ob damit das Ende, die Erfüllung der Geschichte erreicht wäre. Diese geschichtsphilosophische Hypothese ist inzwischen falsifiziert worden. Der Wildwestkapitalismus nach anglo-amerikanischem Muster hat inzwischen so abgewirtschaftet, dass man mit seinem baldigen Ableben rechnen muss. In der Bundesrepublik Deutschland hatten wir über Jahrzehnte sehr gute Erfahrungen mit der Sozialen Marktwirtschaft gemacht, die in Europa als “rheinischer Kapitalismus” zur Geltung kam. Das war kein Kapitalismus, erst recht kein Sozialismus, sondern eine Marktwirtschaft, die ordnungs- und sozialpolitisch domestiziert war. Diese Wirtschaftsform hätte sich mit der Globalisierung nicht nur auf die Volkswirtschaften, sondern auf die Weltwirtschaft ausdehnen müssen. Das ist leider unterblieben.

Woran scheitert der Kapitalismus? An der Gier und Masslosigkeit Einzelner oder liegt ihm – wie dem Sozialismus – ein falsches Menschenbild zugrunde?

Mir scheint hier ein doppeltes Defizit vorzuliegen. Auf der moralischen Ebene ist es die ungebremste Masslosigkeit “gieriger” Individuen. Auf der sozialethischen Ordnungsebene ist es das Fehlen rechtlicher Strukturen und Regeln, die sich durch nationale und internationale Institutionen Geltung verschaffen sollten. Letztlich liegt aber der Hund begraben im falschen Freiheitsbegriff, im unrealistischen Menschenbild, wovon beide genannten Grossideologien in unterschiedlicher Weise gezeichnet sind. Wir müssen einen neuen “dritten” Weg suchen, jenseits der beiden Grossideologien, die eklatant gescheitert sind.

Um auf den Titel Ihres Buches zurückzukommen: Was kommt denn nun nach dem Kapitalismus?

Wenn ich das so genau wüsste, hätte ich nicht ein Buch darüber geschrieben, sondern mit einem Interview geantwortet. Ich bin schliesslich kein Prophet, der zukünftige Ereignisse voraussagen kann. Die Zukunft hat den Nachteil, dass sie noch nicht ist. Zugleich aber regt uns die miserable Gegenwart dazu an, uns Gedanken über das Danach, über die Konsequenzen zu machen. Vor allem sollten Christen über die Frage nach- und vordenken, was in Zukunft sein sollte. Da ich eher ein vorsichtiger Skeptiker als ein glühender Optimist bin, rechne ich nach den bisherigen Erfahrungen nicht mit einer Maximierung unserer Möglichkeiten, sondern mit der Minimierung der Übel. Vorausgesetzt, dass wir noch aus Fehlern lernen können und sie nicht ständig wiederholen.

Wie sozial kann eine “soziale Marktwirtschaft” in Zukunft überhaupt noch sein?

Der jungen Generation werden immense Schuldenberge aufgebürdet (Bankenrettung, Eurorettung) und die demografische Katastrophe rollt auf uns zu. Was heisst unter diesen Bedingungen “sozial”? Was bedeutet Gerechtigkeit? Steuern wir nicht zwangsläufig in immer brutalere Verteilungskämpfe?

Wer soll das verhindern? Lässt sich das überhaupt noch verhindern?

Das gerade sind die zentralen Fragen, auf die Christen eine Antwort finden müssen. Wenigstens einen Vorteil hat das Krisendesaster: Man darf und soll sogar wieder die prinzipiellen Fragen nach Gerechtigkeit, Solidarität und Gemeinwohl stellen. Der “Abschied vom Prinzipiellen”, der in den wohlstandsgesättigten Zeiten gefeiert wurde, dieses jahrzehntelange Hochfest des Pragmatismus wird jetzt selber verabschiedet. Es ist wieder erlaubt, die sittlichen Grundfragen zu stellen. Und gemeinsam Antworten zu suchen, wie man aus diesem tragischen Dilemma von Schulden, Bevölkerungsschwund und brutaler werdenden Konkurrenzkämpfen herausfindet. Dazu bietet die Katholische Soziallehre einige wichtige Orientierungen und Werterfahrungen. Und es würde gewiss nicht schaden, wenn man sich wieder an die guten alten Zehn Gebote erinnern könnte.

Vor drei Jahren hat man die Banken durch höhere Staatsschulden gerettet, jetzt stehen Länder vor der Pleite. Wieder werden milliardenschwere Rettungsschirme aufgespannt. Führt dieses “Leben auf Pump” nicht zwangsläufig früher oder später zum System-Kollaps?

Jetzt sollen die Staaten die Banken, bei denen sie verschuldet sind, retten, nachdem die Banken die Staaten finanziell gestützt haben, die jetzt bei ihnen in der Schuld stehen. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Ausser man kommt zu der simplen Erkenntnis, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann als man einnimmt. Und dass man für seine Schulden, die auch mit moralischer Schuld zu tun haben, einzustehen hat. Hier müssen einzelne Banken und sogar einige Staaten den Offenbarungseid leisten. Wenn man ihnen das erspart, wenn sie keine Haftung mehr für ihre Entscheidungen übernehmen müssen, wird sich das Übel potenzieren. Strafe muss sein, damit man aus den Fehlern lernt. Jetzt versucht man krampfhaft, den Teufel mit Beelzebub, die Schulden mit noch höheren Schulden zu vertreiben. Das verdirbt die guten Sitten und führt unweigerlich zur Pleite.

Hinter dem Schuldenmachen steht der Glaube an immer mehr Wachstum. Ist dieser “Glaube” der eigentliche Irrtum?

Es wird Zeit, die “modernen” Ideologien vom ewigen, linearen Wachstum und vom permanenten Fortschritt auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Auf dem Felde der Politik wurden diese Ideologien seit längerem schon von der “Dialektik der Aufklärung” der Frankfurter Schule über den Haufen geworfen. Im Bereich der Wirtschaft ist dieser Wachstums- und Fortschrittsfetischismus leider immer noch virulent. Und es gibt sogar fortschrittsgläubige katholische Sozialethiker, die vom “Anschluss” an “die Moderne” faseln, wobei es mir beim Wort “Anschluss” kalt den Rücken herunterläuft, und es “die” Moderne überhaupt nie gegeben hat. Nirgendwo in der Natur – weder beim Menschen noch in der Umwelt – gibt es ein permanentes Wachstum, sondern ein Werden und Vergehen. Und man wird wohl nach der Qualität des Wachstums fragen müssen, schon aus ökologischen Gründen. Wachstum und Fortschritt einer Krebskrankheit sind nicht gerade wünschenswert.

Ist Wohlstand ohne Wachstum denkbar? Heisst das nicht zwangsläufig, künftig die eigenen Ansprüche deutlich nach unten zu korrigieren?

Nicht nur denkbar und zwangsläufig, sondern auch ganz natürlich, wenn man keine überzogenen Ansprüche hegt. Leider gibt es einen kaum stillbaren Hunger nach immer mehr. Den haben unsere Politiker mit ihren Verheissungen und Verlockungen geradezu herangezüchtet. Aber schon dämmert bei einigen Zeitgenossen die Erkenntnis: Weniger ist mehr. Es kommt auf die Qualität, nicht bloss auf Quantität an. Unsere quantitativen Wohlstandserwartungen sind nicht universalisierbar, und schon aus ökologischen Gründen nicht global wünschenswert. Wir müssen den Begriff des Wohlstands neu definieren.

Welchen Beitrag kann die Katholische Soziallehre leisten, um die Krise zu meistern?

Die katholische Soziallehre enthält kein Patentrezept zur konkreten Krisenbewältigung – wie sie uns auch kein Erfolgsmodell zur Produktivitätssteigerung unserer Wirtschaft und zur Sicherung ihrer Konkurrenzfähigkeit liefert. Was wir aber von ihr erwarten dürfen, ist die soziale Sinnerfüllung einer Marktwirtschaft, welche die freien Initiativen und Verantwortlichkeiten der Akteure koordiniert. Das läuft auf ein Ordnungsdenken hinaus, das das Chaos atomisierter Interessen einbindet in eine Ordnung, die alle individuellen Ansprüche zu einem gerechten Ausgleich bringt. Dazu müssen wir die klassischen Sozialprinzipien wieder neu entdecken und aktuell interpretieren. Ganz besonders das Subsidiaritätsprinzip, das europaweit völlig in Vergessenheit geraten ist.

Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden hat am Montag dieser Woche ein Papier zur internationalen Finanzkrise veröffentlicht. Darin wird eine grundlegende Reform des internationalen Finanzsystems sowie die Schaffung einer globalen Aufsichtsbehörde zur Regulierung der Kapitalmärkte gefordert. Die Gründung einer Weltbank mit weitgehenden Befugnissen müsse der erste Schritt auf dem Weg zu einer politischen Weltautorität sein, heisst es in dem Dokument. Eine gute Idee?

Eine Weltbank haben wir bereits. Leider ist sie nicht fähig oder bereit, nach ethischen Kriterien das globale Finanzsystem zu regulieren. Und wäre sie im Besitz dieser Wertkriterien, hätte sie kaum die Macht, sie in erzwingbares Recht umzuwandeln. Es fehlt schon an der nötigen moralischen Autorität, kulturübergreifende rechtliche Normen festzulegen. Die einzige weltweite, naturrechtlich-vernünftig argumentierende und zugleich religiöse Instanz ist die römisch-katholische Kirche. Leider fehlt es noch an der allgemeinen Anerkennung dieser Autorität.

In dem Dokument des Päpstlichen Rates wird auch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gefordert. Sicher hilfreich, um die Zockerei an den Börsen zu begrenzen, aber ist das international durchsetzbar?

Es können noch so gute Vorstellungen zur Dämpfung der hektischen Finanztransaktionen und zur Einschränkung der wilden Finanzspekulationen, die sich von der Realwirtschaft immer mehr entfernen, entwickelt werden. Eine Transaktionssteuer gehört gewiss dazu. Dass sie nicht unverzüglich von allen Staaten gleichzeitig eingeführt wird, ist keine Ausrede dafür, dass sie nicht schon mal von einzelnen Nationalstaaten eingeführt werden kann. Hier muss das gute nationale und europäische Vorbild Schule machen, und zwar weltweit.

Eine Antwort auf “Das Finanzsystem ist im freien Fall”

  • maralkos:

    Geld entsteht durch Schulden, durch einen Kreditvertrag oder eine Hypothek bei der Geschäftsbank beispielsweise. Geld wird also durch einen simplen Buchungssatz der Bank “erzeugt”. Geld ist niemals durch Gold gedeckt, sondern nur durch das Versprechen des Kunden, es mit Zins! zurückzubezahlen. Was wiederum unmöglich ist, ohne zusätzliche Schulden zu machen, denn woher sollen die Zinsen kommen?

    Die Zinsproblematik ist uralt, die Auswirkungen bekannt. Die Erzeugung von Geld aus nichts und damit die Zwangsverschuldung und Versklavung der Völker zeigt die perverse Dimension der Geldsteuerer dieser Welt. Dazu Mayer Amschel Rothschild (1744-1812): Lasst mich das Geld kontrollieren, dann ist mir egal, wer die Gesetze macht.

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