Wohin geht die Reise, ihr Lebensschützer?
Über die Zukunft des Lebensschutzes in der Ego-Gesellschaft
Sie haben gekämpft wie Löwen und doch klar verloren – diejenigen, die die Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland verhindern wollten. Ist das ein Grund zur Resignation? Über die Zukunft des Lebensschutzes in der Ego-Gesellschaft. Von Stefan Rehder
So viel Kampf gab es noch nie. Gut neun Monate Jahr lang warben mehrere Lebensrechtsorganisation gemeinsam mit anderen auf der Internetseite www.stoppt-pid.de für ein gesetzliches Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID), werteten wissenschaftliche Studien aus, widerlegten jedes der ohnehin eher schwachen Argumente der PID-Befürworter, bettelten bei Prominenten um Statements, begleiteten und kommentierten die Debatte in den säkularen Medien, die den Lebensrechtlern freilich nur äusserst selten einmal die Möglichkeit gaben, sich direkt an ihre Zuschauer, Hörer und Leser zu wenden. Sie demonstrierten vor dem Bundestag, organisierten Vortragsveranstaltungen, schrieben Briefe an Bundestagsabgeordnete und Redaktionen, verabschiedeten Stellungnahmen und Resolutionen.
Besucher des Internet-Portals www.abgeordnetencheck.de verschickten rund 70 000 E-Mail-Petitionen an die Abgeordneten ihres Wahlkreises und baten die gewählten Volksvertreter, im Bundestag für ein Verbot der PID zu stimmen.
Die Kirchen demonstrierten eine konfessionsübergreifende Geschlossenheit, wie sie selten – und in bioethischen Fragen noch nie zuvor – beobachtet werden konnte. Zahlreiche Bischöfe wandten sich gemeinsam und einzeln, persönlich und öffentlich an die Parlamentarier. Von einer gespaltenen Christenheit konnte bei der PID – anderes als noch bei der Frage nach dem Import embryonaler Stammzellen – keine Rede sein. Den Kirchen nahestehende Verbände und selbst Sozial- und Behindertenverbände, die auf Distanz zu den Kirchen und den überwiegend christlichen Lebensrechtlern bedacht sind, warben für ein umfassendes Verbot der Auswahl im Labor erzeugter Menschen. Erfolgreich war all’ das letztlich nicht. Die Messe wurde gelesen, das Gesetz, das die PID zulässt, verabschiedet.
Ist der Lebensschutz, so wird man angesichts der Tatsache wohl fragen müssen, dass der absichtsvoll im Labor erzeugte Embryo de facto jetzt genauso schutzlos ist, wie der unbeabsichtigt im Mutterleib gezeugte, am Ende? Sind die Lebensrechtler nun auf ganzer Linie gescheitert?
Welche Antworten nach Lage der Dinge auf diese Fragen zu geben sind, hängt ganz davon ab, was als Lebensschutz und was als Scheitern betrachtet werden muss. Eines ist aber ganz sicher: Ein wirksamer Schutz vorgeburtlichen Lebens oder treffender, des embryonalen Menschen, ist mit der Entscheidung des Bundestags zur PID in sehr weite Ferne gerückt worden.
Wer das für einen Fortschritt hielte, der offenbart damit nur, dass er – sofern überhaupt –, nur eine begrenzte Ahnung von Geschichte besitzt. Wer sich ein wenig darin auskennt, der fühlt sich in das antike Rom zurückversetzt, das zwar Bürger-, aber keine Menschenrechte kannte. Bis ins vierte Jahrhundert nach Christus legte man im Römischen Reich, das weder über die Möglichkeit der Pränatalen Diagnostik (PND), noch der PID verfügte, die Kinder nach ihrer Geburt dem “pater familias” zu Füssen. Nach römischem Recht besass dieser die “patria potestas” und damit die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Familie, zu der damals auch noch die verheirateten Söhne und deren Frauen, leibliche und angenommene Kinder sowie Sklaven und das Vieh zählten. Hob der pater familias ein Neugeborenes auf, war es in den Kreis der Familie aufgenommen, erhielt Nahrung, einen Namen sowie Erziehung und Bildung. Verweigerte der pater familias dagegen die Aufnahme – was nicht selten bei unehelichen, behinderten Kindern sowie Mädchen geschah – wurde das neugeborene Kind auf einem öffentlichen Müllplatz ausgesetzt. Dort fiel es entweder den Wölfen zum Opfer, starb ohne äussere Gewaltanwendung oder wurde – im besten Fall – von Fremden mitgenommen und als Sklave aufgezogen. Wie üblich diese Aussetzung der Neugeborenen war, bezeugt der sogenannte “Diogenetbrief”. In ihm skizziert ein unbekannter Verfasser das für die Römer völlig erstaunliche Leben der Christen und hebt dabei unter anderem hervor: “Sie heiraten wie alle anderen und haben Kinder, aber sie setzen ihre Neugeborenen nicht aus.”
Jetzt muss die Euthanasie auf Widerstand treffen
In den sich für zivilisiert haltenden Industrienationen, in denen die einst prägende Kraft des Christentums scheinbar unaufhaltsam schwindet, entscheiden mittlerweile die Frauen – nicht selten freilich gedrängt von den Vätern – darüber, ob sie ein Kind annehmen oder nicht. Aus Sicht der Frau, über deren Kopf und Herz Männer im antiken Rom hinweg nach Belieben entscheiden konnten – und es freilich nicht immer taten –, mag sowohl die Verlagerung der Macht, als auch die Verlagerung des Zeitpunktes – vor die Geburt bei der Abtreibung beziehungsweise vor die Nidation bei der PID – unter Umständen durchaus als Fortschritt betrachtet werden. Aus der Perspektive der Menschenrechte ist es jedoch – ebenso wie auch der Embryos – letztlich völlig unerheblich, wer vom Gesetzgeber ermächtigt wird, einem anderen das Recht auf Weiterleben zu verweigern und welcher Zeitpunkt dafür am besten geeignet zu sein scheint.
Bot der vom Embryonenschutzgesetz (ESchG) bis vor kurzem garantierte Schutz des Embryos in der Petrischale Lebensrechtlern noch die Hoffnung, bei der Abtreibungsgesetzgebung Korrekturen erreichen zu können, so sind diese durch die Zulassung der PID nun wohl zunächst zunichte gemacht. Dass letztlich die 70 Stimmen aus den Reihen der Christdemokraten den Ausschlag gaben – am Ende fehlten den Verbotsbefürwortern 66 Stimmen – schmerzt und verärgert viele sehr, auch wenn manch einer gleichfalls konstatiert, dass rund zwei Drittel der Unionsabgeordneten gegen die Zulassung der PID gestimmt haben; mehr als in jeder anderen Partei.
Und doch ist der Lebensschutz keinesfalls am Ende. Zunächst, weil er sich ja keinesfalls ausschliesslich auf den Schutz ungeborener Menschen erstreckt, auch wenn diese sich am wenigsten gegen die tödliche Verweigerung ihrer Annahme wehren können. Denn überall in Europa ist die Euthanasie gewaltig auf dem Vormarsch. Dass der 114. Deutsche Ärztetag Anfang Juni in Kiel nach langer Debatte noch einmal feststellte, dass sowohl die Tötung auf Verlangen als auch der assistierte Suizid unvereinbar mit dem Auftrag und Ethos des Arztes ist, ist sicher erfreulich – Grund zur Entwarnung ist es nicht. Wie wenig die Gefahr, dass auch bei uns die Euthanasie salonfähig wird, unterschätzt werden darf, vermag eine Einlassung Jacques Attalis zu verdeutlichen. Der ehemalige Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie Berater des früheren französischen Präsidenten Mitterand, schrieb einmal: “Nach 60 oder 65 lebt der Mensch länger als seine Arbeitskraft. Dann kostet er die Gesellschaft eine Menge Geld. (…) Es ist also vom Standpunkt der Gesellschaft aus besser, wenn die menschliche Maschine plötzlich stoppt, als wenn sie langsam verfällt (…) Euthanasie wird zu einem der wichtigsten Mittel unserer zukünftigen Gesellschaften werden.”
Sodann ist die Schlacht um den Schutz des Lebens ungeborener Menschen mit der Zulassung der PID ja keineswegs beendet. Dies schon deshalb nicht, weil ein Teil der PID-Befürworter noch ganz andere Pläne hat. Sie wollen das Embryonenschutzgesetz kippen und durch ein Fortpflanzungsmedizingesetz ersetzen, das dann etwa auch die Eizellspende und die Leihmutterschaft erlauben und die Laborzeugung von Kindern auch für Homosexuelle öffnen soll. Kinder sind, das muss man nüchtern feststellen, heute für viele längst keine “Gaben Gottes” mehr, die man annimmt, wenn und wie sie einem geschenkt werden, sie sind – oder eben auch nicht – Teil des persönlichen Lebensentwurfes und gehören gewissermassen, wenn auch häufig völlig unreflektiert, wie Urlaub, Autos, Handys oder Haustiere zum persönlichen Lifestyle.
Ein mehr an Lebensschutz durch Neuevangelisierung
Es geht daher auch an der Realität völlig vorbei, wenn wohlmeinende Kritiker den Grund für die Niederlagen, die die Lebensschutzbewegung in den vergangenen 30 Jahren bei der Abtreibung, der embryonalen Stammzellforschung und jetzt der PID hinnehmen mussten, in den Strukturen der Bewegung selbst erblicken zu können meinen. Es mag sein, dass die überwiegend ehrenamtlich agierenden Lebensrechtler mit Stäben aus hauptamtlichen Mitarbeitern ähnlich kampagnenfähig würden wie etwa die Homo-Lobby. Doch zeigt gerade das Beispiel der PID, dass auch mit kostspieligen Kampagnen kein Sieg errungen werden kann, wenn die “Gatekeeper”, also diejenigen Journalisten und Medienmanager, die über den Zugang zu TV-Sendern, Hörfunkkanälen und Verlagshäusern wachen, ihre Schotten dicht machen und die Botschaft, die ja nicht nach Belieben verändert werden kann, auf versteinerte Herzen und ausgetrocknete Hirne trifft.
Das strukturelle Problem des Lebensschutzes ist letztlich weder ein organisatorisches noch ein finanzielles, auch wenn sich hier durchaus manches verbessern liesse. Das strukturelle Problem besteht in der Herzens- und Gewissenskälte vieler Menschen. Menschen, die – sofern sie überhaupt noch einen Gottesdienst besuchen – dort auch nur ganz selten mit Fragen konfrontiert werden, wie man wohl als Christ dem “Geschenk des Lebens” zu begegnen hat. In einer Kirche, in der Pfarrer die Bitte um eine Predigt aus aktuellen Anlass zum Lebensschutz mit dem Satz: “Ich will mir den Saal doch nicht leerpredigen” beantworten und in einer Gesellschaft, in der Werber mit Texten erfolgreich sein können, wie “unter’m Strich zähl’ ich”, dort befinden sich all jene strukturell im Nachteil, die Einschränkungen fordern müssen, damit den Rechten anderer Geltung verschafft werden kann.
Wer die Lebensrechtsbewegung in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten begleitet hat, sei es als Beobachter, sei es als Teil von ihr, der weiss, dass hier trotz überwiegend ehrenamtlicher Strukturen eine enorme Professionalisierung stattgefunden hat, die längst alle Ebenen umfasst. Von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Aufklärungsarbeit in Schulen und Pfarreien, bis hin zum Einwerben von Spendengeldern.
Ein Mehr an Lebensschutz, der sich auch in Gesetzen niederschlägt, lässt sich daher nur durch eine Neuevangelisierung erreichen. Und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass das, was im antiken Rom gelang, in Deutschland unmöglich wäre. Bis dahin aber wird der Lebensrechtsbewegung nicht anderes übrig bleiben, als zu versuchen, den Vormarsch der “Kultur des Todes” zu bremsen und den Eintritt des Schlimmsten jeweils zu vermeiden oder zumindest zu verzögern.
Der.Unkultur.des.Todes.trotzen
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