Johannes Paul II.: Pastoralbesuch in der Schweiz

An die Vertreter aus der Welt der Kultur, 13. Juni 1984

5. An diesem Punkt möchte ich die Aufgabe betonen, die bei dieser Integration der Philosophie und insbesondere der Seinsphilosophie zukommt. Seit der Gründung ist die Universität Freiburg durch viele Metaphysiker berühmt geworden. Ebenso möchte ich kurz an das erinnern, was ich bei Gelegenheit der Hundertjahrfeier des Todes von Albert Einstein gesagt habe. Die Konflikte, die ehemals daraus entstehen konnten, dass religiöse Instanzen auf die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse einwirkten, liegen nicht in der Natur von Verstand und Glauben und sind nunmehr überholt. Sollten sie wieder auftreten, dann ist ein Dialog, der frei ist von dem Verstand fremden Leidenschaften und bereit, sich vor den Pressionen einer nur oberflächlich informierten und auf die Tragweite wissenschaftlicher Probleme oft wenig bedachten öffentlichen Meinung streng abzusichern, am ehesten imstande, die aufgetretenen Fragen zu klären und eine mögliche Konvergenz der Wahrheiten zu entdecken. Zwischen den Ergebnissen der Wissenschaft, dem Werk des Verstandes, und den Aussagen des Glaubens dürfte es also keinen Gegensatz geben. Selbstverständlich kann und soll die Theologie, die in wissenschaftlicher Weise den “intellectus fidei”, das “Verständnis des Glaubens”, erarbeitet, im Rahmen einer Universität wie der Ihrigen einen wesentlichen und entscheidenden Beitrag für die genannte Integration des Wissens leisten.

Die Kultur der Gegenwart, gekennzeichnet durch eine Anhäufung von Einzelwissen, das in einer lebendigen und sinnvollen Einheit zusammengefasst werden muss, braucht diese Weisheit, wie sie vom griechischen Denken ererbt und im Licht des Evangeliums vertieft worden ist. Wenn das Wissen zu den höchsten Wirklichkeiten hinführt und versucht, von hier aus die anderen Seinsbereiche zu beurteilen, dann wird solches Wissen zu Weisheit. Indem diese alle Dinge im Licht der höchsten Prinzipien ordnet, gibt sie den Einzelerkenntnissen ihre wohlgegliederte Einheit und ihren wahren Sinn. Darum ist die Weisheit eine wahre Schöpferin von Kultur, und nur durch sie wird der Forscher zu einer wahrhaft geistigen Persönlichkeit. Ich wünsche mir, dass die Freiburger Universität solche Gelehrte hervorbringe und forme, die unsere Zeit, die geprägt ist von der Wissenschaft und ihrer Anwendung, so nötig braucht.

6. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine letzte Überlegung. Sie betrifft die Freiheit. Ein bedeutender Ort des Wissens und der Kultur muss in gleicher Weise ein bedeutender Ort der Freiheit sein. Wegen ihrer Verwurzelung in Geist und Vernunft sollte diese Freiheit sich nicht als schrankenlose, willkürliche Kraft verstehen. Frei ist der Mensch, der imstande ist, sich nach dem Massstab höchster Werte und Ziele zu entscheiden. Sie erinnern sich gewiss an jenes kraftvolle Wort des Evangeliums: “Die Wahrheit wird euch befreien” (Joh 8, 32). Der Mensch, der die Wahrheit findet, entdeckt dabei zugleich die Grundlage seiner Vollkommenheit und Selbständigkeit.

Von einer ähnlichen Überlegung her ist es leicht zu verstehen, dass die Wissenschaft nur dann wirklich frei ist, wenn sie sich von der Wahrheit bestimmen lässt. Darum sollte wissenschaftliches Wirken nicht so sehr abhängen von unmittelbaren Zielen, von gesellschaftlichen Ansprüchen oder wirtschaftlichen Interessen. So ist Forschungsarbeit ein grundlegendes Gut, auf das die Universitätsgemeinschaft zu Recht sorgfältig bedacht ist. Ausschliesslich geleitet von den strengen Regeln seiner Methode und vom rechten Gebrauch seines Verstandes, weist der Gelehrte bei seiner Forschung alle Faktoren zurück, die ihn von aussen her beeinflussen wollen, das heisst, die nicht zum Gegenstand seiner Forschung gehören. Damit jedoch sein Wirken voll glaubwürdig sei, muss der Forscher anderseits bei seiner Arbeit jene Anforderungen respektieren, die sich aus der eigenen Logik von Wissenschaft überhaupt ergeben. Ich nenne hier die Treue zu jener Wirklichkeit, die erforscht werden soll, eine stetige Selbstdisziplin und Freiheit von selbstsüchtigen Interessen, Bereitschaft zu Zusammenarbeit, die dazu führt, die eigenen Forschungsergebnisse mit denen von Kollegen zu vergleichen und sie eventuell sogar in Frage zu stellen, wenn sie mit Kompetenz kritisiert werden. Und wenn es sich um theologische Forschung handelt, umfasst die genannte Treue zum Forschungsobjekt vor allem die Treue zu jener Wahrheit, die von Gott kommt und der Obhut der Kirche anvertraut ist.

Ich darf hier mit Freude feststellen, dass sich eine wachsende Zahl von Gelehrten und Forschern von hohem Niveau und mit besonders klarem Blick für die Belange dieser Welt ihrer ethischen Verantwortung für das politische und menschliche Zusammenleben sowie auch – wenn sie Christen sind – für die kirchliche Gemeinschaft immer mehr bewusst werden.

So macht die Freiheit den Gelehrten offen und bereit für die Wahrheit – und die Wahrheit, die er begreift und deutet, begründet ihrerseits seine Freiheit. Diesen freien Zugang zur Wahrheit zu erhalten, das gehört zur Verantwortung der Wissenschaftler und zur Grösse ihrer Berufung.

7. Mögen diese meine Worte alle Mitglieder der grossen Universitätsfamilie von Freiburg und ihre heutigen Gäste in ihrem jeweiligen Wirken ermutigen und mit Zuversicht erfüllen! Das ist mein aufrichtiger Wunsch für Sie alle, ganz besonders aber für euch Studenten. Und warum? Weil es euch bereits jetzt – und morgen noch mehr – zukommt, die Zivilisation der Jahrzehnte, die am Horizont sichtbar werden, mitzugestalten. Auf örtlicher, nationaler und weltweiter Ebene werdet ihr darauf zu achten haben, dass die Person des Menschen in allen Bereichen seiner Existenz Sicherheit und Entwicklung erfährt.

Noch einmal danke ich Ihnen sehr herzlich für den freundlichen Empfang, den Sie mir gewährt haben, und empfehle Sie alle und jeden einzelnen mit Ihren Aufgaben an Gott, den Herrn der Geschichte.

© Copyright 1984 –  Libreria Editrice Vaticana

Quelle: Päpstliche Akademie der Wissenschaften
100-Jahre Albert Einstein

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