“Das Land verteidigen”

Hoffnung auf NATO und Europäische Union

Grosserzbischof Sviatoslav Schevtschuk, das Oberhaupt der mit Rom unierten Ukrainer, lehnt eine Aufgabe der Krim ab und hofft auf NATO und Europäische Union. Von Stephan Baier.

Die Tagespost, 14. März 2014

Die griechisch-katholische Kirche war bei den Protesten gegen das Regime Janukowitsch auf dem Maidan immer präsent. Warum hat sich Ihre Kirche so klar positioniert?

Die Kirche stellt sich nicht auf die Seite eines kleinen Teils der Gesellschaft oder einer politischen Partei. Der Auftrag der Kirche besteht darin, die spirituellen Werte, die ewigen Wahrheiten zu bezeugen.

Nicht nur unsere Kirche, sondern der gesamte Rat der Kirchen und religiösen Vereinigungen, hat gespürt, dass die Menschen auf dem Platz nicht einer Partei angehörten, nicht nur einen Teil der Gesellschaft repräsentierten, sondern die gesamte Bevölkerung. Ihre Forderungen waren moralische Forderungen. Die Menschen haben auf den absoluten Wert der menschlichen Würde hingewiesen, haben gegen die Korruption protestiert, gegen die Lüge. Sie wollten zeigen, dass sie die europäischen Werte, die von der Sozialdoktrin der Kirche bekräftigt werden, als fundamentale Werte sehen, auf denen sie ihre Gesellschaft aufbauen wollen. Auf eine unserer Sendung entsprechende Weise haben wir als Kirche die Legitimität dieser Forderungen bekräftigt. Unsere Präsenz unter den Menschen war auch eine ökumenische Präsenz. Die Kirchen in der Ukraine sind Teil der Zivilbevölkerung. Vor allem die katholische Kirche war stets Mutter und Lehrmeisterin der Bevölkerung. Wir versuchen, das gesellschaftliche Bewusstsein im christlichen und moralischen Sinn zu erziehen. Als das Volk auf die Plätze drängte, haben wir gespürt, dass wir ihnen geistlichen Beistand leisten müssen. Die Menschen sind dorthin gegangen, weil sie der Stimme ihres Gewissens gefolgt sind. Unsere Priester sind ihnen gefolgt, um ihre moralischen Forderungen zu unterstützen.

Der “Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften” hat viele gemeinsame Stellungnahmen abgegeben. Wurde in dieser Krise eine neue Ökumene sichtbar?

Ja. Die Kirchen und religiösen Vereinigungen haben sich in ihrem Handeln zusammengeschlossen. Wir sind als Boten des Friedens aufgetreten. Wir haben gesehen, dass es keinen Dialog zwischen der staatlichen Macht und den Menschen gab, dass es an Verständnis fehlte. Je mehr die Leute protestierten, desto deutlicher wurde die fehlende Bereitschaft der Regierung, zuzuhören. Wir waren besorgt über diesen Mangel an Dialog. Schon bevor es zu blutigen Ausschreitungen kam, wollten wir einen Dialog vermitteln, um Blutvergiessen zu vermeiden. Als Rat waren wir Zeugen des Sittengesetzes, der moralischen, auch christlichen Werte, auf denen die Gesellschaft aufgebaut sein sollte. Folglich waren wir in der Krise Sprachrohr des Ökumenismus, was moralische und ethische Werte anbelangt.

Die Orthodoxie des Moskauer Patriarchats schien einen konträren Weg zu gehen.Ich bin nicht so kategorisch. Gerade in dieser Zeit hat die Kirche des Patriarchen von Moskau den Vorstand des Rats der Kirchen in der Ukraine geführt. Ihr Primas hat die gemeinsamen Erklärungen unterschrieben. Daher war auch die ukrainische Kirche des Patriarchen von Moskau “eine von uns”. Natürlich gibt es in dieser Kirche Bischöfe, die andere Positionen einnehmen. Einige haben offen Partei für den Präsidenten ergriffen, andere standen auf Seiten des Volkes. Man muss erkennen, dass die ukrainische Kirche des Patriarchen von Moskau in ihrer eigenen Herde die Sendung des Friedensvermittlers eingenommen hat. Unter dem Fall von Janukowitsch leiden sie, da einige während der Wirren diese Kirche ins Visier genommen und ihre Spitze beschuldigt haben, mit Janukowitsch zusammenzuarbeiten. Da waren Momente der Unklarheit, die von Emotionen bestimmt waren. Die Wirklichkeit ist komplexer.

Was erwarten Sie von der neuen Regierung?

Wir hoffen, dass es der neuen Regierung gelingt, die Gesellschaft zu versöhnen und sich zur Sprecherin für die Einheit des Landes zu machen. Es gibt Versuche, den östlichen Teil der Ukraine zu destabilisieren. Aus Russland kommen viele Gruppen, die versuchen, diesen Teil der Ukraine gegen die Regierung aufzubringen. Die Regierung muss darauf achten, dass sie die Wünsche aller Regionen berücksichtigt und mit ihrer Politik für Eintracht in der Ukraine sorgt. Wir hoffen auch, dass sie mit ihrer Arbeit die Idee der eben erfolgten Revolution der Würde richtig darzustellen weiss, damit die Welt die Wahrheit über die Ukraine erfährt. Der dritte Punkt besteht darin, das Land zu verteidigen: Jetzt, wo nach den Aggressionen der russischen Armee auf der Krim eine militärische Intervention Russlands droht, ist es notwendig, das Land zu verteidigen.

Kann die Ukraine um des Friedens willen auf die Krim verzichten?

Die Krim zu opfern würde heissen, die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine zu opfern. Es würde auch heissen, die Gesetze des Zusammenlebens auf internationaler Ebene zu opfern, die Garantien zu opfern, die die westlichen Länder der Ukraine gegeben haben, als sie auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichtet hat. Daher denke ich, dass die Diskussion über die Krim eine Diskussion über die Wahrheit ist. Sie bedeutet, die Stabilität der Rechte sowie die Versprechen zu garantieren, die die G-8 oder G-7-Mächte der Welt geben. Ich denke, dass man die Krim nicht opfern darf, denn das würde heissen, den Frieden auf der ganzen Welt zu opfern. Die Entwicklungen sind besorgniserregend. Man sieht, dass eine Halbinsel, die ein Ferienziel für alle Länder der ehemaligen Sowjetunion war, ein geschlossenes Militärgebiet wird. Viele Menschen fühlen sich bedroht, nicht nur die Tataren. Wer Ukrainisch spricht, wird von paramilitärischen Gruppen als Extremist oder Faschist angesehen. Die Krim sollte entmilitarisiert werden, damit die wachsende Spannung auf friedliche, diplomatische Weise gelöst werden kann. Hoffen wir, dass es nicht zu Blutvergiessen kommt.

Was unternehmen die Konfessionen, um die Ukraine in dieser Phase zu stabilisieren?

Wir verfolgen unsere Sendung als Vermittler des Friedens. Jeder predigt in seiner Gemeinschaft den absoluten Wert der Brüderlichkeit, der Versöhnung. Die russische Propaganda versucht, Hass zu schüren, Muslime gegen Orthodoxe, Russen gegen Ukrainer aufzubringen. Doch wir predigen Eintracht und Brüderlichkeit. Aktuell haben wir an einem Projekt mit dem Titel “Die Ukraine ist eine einzige Nation und ein einziges Land” teilgenommen. Dabei haben wir alle – Christen, Muslime, Juden – über den Wert der Einheit des Landes und des Friedens untereinander gesprochen. Wir versuchen alles, was in unseren Kräften steht, denn der Frieden, der Dialog ist die einzige Lösung für diese Krise.

Was erhoffen Sie sich vom Westen?

Ich denke, dass die EU unter allen Umständen versuchen sollte, den diplomatischen Dialog zwischen der Ukraine und Russland zu fördern. Wir bedauern, dass Moskau die Legitimität unserer Regierung nicht anerkennen will. Daher sind internationale Kontakte wichtig, die darauf hinweisen, dass unsere Regierung nicht nur gut und fähig, sondern auch rechtmässig ist. Wir hoffen auch, dass die EU und die NATO die Ukraine im Falle einer militärischen Bedrohung verteidigen werden. Diese Sicherheit ist sehr wichtig. Unserer Meinung nach wäre es wünschenswert, die Ukraine zur No-fly-Zone zu erklären, damit keiner in Versuchung gerät, die Ukraine zu bombardieren oder eine Militärintervention zu beginnen. Wir müssen alles tun, damit es nicht zu einem neuen Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommt. Wir müssen auch für den Frieden beten. Jesus Christus ist der Fürst des Friedens. Wir hoffen, dass unsere Gebete und unser Handeln den Versuchen, den Frieden zu zerstören, entgegenwirken können. Ich denke, dass der Friede nicht nur in der Ukraine, sondern in ganzen Welt ein absoluter Wert ist, auf dem das Zusammenleben aller Nationen aufgebaut ist.

Übersetzung aus dem Italienischen von Claudia Reimüller.

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