Ein philosophischer Blick auf Papst Benedikt XVI.
Am Dienstag wird Benedikt XVI. 86 Jahre alt
Die Tagespost, 12. April 2013
Ein guter Anlass, um an die geistigen Grundlinien im Denken des emeritierten Papstes zu erinnern Von Hans Otto Seitschek
Joseph Ratzinger wandte sich bereits in seinem Studium in Freising und München den grossen, klassischen Themen christlicher Theologie zu.
Die Philosophie, Hauptinhalt seiner ersten beiden Studienjahre in Freising, ist auf den ersten Blick weniger zentral im Denken des emeritierten Papstes. Dennoch ist ein Blick auf das Werk und Wirken des Ratzinger-Papstes auch aus philosophischer Perspektive sehr lohnend.
Drei Themen sind dabei von besonderer Relevanz:
1. Die Kritik am Relativismus.
2. Die Notwendigkeit des Wahrheitsbezugs und des öffentlichen Vernunftgebrauchs.
3. Die Rückbesinnung auf die Naturphilosophie.
Erstens: In seiner Predigt in der Heiligen Messe vor dem Konklave, aus dem er als Papst hervorging, sprach der damalige Kardinal Ratzinger die Gefahr des Relativismus unumwunden an. Er sprach sogar von der “Diktatur des Relativismus”, die es nicht mehr erlaube, zu einem wahren Urteil, ja überhaupt zu einem Urteil zu kommen. Es ist wichtig, dabei zu bemerken, dass es nicht gegen einen Pluralismus im Sinne eines Wettstreits verschiedener Positionen und Strömungen um die Wahrheit geht. Das Ringen um die Wahrheit bleibt dem Menschen stets als Aufgabe gegeben. Im Gegensatz zu einem solchen Pluralismus, der stets die Wahrheit sucht, bleibt der Relativismus jedoch bei der Vielheit der Positionen stehen und geht den Schritt zu wahren Position nicht weiter. Der Relativismus diktiert gewissermassen ein frühes Aufgeben des Ringens um die Wahrheit und ein Verbleiben in einer unübersichtlichen und letztlich fruchtlosen unentschiedenen Vielheit. Damit ist der Schritt zur Wahrheit, aber auch der Schritt zu wahrer Erkenntnis und damit zu einem Fortschritt im besten Sinne nicht mehr möglich.
Zweitens: Eng mit dem Relativismusproblem verbunden ist die Notwendigkeit des Wahrheitsbezugs. Die Wahrheit manifestiert sich für Platon in den ewigen und unveränderlichen Ideen, an denen unsere sinnlich wahrnehmbare Welt Anteil hat. Bei Augustinus, einem der Hauptbezugsautoren für den Papst, übernehmen die Gedanken Gottes die Rolle der platonischen Ideen. Die Wahrheit ist damit personal in Gott zu finden, der selbst ewig und unwandelbar ist.
Papst Benedikt XVI. hat mehrfach betont, dass der Mensch ein wahrheitsfähiges Wesen ist. Ein Wesen, das mit Hilfe der naturgegebenen Vernunft zwischen wahr und falsch, gut und böse unterscheiden kann, sich darin aber auch immer wieder üben muss. Nicht zu Unrecht sprach Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem Bundestag am 22. September 2011 vom “hörenden Herz” (1 Kön 3, 9), das sich der junge Salomon von Gott für sein Wirken als König erbittet. Das Herz ist im Hebräischen (lev) auch Sitz des Verstandes.
Durch das hörende Herz als Ausprägung der natürlichen Vernunft wird der Mensch wahrheitsfähig, aber auch empfänglich für das Gute und Schöne. Doch der Mensch muss sich in der Erkenntnis üben und sich offen für die Wahrheit zeigen. Er ist fehlbar und hat einen endlichen Geist. Der Mensch muss sich stets um die Wahrheit bemühen, gewissermassen zum Philosophen, zum “Liebhaber der Weisheit (philosophos)” werden.
Kein Mensch kann vordergründig die Wahrheit für seine Positionen und Aussagen in Anspruch nehmen. Er muss mit guten Gründen darlegen, dass seine Position wahr ist. Dieses Darlegen von Gründen ist im Kern philosophisch, es kann und soll in manchen Fällen sogar öffentlich geschehen. Für einen solchen öffentlichen Vernunftgebrauch setzte sich Benedikt XVI. nachhaltig ein. Glaube und Vernunft sind aufeinander bezogen. Auch dies ist ein bekannter Grundgedanke des Papstes. Für den Glauben lassen sich auf der Basis natürlicher Vernunft gute Gründe angeben, Gründe, die auch einem Nichtgläubigen verstehbar gemacht werden sollen, eben durch einen öffentlichen Austausch, einen öffentlichen Vernunftgebrauch.
Jürgen Habermas zufolge sollen Gläubige Grundsätze ihres Glaubens, aber auch Gründe für ihre religiöse Haltung in der Weise veranschaulichen, dass sie auch Nichtgläubige mit Gewinn verstehen können. Andererseits sollen sich auch religiös Unmusikalische diesen Aussagen gegenüber aufgeschlossen zeigen, sofern sie im Rahmen der natürlichen Vernunft verstehbar sind. So sind die Katechesen und Ansprachen des Papstes nie nur innerkirchliche Verständigungsprozesse gewesen, sondern immer an alle Menschen gerichtet, die guten Willens sind, diese Botschaft zu verstehen und bestenfalls für sich umzusetzen.
Dem argumentativen Austausch mit Nicht- oder Andersgläubigen mass Benedikt XVI. dabei immer einen hohen Stellenwert zu. Ein Ideal, das sich in ähnlicher Form bereits bei Platon in den sokratischen Dialogen als Weg zur Wahrheit finden lässt, wie es auch der von Benedikt XVI. sehr geschätzte Philosoph Josef Pieper betont. Drittens: Der Gedanke des hörenden Herzens leitet zum dritten wesentlichen Punkt über – der Rückbesinnung auf die Naturphilosophie. Damit meinte der Papst nicht eine naive “grüne Weltanschauung”, sondern einen Bezug auf das Sein, das uns gegeben ist und dem wir gegeben sind. Dieses Sein ist strukturiert. Es ist Natur in dem Sinne, dass es ein dynamisches Sein ist, das hervorbringt und vergehen lässt, doch nicht nach Willkür, sondern in in sich strukturierten Abläufen, in die der Mensch kraft seiner Vernunft Einsicht gewinnen kann. Das erfolgreiche Feld der Naturwissenschaften tut sich hier auf. Jedoch ist der Mensch selbst Teil der Natur. Benedikt konnte deshalb vor dem Bundestag 2011 treffend von der “Ökologie des Menschen” sprechen. Zu dieser Natur des Menschen gehört auch seine soeben erwähnte natürliche, naturgegebene Vernunft.
Durch sie kann der Mensch Einsicht in seine und die ihn umgebende Natur gewinnen. Die Vernunft ist dabei nicht ein blosses “Ableseorgan”, sondern sie ist immer auch schöpferisch in dem Sinne, dass der Mensch vor und für die Natur, also auch für sich selbst, eine Verantwortung trägt, die er nicht abschütteln kann. Der Selbstbezüglichkeit in diesem Naturbezug entgeht der Mensch dadurch, dass er sich in den Ergebnissen seines Denkens immer an einer objektiv gegebenen Wirklichkeit messen lassen muss.
Die Natur ist, wie gesagt, dem Menschen gegeben und umgekehrt er auch ihr. Weder macht der Mensch sich selbst, noch macht er seine Umwelt. Die Natur ist also nicht Produkt des Menschen, sondern umgekehrt: der Mensch wird auf natürliche Weise Mensch, er wird geboren. Mit Romano Guardini, einem Autor, den der Papst bis zuletzt zitierte, muss sich der Mensch als gegeben annehmen, gewissermassen als ein Geschenk, das von einem Höheren stammt, ebenso wie die Natur, in die der Mensch eingebettet ist. Da die Natur nach Aristoteles belebtes, selbstbewegtes Sein ist, muss auch der, der sie gegeben, geschaffen hat, ein Lebendiger sein. Die Natur ist kein Produkt eines mechanischen Vorgangs, sondern Schöpfung eines lebendigen, vorsehenden und liebenden Höchsten, also Gott. So finden auch die Entwicklungen in der Natur im Rahmen dieses strukturierten Seins statt.
Es ist deshalb durchaus korrekt, von “Entwicklungen als” zu sprechen, eher als von “Entwicklungen zu” etwas, da das jeweilige Ziel der Entwicklung schon in der Struktur des natürlichen Seins grund- und angelegt ist. Jeder menschliche Eingriff in die Natur muss vor diesem Hintergrund geprüft und verantwortet werden.
In der Rückbesinnung auf eine Naturphilosophie dieser Prägung, die von Aristoteles ausgeht und bei Thomas von Aquin ihre christliche Kontextualisierung erfährt, hat eines der Hauptanliegen Benedikts XVI., die Entfaltung des Menschen gemäss seiner Natur als Geschöpf Gottes, seine philosophische Basis. Obwohl er unzweifelhaft mehr Theologe denn Philosoph ist, lassen sich also bemerkenswert klare philosophische Grundlinien im Denken und in der Verkündigung des emeritierten Papstes finden, die um die Begriffe Glaube, Wahrheit, Vernunft und Natur ihre Argumente aufbauen.
Zeichen für den philosophischen Eros von Benedikt XVI. mag auch sein, dass der erste Philosoph, den er in seiner ersten Enzyklika, “Deus caritas est“ (2005), zitiert hat, der Religionskritiker Friedrich Nietzsche ist. Entgegen dem Vorwurf Nietzsches, das Christentum habe den Eros mit moralinsaurem Gift verdorben (vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, IV, § 168), verdeutlichte der Papst, dass das Christentum im Gegenteil den Eros im antiken Sinne zur personalen Transzendenz im christlichen Sinne hin öffnet.
Nicht zuletzt dieses Zitat ist als eines der philosophischen Vorzeichen des zu Ende gegangenen Pontifikats zu sehen, das den Dialog zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen auf der Basis natürlicher Vernunft als zentrale Aufgabe christlicher Verkündigung ansah. Möge dies ein Schwerpunkt päpstlicher Verkündigung bleiben.
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