Gottesbeweis: Der Geist über den Wassern

Was tut ein Philosoph auf einer siebentägigen Atlantiküberfahrt? Er lässt sich von der Weite des Meeres inspirieren und begibt sich in die Tiefe des Nachdenkens

Quelle
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde | Distrikt Österreich

13.07.2025

Günther Seubold

Kann man auf einem Ocean Liner mit mehr als 2 000 Passagieren auch für sich sein? So ganz allein? Angesichts des Meeres, der weiten Wüste des Wassers und des hohen Himmels: Kann man da auch zu neuen Gedanken kommen, vielleicht sogar meditieren? Man kann. Und man kann es nicht nur hinter verschlossener Kabinentür, sondern auch an Deck: gehend, sitzend, liegend.

Kaum zu glauben, aber es gibt Zeiten, da ist man allein auf dem Deck. In der Dämmerung, des Nachts oder auch frühmorgens, bereits bei lichtem Tag. Die Unendlichkeit des Wassers ruft dann die Stimmung des Erhabenen auf. Denn die Weite des Atlantiks ist sinnlich nicht zu fassen. Sie verweigert Einheit und Ganzheit. Man kommt ins Staunen, genießt und fürchtet diese mentale Irritation, ja man erlebte eine leichte Erschütterung – und genau das ist der Beginn der philosophischen Besinnung. Die Weite des Atlantiks ist aber nicht nur verweigernd, sie ist auch und vor allem gewährend: Sie schenkt Stille und Leere, wie sie für Besinnung und Meditation gefordert werden.

“Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern”

Für christlich Kulturalisierte und mit der Bibel Aufgewachsene fällt einem da als Erstes der erhebende Satz ein: “Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.” Die Schöpfungsgeschichte wird erinnert, der Anfang von allem. Man erlebt den ersten Tag, wenn man sich nachts an Deck begibt. Dann gilt: “Finsternis lag über der Urflut.” Nach einiger Zeit, so sitzend und meditierend, sehnt man sich nach dem: “Es werde Licht!” Und siehe da: “Es wurde Licht.” Man sieht nicht nur, man erfährt und erlebt intensiv, dass das von Gott geschaffene Licht gut ist, wie es ja auch damals, am allerersten Tag, “gut war”. Und wir nennen, wie könnte es anders sein, das Licht “Tag” und die Finsternis “Nacht”. “Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.”

So einfach und übersichtlich begann alles im Ursprung. So einfach und übersichtlich kann auch die Reise über den Atlantik beginnen. Der Schöpfer der Welt begann mit der Unterscheidung, und auch wir Heutigen sollten wieder zu unterscheiden lernen. Wer der heutigen Zivilisation mit ihren aufdringlichen Sinnesreizen und überfordernden Angeboten, Aufgaben und Pflichten müde ist, der sollte den Ursprung meditieren. Er würde wieder zu Klarheit kommen, Klarheit mit sich selbst und mit der Welt, weil er Klarheit über Tag und Nacht gewonnen hat.

Wenn jedem Anfang ein Zauber innewohnt – daran werden wir auf dem Festland doch so oft mit dem bekanntesten Hermann-Hesse-Vers erinnert –, dann ist der Zauber des Anfangs der Reise, der mit dem biblisch erzählten allerersten Anfang zusammenfällt, an Zauber nicht zu überbieten. Er ist kaum noch zu fassen. Er übersteigt uns. Er übersteigt uns ins Unendliche.

Göttliche Unendlichkeit oder der säkulare Zauber des Wassers

Freilich: Wir Heutigen werden da von Zweifeln geplagt, wir halten uns für zu reflektiert, um uns diesem Ursprungs-Zauber, der biblisch als Tat Gottes bezeugt ist, hingeben zu können. Und man muss nicht zwölf Semester Philosophie studiert haben, wenn einem – mit dem Erscheinen anderer frühaufstehender Mitfahrender an Deck – ein destruktiver Gedanke in die Parade fährt: “Früher sagte man Gott, als man auf ferne Meere blickte.” Ja, früher! Früher waren solche Assoziationen noch möglich – aber heute im wissenschaftlich-säkularen Zeitalter?

Doch selbst der Pfarrers-Sohn Friedrich Nietzsche, von dem der Satz stammt und der sich aufgrund der christlichen Tugend der Wahrhaftigkeit zur Gottesleugnung zwang, muss noch etwas verspürt haben von der immateriellen und göttlichen Unendlichkeit, die die Weite des Meeres hervorruft – vom Geist, der über den Wassern schwebt. Sonst wäre er nicht auf diesen Satz gekommen.

Auch die säkulare Welt verweist auf die Gotteswelt, wenn für viele auch nur in der Form der Negation. Doch jede Negation bezieht sich auf das, was sie negiert, wäre ohne dieses nicht denkbar. Der säkulare Zauber des Wassers, der, wie man bei Nietzsche sehen kann, im Abendland doch immer auch auf den biblisch bezeugten Zauber verweist, ist vielfach dokumentiert.

Psychologie eines Wasser- und Meeresliebhabers

Thomas Mann schrieb in “Der Tod in Venedig” (1912) über den Protagonisten Gustav von Aschenbach: “Er liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der von der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des Einfachen, Ungeheuren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen, seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und eben darum verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts. Am Vollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um das Vortreffliche müht; und ist nicht das Nichts eine Form des Vollkommenen?”

Besser kann man die Psychologie des Wasser- und Meeresliebhabers nicht fassen. Und besser kann man – mit dem Begriff des “Ewigen” – den Bezug zur Genesis im biblischen Sinne nicht herstellen. Diese Auffassung entsprach wohl auch Thomas Manns eigener Künstlerpersönlichkeit. In der autobiographisch geprägten Novelle “Herr und Hund” heißt es: “Für meine Person bekenne ich gern, dass die Anschauung des Wassers in jederlei Erscheinungsform und Gestalt mir die weitaus unmittelbarste und eindringlichste Art des Naturgenusses bedeutet, ja dass wahre Versunkenheit, wahres Selbstvergessen, die rechte Hinlösung des eigenen beschränkten Seins in das Allgemeine mir nur in dieser Anschauung gewährt ist.”

Genau damit ist die generelle Form aller Meditation beschrieben, gleichgültig ob christlich oder zen-buddhistisch oder auch nur auf “Achtsamkeit” ausgerichtet: Aufgabe des eigenen beschränkten Seins, um dadurch im Allgemeinen aufzugehen, nicht, um sich darin auszulöschen, sondern um sich, wie Nietzsche formulierte, “für ein Weilchen” zu verlieren, um sich umso nachdrücklicher und auf einer höheren Ebene zu finden.

Faszinierend unscheinbare Stille des Wassers

Die Atlantik-Überfahrt von Southampton nach New York dauert sieben Tage. Aber wer Angst hat, die Wasserwüste über sieben Tage hinweg nicht ertragen zu können, dem sei versichert: Es gibt genügend Ablenkung auf diesem Schiff. Ja, man hat durchaus den Eindruck, dass nicht wenige der Zeitgenossen diese Sieben-Tage-Überfahrt dem Sieben-Stunden-Flug vorziehen, weil sie genau diese Abwechslung suchen: ein volles Unterhaltungsprogramm, sehr gute Verpflegung, großzügige und gepflegteste Räumlichkeiten, Schwimmbäder, Saunen, Speisesäle, Bars, Geschäfte.

Aber zumindest für einige der Reisenden bleiben das Meer und der Himmel die größten aller Attraktionen. Wasser und Himmel – ganz ohne Werbung kommen sie daher, unscheinbar, still. Aber in dieser Stille können sie für den, der sie aufzunehmen versteht, eine Wucht erzeugen, die ihm die Lust am gewöhnlichen Sehen und Hören, an den mit viel Aufwand gemachten “Shows” und “Events” des Unterhaltungsprogramms, austreibt.

Die sieben Tage auf dem Schiff haben wohl für jeden Passagier etwas Entspannend-Gleichförmiges an sich. Spätestens mit dem vierten Tag spielt sich eine gewisse Routine ein: Man kennt das Schiff, man kennt einige Mitreisende, und man lernt vielleicht auch sich selbst ein wenig besser kennen. Daher ist man bei der Ankunft in New York nicht nur erfreut und überrascht über die wunderbare Einfahrt in den Hafen, die den Blick auf die Skyline Manhattans freigibt, sondern zugleich auch ein wenig betrübt, dass diese Tage schon vorüber sind. Denn die Reise zurück in das gute alte Europa erfolgt dann bei den allermeisten Schiffsreisenden mit dem Flugzeug.

Der Autor ist emeritierter Professor für Philosophie. Zuletzt erschien von ihm “Bergsteigen – Eine Philosophie des Lebens” (Tyrolia, 2025).

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