Ein Ende der Diktatur ist noch nicht Freiheit

Ohne Sinn für Menschenwürde und Gemeinwohl bringen Wahlen weder Freiheit noch Bürgerrechte. Jedenfalls nicht für Minderheiten

Quelle

12.12.2024

Stephan Baier

Die weitverbreitete Freude über das Ende der Assad-Diktatur ist verständlich, der Jubel über die vermeintlichen Befreier jedoch weit weniger. Zu stark prägt der Mythos der Wendejahre ab 1989 das Bewusstsein vieler Zeitgenossen: Damals krachten die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa zusammen, Freiheit brach sich Bahn, lange unterdrückte Menschen bauten – mit tatkräftiger Hilfe der EU – demokratische Rechtsstaaten auf.

Es war eine wahre Sternstunde der Geschichte, die Europa freier, demokratischer, menschenwürdiger, also europäischer gemacht hat. Zwei Fehlschlüsse waren damit jedoch verbunden: der Irrglaube, man müsse Diktaturen nur den Stecker ziehen, um eine demokratische Ordnung zu etablieren, und die Illusion, es gebe ein global konsensfähiges Fortschrittsideal. Beides ist historisch vielfach widerlegt und logisch nicht haltbar.

Das Ende einer Unrechtsordnung bedeutet nicht unbedingt den Anfang eines freien Zeitalters

Von der Entkolonisierung Afrikas ab den 1950er Jahren bis zum Sturz Saddam Husseins 2003 und Mubaraks 2011 ließe sich an vielen Beispielen durchdeklinieren, dass die Gründung von Parteien, die Abhaltung von Wahlen und die Etablierung demokratischer Strukturen weder Freiheit und Bürgerrechte noch Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit garantieren. Das Ende einer Unrechtsordnung bedeutet nicht unbedingt den Anfang eines freien Zeitalters, denn die Neigung des Menschen, jede neu gewonnene Freiheit sogleich zu missbrauchen, ist so stark wie die Schwerkraft – und ähnlich zu erklären. Darum folgt dem Ende der Diktatur oder Fremdherrschaft oft ein Aufblühen von Korruption und Bereicherung, Klientelismus und Tribalismus – und neuer Tyrannei.

Beim Zusammenbruch alter (gerechter wie ungerechter) Ordnungen tauchen stets die Starken, Schlauen und Schnellen auf, die ihr Stück vom Kuchen wollen. Und zwar ohne Rücksicht auf Verteilungsgerechtigkeit; eher nach dem Motto: ich, dann meine Familie, mein Stamm, meine Sippe, mein Dorf, meine Ethnie, meine Freunde. Unter die Räder geraten da die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Gerechtigkeit, die Bürgergesellschaft. Warum sollten die Starken Rücksicht auf die Schwächeren nehmen, die Schlauen auf die Naiven, die Schnellen auf die Trägen? All das lässt sich in vielen Staaten beobachten, auch in solchen, die politischen Pluralismus kennen, Wahlen veranstalten und sich Parlamente leisten.

In Syrien droht Chaos, dann Terrorregime

In Syrien droht jetzt, was der Irak nach dem Sturz Saddam Husseins durch US-Präsident George W. Bush 2003 durchlitt: zunächst Chaos, dann ein Terrorregime derer, die die Mehrheit haben oder beanspruchen. Wo nach ethnischen oder konfessionellen Kriterien gewählt wird, wird Demokratie zum Risiko, zur Unterdrückung der ethnischen oder konfessionellen Minderheiten durch eine Mehrheit. Schon formal braucht Demokratie, um zu funktionieren, zumindest die Möglichkeit, dass aus der Mehrheit einmal Minderheit werden kann – und umgekehrt. Das ist aber nur der Fall, wenn die Menschen nach Interessen oder Ideen abstimmen – nicht nach Ethnie oder Konfession. Mehr noch: Demokratie bringt nur dann Freiheit und Menschenrechte für alle, wenn es in der Breite der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Würde jedes Menschen und deshalb für Gemeinwohl gibt.

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Damit sind wir bei der zweiten Illusion, denn unabhängig von der Staatsform teilen viele Menschen auf der Welt unser Ideal einer demokratischen Bürgergesellschaft nicht. Rechtsstaatlichkeit ist global betrachtet ein Minderheitenprogramm. Freiheit und Menschenwürde sind christliche, doch keineswegs global konsensfähige Ideale. So realistisch sollten wir sein. Nicht nur, aber auch mit Blick auf das neue Syrien.

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