Sanktionsdruck – Syriens Aufbau ist nicht gewollt

Es scheint, als würden alle Syrer nur auf die nächste Gelegenheit warten, ihr Heimatland zu verlassen. Eine Analyse

Quelle
Syrien

28.06.2024

Peter Fuchs

Schon die umständliche Anreise zeigt, dass die westliche Staatengemeinschaft ihr Verhältnis zu Syrien nicht normalisiert. Während man aus Ländern des Nahen Ostens und dem sogenannten Globalen Süden wieder problemlos nach Damaskus fliegen kann, muss der Reisende aus Europa den Umweg über den Libanon nehmen. Sanktionen von USA (Caesar Act) und EU sind der Grund dafür. Nach dreistündiger Autofahrt durch das Libanongebirge, die Bekaa-Ebene und die Berge des Anti-Libanon erreicht man Damaskus, dessen historische Innenstadt vom Krieg weitgehend verschont blieb.

In weiten Teilen Syriens schweigen die Waffen seit Jahren. Damaskus, Aleppo, Homs und Latakia sind sichere Städte, zwischen denen man sich frei und unbekümmert bewegen kann. Die Militärpräsenz auf den Straßen ist stark reduziert. In der Innenstadt von Damaskus sind Hotels, Restaurants und Cafés geöffnet. Findige Syrer haben – meist mit finanzieller Unterstützung ihrer Verwandten im Ausland – in Solarpaneele und Batterien investiert, so dass die Städte trotz mangelhafter Stromversorgung nachts wieder heller wirken.

Die syrische Mittelschicht existiert nicht mehr

Doch das ist nicht die ganze Realität. Viele Hotels und Restaurants leben nur von Ausländern und syrischen Auswanderern, die zum Urlaub in ihre alte Heimat zurückkehren. Ein durchschnittlicher Syrer mit einem Monatsgehalt von umgerechnet 25 Euro kann sich einen Restaurantbesuch schon lange nicht mehr leisten. Die syrische Mittelschicht existiert nicht mehr. Das Elend der Menschen in Syrien ist sichtbar: Nach Schätzungen der UN werden 2024 mehr als 12,9 Millionen Menschen in Syrien Hunger leiden. Zwei Millionen Kinder haben keinen Zugang zu Bildung. Jedes dritte Schulkind ging zuletzt ohne Frühstück zur Schule. Mütter und Väter leiden aufgrund der aussichtslosen wirtschaftlichen Lage an Depressionen. Alte Menschen, deren Kinder in den vergangenen Jahren ausgewandert sind, warten elend und einsam auf den Tod.

Wer heute mit den Menschen in Syrien spricht, bemerkt schnell, dass nur noch sehr wenige Hoffnung auf eine gute Zukunft haben. Es scheint, als würden alle nur auf die nächste Gelegenheit warten, das Land zu verlassen: Junge und Alte, Christen und Muslime, Analphabeten und Akademiker. Wer will schon dürsten, weil die Infrastruktur zur Wasserversorgung regelmäßig durch türkisches Militär zerstört wird, wer will hungern, wer will ohne Strom leben, wer will betteln müssen, um ärztliche Betreuung oder lebenswichtige Medikamente zu erhalten? Wer will sich eingestehen müssen, seine Familie in Syrien nicht voranbringen zu können? Dazu kommen “Bilderbuch-Fotos”, gepostet von ausgewanderten Syrern, die das Leben im Westen in schönsten Farben zeigen.

Sogar Pfarrer verlassen ihre Gemeinden

Nach halboffiziellen Angaben kehren jeden Tag 500 Syrer ihrer Heimat den Rücken. Tatsächlich sind es wohl weit mehr, und die Folgen dieser Migrationswelle lasten schwer auf Syrien. Der anhaltende Braindrain bedroht die syrische Gesellschaft in ihrer Existenz. Wer kann das Land gestalten, wenn gut ausgebildete Fachkräfte auswandern? Jeder syrische Arzt, Ingenieur, Lehrer und Bauarbeiter, der seine Heimat verlässt, fehlt dort. Die wirtschaftliche Erholung Syriens wird durch die drakonischen Sanktionen von USA und EU verunmöglicht. Der Aufbau Syriens ist vom Westen politisch nicht gewollt.

Die christliche Minderheit, ein konstitutiver Teil der syrischen Gesellschaft, ist besonders stark von der Migrations-Dynamik betroffen. Nicht nur in der Gegend von Homs sind Gläubige derzeit stark verunsichert, weil in den vergangenen Wochen mehrere Pfarrer ihre Gemeinden gleichsam über Nacht in Richtung Westen verlassen haben. Amer Kassar, der Sekretär der katholischen Bischofskonferenz Syriens, erläuterte vor dem Stephanuskreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im vergangenen Herbst, dass aufgrund der Migration in 30 Jahren vielleicht kein Christ mehr in Syrien leben werde.

Mit Recht weist der katholische Arzt und Direktor der in Aleppo ansässigen Hilfsorganisation “Blaue Maristen”, Nabil Antaki, auf die Folgen eines möglichen Untergangs der syrischen Christenheit hin. Dieses Szenario wäre eine Katastrophe für die syrische Gesellschaft, denn Christen tragen schon immer zum kulturellen und wirtschaftlichen Reichtum Syriens bei.

Das Christentum ist sichtbar in der syrischen Gesellschaft

Ein Ende der christlichen Präsenz hätte auch Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten und auf Europa. Wie kann das Evangelium in die arabische Welt ausstrahlen, wenn die einheimischen Christen abgewandert sind, wenn die Muslime des Orients den Kontakt zu ihren christlichen Mitbürgern verlieren? Es ist im Interesse des Christentums und des Dialogs zwischen den Religionen, dass die Christenheit in ihrer Wiege dauerhaft überlebt.

In einer Kleinstadt im Zentrum Syriens begegnete der Autor im April zufällig einem jungen Muslim, der mit einigen Freunden Religionsunterricht nimmt, um Christ zu werden. Er sagte, dass ihm Christus im Traum erschienen sei und ihn aufgefordert habe, sich taufen zu lassen. Wäre dieser Glaubensweg in einem Syrien ohne einheimische Christen noch möglich?

Wie sichtbar das Christentum in der syrischen Gesellschaft ist, zeigte sich am 24. April in Damaskus bei einer Gedenkprozession für den von den Türken verübten Genozid an den Armeniern, den das syrische Parlament bereits 2020 anerkannt und verurteilt hat. Armenier blicken in Syrien auf eine lange Geschichte zurück. Viele kamen im Rahmen des Genozids von 1915 nach Syrien. Ein 1990 in Deir ez-Zor eingeweihtes Mahnmal wurde 2014 von Terroristen zerstört; Armenier waren während des Syrienkrieges immer wieder Ziele von Terroristen, die durch das NATO-Mitglied Türkei unterstützt wurden.

1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge im Libanon

Bei der Veranstaltung am 24. April zogen Hunderte Armenier, Vertreter staatlicher Autoritäten und Pfadfinder mit Musikinstrumenten von der armenisch-orthodoxen Kathedrale über die Gerade Straße zur armenisch-katholischen Kirche in Damaskus. Jeder Redner äußerte große Dankbarkeit gegenüber Syrien, das den Armeniern Schutz geboten hat.

Seit 2011 mussten Millionen Syrer selbst im benachbarten Ausland Schutz suchen. In der libanesischen Bekaa-Ebene sind die Baracken der Ärmsten aus Blech und Plastikplanen überall sichtbar. Beobachter gehen von 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen im politisch und wirtschaftlich instabilen Libanon aus, der selbst nur knapp 5,5 Millionen Einwohner zählt.

Um den Libanon zu stärken und die illegale Migration nach Europa einzudämmen, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem Libanon im Mai eine Milliarde Euro für den Zeitraum bis 2027 zugesagt. Hintergrund dieser Maßnahme ist der auf Zypern lastende Migrationsdruck, dessen Präsident Nikos Christodoulidis wiederholt klarstellte, dass sein Land dem Zustrom syrischer Migranten aus dem Libanon nicht gewachsen sei.
Im Anschluss an den Besuch von der Leyens äußerte sich der maronitische Patriarch, Kardinal Bechara Raï, am 12. Mai kritisch zur Haltung des Westens gegenüber dem Libanon. Für Raï scheint klar, dass große Teile Syriens sicher sind und eine Rückkehr dorthin möglich ist. Seiner Ansicht nach ist die starke Präsenz syrischer Flüchtlinge eine Bürde, die der Libanon aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Erwägungen nicht länger tragen kann.

Die Sanktionen sind illegal, ungerecht und wirkungslos

Vertreter von in Syrien tätigen Hilfsorganisationen betonten zudem, dass es darum gehen müsse, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Dementsprechend fordern die christliche Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI) und weitere Hilfswerke, die UN-Sonderberichterstatterin und der Heilige Stuhl seit Jahren die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Syrien, da diese eine wesentliche Fluchtursache darstellen.

Nabil Antaki, Direktor der Blauen Maristen, erklärt, dass die gegen Syrien gerichteten Sanktionen von USA und EU wirkungslos, ungerecht, und illegal seien. Wirkungslos, weil sie nicht zu einem Ende des eingefrorenen Konflikts beitragen; ungerecht, weil sie die Zivilgesellschaft treffen; illegal, weil sie ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats eingerichtet wurden und den Bürgern Syriens insbesondere die Menschenrechte auf Leben, soziale Sicherheit und Wohlfahrt nehmen.

Die Erholung der verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Lage in Syrien seitens der Europäischen Union durch Sanktionen aktiv zu behindern und gleichzeitig mit stolzgeschwellter Brust eine Verstärkung humanitärer Hilfe zu verkünden, die nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, ist ein die westliche Öffentlichkeit irreführendes, zynisches Spiel.

Deutsche Diplomaten weisen hinter vorgehaltener Hand darauf hin, dass die Sanktionen gegen das von Bashar al-Assad regierte Land nicht nur den angestrebten Regime-Change verfehlten, sondern auch dazu beitragen, dass die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Syriens von Staaten wie Russland, dem Iran oder China zunimmt. Ein Effekt, der den geopolitischen Zielen der EU nicht entsprechen dürfte.

Im Kontext der hierzulande geführten Diskussion über Einwanderung aus muslimischen Kulturräumen sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der auf Syrien lastende Sanktionsdruck unmittelbare Auswirkungen auf Europa hat. Die Sanktionen werden 2024 weitere Zehntausende Syrer zur Flucht nach Deutschland oder Österreich veranlassen, noch mehr Tote im Mittelmeer fordern und die Hilfsbereitschaft der Menschen in Europa überfordern.

Der Autor ist katholischer Pfarrer und Geschäftsführer von CSI-Deutschland

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